Grenzen in Zeiten von Covid-19

Ein Essay von Ayelet Shachar, Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften

Die Covid-19-Pandemie hat uns die Bedeutung von Grenzen vor Augen geführt. Während die Debatten um Donald Trumps Wahlversprechen, eine „undurchdringliche, physische, hohe, mächtige und schöne südliche Grenzmauer“ zu errichten, viel Aufmerksamkeit geweckt haben, [1] zeigt die aktuelle Krise, dass Regierungen, die versuchen, die Mobilität einzuschränken, nur teilweise (und immer seltener) zu Ziegel und Mörtel greifen. Stattdessen besteht eine der bemerkenswertesten Entwicklungen der letzten Jahre darin, dass die Grenze selbst zu einer beweglichen Barriere geworden ist, zu einem nicht verankerten rechtlichen Konstrukt.

Die festen schwarzen Grenzlinien in den Weltkarten stimmen nicht immer mit deren abgrenzender Funktion überein, die potenziell überall auf der Welt erfüllt werden kann. Die Grenze hat sich von der Landkarte gelöst; sie kann weit über den Rand eines Staatsgebiets hinausgehen oder weit in dessen Inneres reichen. Die Entkoppelung der Staatsgewalt von jeder festen geographischen Markierung hat ein neues Paradigma geschaffen: die sich verschiebende Grenze. [2]

Bei der Regulierung von Mobilität und der Zutrittskontrolle verschiebt sich der Standort der Grenze schon seit Jahrzehnten. In offiziellen Dokumenten der kanadischen Regierung heißt es, dies sei Teil einer Strategie, die darauf abziele, die Grenze so weit wie möglich von der eigentlichen Territorialgrenze „wegzuschieben“. [3] Dieses Konzept, das von den Regierungen weltweit begeistert aufgenommen wurde, beinhaltet die Überprüfung von Menschen „in ihrem Herkunftsland“ oder am Ausgangspunkt ihrer Reise – nicht am Zielpunkt – und dann wiederum an jedem möglichen Kontrollpunkt unterwegs. Die traditionelle statische Grenze wird somit als letzter und nicht als erster Begegnungspunkt neu konzipiert. Die Reaktionen auf die globale Pandemie haben diesen Trend weiter beschleunigt.

Grenze dicht machen aus der Distanz

Als es im Januar 2020 in Wuhan, China, zu einer Anhäufung mysteriöser Fälle von viraler Lungenentzündung kam, verschwendeten die asiatischen Nachbarländer – vor allem Hongkong, Taiwan und Südkorea, die bereits die Hauptlast der SARS- und MERS-Ausbrüche zu tragen hatten – keine Zeit. Die Länder trafen rasch Vorkehrungen im öffentlichen Gesundheitswesen mit umfangreichen Tests, der Isolierung von Patienten und Quarantänen. Aber sie ergriffen auch schnell weitere Maßnahmen: Reiseverbote, die den Zutritt zu ihren Staatsgebieten einschränkten. Beamte dieser Länder gingen an Bord von Flugzeugen, die aus Wuhan kamen, um die Passagiere zu kontrollieren, und sie verweigerten Passagieren mit Symptomen die Einreise.

Trotz dieser Bemühungen hat sich das Virus bis März 2020 über den gesamten Globus verbreitet. In Kanada hat die Regierung den Grundgedanken und die Folgen der Maßnahmen, wie sie in Ostasien ergriffen wurden, noch erweitert. Am 16. März 2020 kündigte sie an, nicht nur den Grenzübertritt vorübergehend auf kanadische Staatsangehörige und Menschen mit ständigem Wohnsitz in Kanada zu beschränken, sondern auch allen Menschen – einschließlich der eigenen Staatsangehörigen – die COVID-19-Symptome aufweisen, das Betreten eines Flugzeugs nach Kanada zu verbieten. [4] Mit diesem Schritt dehnt Kanada seine Grenze sowohl konzeptionell als auch rechtlich nach außen aus. Dabei perfektioniert das Land auch seine Technik, Verbote ins Ausland zu verlagern, indem es einen Großteil seiner Grenzkontrollen an Gateways in Übersee, vor allem in Europa und Asien, vornimmt. Die Einreise nach Kanada wird letztendlich an ausländischen Transitknotenpunkten reguliert, die dutzende, hunderte oder sogar tausende von Kilometern entfernt sein können.

Auch die Vereinigten Staaten haben während dieser Krise den langen Arm des Staates immer flexibler nach außen verlängert, um die Mobilität auf Distanz zu regulieren. Am Offensichtlichsten geschah dies am 11. März 2020 mit der dramatischen Ankündigung des Oval Office, Reisen aus 26 europäischen Ländern in die Vereinigten Staaten für dreißig Tage auszusetzen (ähnliche Beschränkungen wurden später auf Großbritannien und Irland ausgedehnt). [5]

Ein Trend seit den Anschlägen vom 11. September

Diese Maßnahmen sind weitreichend und beispiellos, aber sie setzen einen Trend fort, der sich in den zwei Jahrzehnten nach dem 11. September 2001 entwickelt hat. Selbst in nicht pandemischen Zeiten treffen Reisende, die für einen Flug in die USA einchecken wollen, regelmäßig auf die Grenze und auf autorisierte Grenzwächter der Vereinigten Staaten (US-Beamte auf fremdem Boden) – und das weit weg von den Küsten- und Landesgrenzen der USA an so unterschiedlichen Orten wie Freeport und Nassau auf den Bahamas, Dublin und Shannon in Irland und Abu Dhabi in den Vereinigten Arabischen Emiraten.

An jedem beliebigen Tag sind mehr als sechshundert Bedienstete der US-Zoll- und Grenzschutzbehörden sowie Landwirtschaftsfachleute auf Flughäfen in aller Welt im Einsatz und fertigen Millionen von Passagieren ab, bevor diese in die Vereinigten Staaten abfliegen. Auffällig ist, dass solche Entscheidungen die volle Autorität des US-Rechts besitzen, so als würden sie „an der Grenze“ gefällt, obwohl sie in großer Entfernung getroffen werden. [6] Diese Politik wird in Dokumenten der US-Regierung so erklärt: Es sei besser, „Bedrohungen zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu identifizieren und zu bekämpfen.“ [7] Die Kontrolle des Personenverkehrs beginnt „anderswo“ und nicht an der eigentlichen Grenze.

In den letzten Jahren haben die Vereinigten Staaten intensive Verhandlungen aufgenommen, um die Vorabfertigungskapazitäten an Flughäfen in Übersee weiter zu steigern. Die Absicht dahinter ist, „jede Gelegenheit zu nutzen, um unsere [Einsätze] aus dem Bereich unserer Grenzen hinaus zu verlegen, damit wir die Heimat nicht aus dem Strafraum heraus verteidigen.“ [8]

Solche Maßnahmen könnten sich durchaus als der Weg der Zukunft erweisen; sie sind wohl der Traum eines jeden Regulierers, um unerwünschtes Einreisen zu verhindern. Wie die Internationale Organisation für Migration (IOM) feststellt, „halten alle Staaten, die dazu in der Lage sind, das Abfangen von Migranten vor Erreichen ihres Staatsgebiets für eine der wirksamsten Maßnahmen zur Durchsetzung ihrer Einwanderungsgesetze und -richtlinien.“ [9] Wenn es darum geht, die Grenzen als Reaktion auf das Coronavirus zu verstärken, wenden die Länder eine Vielzahl juristischer Strategien an, darunter auch die Einleitung von Notfallmaßnahmen, die normalerweise für Kriegszeiten gedacht sind.

Abschottung per Federstrich

Solche durchgreifenden Maßnahmen können heute als zwingende Notwendigkeit zur Bekämpfung einer globalen Pandemie gerechtfertigt sein. Sie zeigen aber auch tieferliegende Muster auf: Die Annahme, dass die Souveränität der Länder schwindet, wird dadurch erschüttert und auf die Probe gestellt und gleichzeitig zeigen sie dem populistischen Drang zur Befestigung der Grenzen wiederum Grenzen auf. Im Gegensatz zum Narrativ der Grenzmauern brauchte Präsident Trump keinen einzigen Sack Zement, um die Vereinigten Staaten gegen Reisende aus der Europäischen Union abzuschotten. Stattdessen genügte ein Federstrich, um festzulegen, wer einreisen darf (in erster Linie amerikanische Staatsangehörige und Menschen mit ständigem Wohnsitz in den USA) und wer abgewiesen wird (alle anderen außer Diplomaten und Ausländer, die in die Vereinigten Staaten eingeladen sind, um bei der Bekämpfung des Virus zu helfen). Diese Maßnahmen können noch lange nach der Krise nachwirken.

Die sich verschiebende Grenze erweitert nicht nur die Reichweite der Hoheitsbefugnisse, was den Grenzverkehr weit über die tatsächlichen Territorialgrenzen des Landes hinaus reguliert. Sie wirkt sich auch nach Innen aus. Als Teil einer großen Reform der US-Einwanderungspolitik ist in den 1990er Jahren ein Verfahren namens „beschleunigte Abschiebung“ in das Gesetz eingeführt worden. Diese Rechtsvorschrift erlaubt den Grenz- und Zollbeamten sowohl die zügige Rückführung von Migrantinnen und Migranten ohne Ausweispapiere an der Grenze als auch die Überprüfung des Aufenthaltsstatus von Menschen, die in den USA bis zu hundert Meilen von einer Landes- oder Küstengrenze entfernt aufgegriffen werden, wodurch die Grenze tatsächlich in das Innere des Territoriums „verschoben“ wird.

Durch diesen juristischen Lokus-Hokus-Pokus wird nicht nur die Grenze verlagert, sondern auch eine sogenannte „Constitution Lite“-Zone innerhalb der Vereinigten Staaten geschaffen, die es den Strafverfolgungsbehörden erlaubt, Kontrollpunkte auf Autobahnen, an Fährterminals oder in Zügen einzurichten, bei denen die kontrollierten Menschen ihren Aufenthaltsstatus nachweisen müssen. Eine solche staatliche Überwachung der Bewegungsfreiheit und der Mobilität der Bürgerinnen und Bürger – traditionell beschränkt auf Kontrollpunkte an der eigentlichen Grenze – sickert nun ins Landesinnere durch. Nicht weniger als zwei Drittel der Bevölkerung der Vereinigten Staaten – mehr als 200 Millionen Menschen – leben in dieser 100 Meilen tiefen „Constitution-Lite“-Zone. Der Großteil der Bevölkerung des Bundesstaates New York beispielsweise lebt nicht weiter als 100 Meilen von den Landes- und Küstengrenzen der Vereinigten Staaten entfernt, dies gilt ebenso für Florida, einem weiteren Knotenpunkt für Mobilität und Migration. [10]

Regierungsbeamte haben schon seit langem erklärt, dass solche Maßnahmen zur Durchsetzung der Binnengrenzen durchaus „landesweit“ ausgedehnt werden könnten. Bis vor kurzem schien eine solche Aussicht in den Bereich der dystopischen Science-Fiction zu gehören. Jetzt nicht mehr. Im Juli 2019, Monate vor dem Ausbruch des Coronavirus, erließ die Trump-Administration eine neue Rechtsvorschrift, die eine solch massive, landesweite Ausdehnung erlaubte und das „Innere“ in eine Verlängerung des „Äußeren“ verwandelte – eine sich verschiebende Grenze, die gleichzeitig überall und nirgends ist.

Technologie-Falle

Mit der Ausbreitung von Covid-19 wenden sich immer mehr Länder auch den elektronischen Möglichkeiten zu, um die Bewegungsfreiheit ihrer eigenen Bevölkerung zu regulieren, indem sie Überwachungsinstrumente einsetzen, die normalerweise ausschließlich zur Bekämpfung von Terrorismus und Spionage vorgesehen sind. In Israel kündigte Premierminister Benjamin Netanjahu am 14. März 2020 an, man werde „alle Mittel“ einsetzen, um die Verbreitung des neuen Virus zu bekämpfen, „einschließlich technologischer, digitaler und anderer Instrumente, von deren Einsatz in der Zivilbevölkerung ich bis heute abgesehen habe.“ [11] Die Regierung hat unter Umgehung der parlamentarischen Zustimmung und Kontrolle Notfallverordnungen erlassen, welche die Sicherheitsdienste des Landes bevollmächtigen, die Bewegungen von Personen zu verfolgen, die positiv auf das Virus getestet wurden, und ihre Mobiltelefone zu orten. Solche Informationen ermöglichen den Aufbau von Datenbanken über den Aufenthaltsort, die Kontakte und die sozialen Interaktionen von Einzelpersonen. Diese Maßnahmen greifen nicht nur tief in die Privatsphäre ein, sie können auch ohne die Zustimmung der Betroffenen aktiviert werden, was die Befürchtung nährt, dass die derzeitige Krise von den Staats- und Regierungschefs dazu genutzt wird, umstrittene politische Veränderungen zu erzwingen. Die Pandemie dient dabei als Rechtfertigung für ein solches Vorgehen.

Diese Machenschaft im Stile eines Orwellschen „Großen Bruders“ wurde zwar durch eine einstweilige Verfügung des obersten israelischen Gerichtshofs vorübergehend gestoppt. Aber die Sorge besteht nach wie vor, dass die Exekutive nach der Macht greift, insbesondere angesichts der Tatsache, dass das Justizsystem durch neue Notverordnungen seine Arbeit größtenteils eingestellt hat. In den Vereinigten Staaten hat das Justizministerium den Kongress gebeten, dem Generalstaatsanwalt die Befugnis zu erteilen, die obersten Richter des Landes zu ermächtigen, Gerichtsverfahren zu unterbrechen und Personen ohne Gerichtsverfahren auf unbestimmte Zeit in Haft zu nehmen. [12] Dies sind außerordentliche Maßnahmen, die vom Kongress genehmigt werden müssen. Aber allein die Tatsache, dass sie vorgeschlagen wurden, zeigt, wie bedrohlich für das Wohlergehen einer Demokratie die Kombination sein kann aus einem tödlichen Virus und der Ausrufung eines nationalen Notstands (wie es in den Vereinigten Staaten am 13. März 2020 geschah).

In diesem neuen Kampf gegen ein unsichtbares Virus steht jeder, der sich infizieren könnte (nämlich wir alle) vor dem Paradox, dass wir uns stärker auf die Regierung als Regulierungsbehörde und Anbieter wesentlicher Dienstleistungen verlassen müssen, während wir gleichzeitig die Auswirkungen von Notstandsbefugnissen und übergriffigen Bestimmungen zur Mobilitätsüberwachung fürchten müssen. Im Hinblick auf Letztere ist es lehrreich, die Maßnahmen in den Blick zu nehmen, die bisher im Zeitalter der Grenzverschiebungen für Nicht-Staatsbürger eingeführt wurden.

Virtuelle Polizei in der Europäischen Union

Sehen wir uns ein Pilotprojekt an, das zum Schutz der Grenzen Europas beitragen soll und von der Europäischen Union finanziert wird. Offiziell ist es als iBorderCtrl bekannt, Kritiker nennen es „virtueller Polizist“. Dieses Mobilitätskontrollsystem wurde entwickelt, um ankommende Reisende vorab zu überprüfen, die „ein kurzes, automatisiertes, nicht invasives Gespräch mit einem Avatar führen [und] sich einem Lügendetektortest unterziehen“ müssen. [13] Die Ergebnisse werden dann mit allen bereits vorhandenen Behördendaten verknüpft und in großen Datenbanken gespeichert. Diese ist mit „tragbaren, drahtlos verbundenen iBorderCtrl-Einheiten verbunden, die in Bussen, Zügen oder an jedem anderen Punkt eingesetzt werden können, um die Identität aller Reisenden zu überprüfen ... [und] einen kumulativen Risikofaktor für jede und jeden einzelnen zu berechnen.“ Der errechnete Risikofaktor erscheint bei jedem künftigen Grenzübertritt und kann zu einem Einreiseverbot oder zu weiteren Kontrollen führen. Wie die Entwickler des Systems erklärt haben, sei der iBorderCtrl-Avatar geeignet, um „Informationen aus Menschen herauszuholen“ und Irreführung zu erkennen. [14]

Auch wenn es sich immer noch um ein willkürliches Screening-Tool handelt, wird iBorderCtrl, falls es als erfolgreich angesehen wird, eingeführt, um Personen ohne europäischen Pass vor Beginn ihrer Reise und während ihres gesamten Aufenthalts in den Ländern der Europäischen Union zu überwachen. Einmal eingerichtet, könnten solche ausgeklügelten Überwachungstechniken bald „übergreifen“, um auch die Mobilität der Bürgerinnen und Bürger zu regulieren, insbesondere in Krisenzeiten. Die einst feste Territorialgrenze wird also nicht nur nach innen und außen verschoben, sondern auch vervielfacht und gebrochen. Jede Person „trägt“ die Grenze in sich, wenn sie sich durchs Land bewegt.

Regierungsbeamte sehen eine Zukunft voraus, in der ankommende und abfliegende Passagiere keine Reisedokumente mehr benötigen. Stattdessen wird unser Körper zu unserer Eintrittskarte (oder im Gegenteil: man erkennt daran, dass ein Einreiseverbot besteht), wenn die biometrischen Grenzen ihre Reichweite ausdehnen. Länder wie China, Australien, Japan, die USA und die Vereinigten Arabischen Emirate zeigen, in welche Richtung es geht. Der Dubai International Airport beispielsweise hat in seinem Terminal 3 einen Pilotversuch für neue „biometrische Grenzen“ – bekannt als „intelligenter Tunnel“ – gestartet und plant, die neue Technologie im Laufe dieses Jahres in den übrigen Terminals zu implementieren. Beim Durchqueren des intelligenten Tunnels identifiziert er die Passagiere durch eine Kombination von Scans der Iris und des Gesichts, was heißt, dass keine menschliche Interaktion erforderlich ist. Die Informationen werden dann mit den digitalen Profilen der Passagiere abgeglichen.

In den Vereinigten Arabischen Emiraten muss jeder rechtmäßige Einwohner und jede Einwohnerin, auch diejenigen, die ein Arbeitsvisum haben, einen biometrischen Ausweis (bekannt als Emirates ID) mit sich führen, der als „persönliche Datenbank jedes Einwohners“ dient. Diese allumfassende Datenbank kann jederzeit von Regierungsbeamten überprüft und verifiziert werden. Maßnahmen der Migrations- und Bevölkerungskontrolle werden so mit neuen, leistungsfähigen Überwachungstechnologien verknüpft.

Die Grenze ist tot, lang lebe die Grenze

Seuchen haben im Laufe der Geschichte außergewöhnliche Verwüstungen in den von ihnen heimgesuchten Gesellschaften angerichtet. Die COVID-19-Pandemie hat unsere üblichen Erwartungen an ein gewisses Maß an Vorhersehbarkeit und Spielräumen erschüttert. Während Megastädte zu Geisterstädten werden und einstmals geschäftige Flughäfen zum Stillstand kommen, hat das Virus das erstaunliche neue Phänomen einer globalisierten Welt mit verbarrikadierten Nationen zum Vorschein gebracht, die unter dem allgegenwärtigen Blick „über alles wachender“ Augen stehen.

Wir können zwar nicht aus dem Kaffeesatz die Zukunft lesen, aber wir können aus der jüngsten Vergangenheit überraschende Lehren ziehen, die zeigen, dass die Grenze nicht verschwindet, sondern sich vielmehr verwandelt. Die sich verschiebende Grenze weist in viele Richtungen und ist gleichzeitig nicht greifbar, und zwar nicht in der transnationalen, offenen und toleranten Variante, wie sie die Theorien vom Ende der Nationalstaaten vorsahen. Stattdessen hat sich eine andere Ausrichtung herauskristallisiert. Weit entfernt von dem Traum einer grenzenlosen Welt, der nach dem Fall der Berliner Mauer entstand, sehen wir uns heute nicht nur immer mehr Grenzmauern gegenüber, sondern wir erkennen auch eine rasche Ausbreitung „beweglicher“ juristischer Barrieren, die überall auftauchen können, aber selektiv und ungleichmäßig angewendet werden, in unterschiedlichem Grad, wechselnder Intensität und schwankender Häufigkeit der Regulierung.

Anstatt zu verschwinden, haben die Staaten eine ganz neue rechtliche Kartographie der Kontrolle über Grenzen und Bewegungen geschaffen. Die Grenze ist nicht länger eine statische und unbewegliche Barriere, sondern ein mobiles, bewegliches, ausgeklügeltes und sich ständig wandelndes rechtliches Konstrukt – eine sich verschiebende Grenze, die an unzähligen Orten gesetzt und neu gesetzt werden kann, mit dramatischen Auswirkungen auf die Rechte und den Schutz derjenigen, die in ihren Zuständigkeitsbereich fallen.

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Pandemien nehmen wenig Rücksicht auf die Linien, die wir in unseren Atlanten ziehen. Während außerordentliche Maßnahmen wie die Einschränkung der Mobilität, die Vermeidung sozialer Kontakte und sogar präventive Quarantäne das notwendige Gebot der Stunde zu sein scheinen, müssen wir, wenn der Tag kommt, an dem wir dieses tödliche Virus besiegt haben, die drakonischen Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen, die dieses Virus unverzüglich entfesselt hat, aktiv wieder rückgängig machen. Nicht minder wichtig ist die Aufgabe, die nationale Souveränität und die internationale Zusammenarbeit neu festzulegen – in einer Welt, in der Grenzen ebenso wie Menschen die Fähigkeit haben, sich zu bewegen.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich online und exklusiv in Ethics & International Affairs, der vierteljährlich erscheinenden, Peer-Review-Zeitschrift des Carnegie Council, herausgegeben von Cambridge University Press. Die neueste Ausgabe der Zeitschrift können Sie hier abrufen.

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