Souveräner Steuermann der Wissenschaft

Reimar Lüst, ehemaliger Präsident der Max-Planck-Gesellschaft und Wegbereiter der europäischen Weltraumforschung, ist tot

Er war der jüngste Präsident in der Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft. Er kam in einer Zeit der gesellschaftlichen und politischen Umbrüche. Doch Reimar Lüst gelang es, die Herausforderungen nachhaltig zu meistern. Viele der Strukturen und Instrumente, die er in seiner Amtszeit von 1972 bis 1984 einführte, prägen die Max-Planck-Gesellschaft bis heute. Darüber hinaus war Lüst über lange Jahre einer der vielseitigsten Lenker der deutschen und europäischen Wissenschaftspolitik. Am 31. März 2020 starb er im Alter von 97 Jahren. Ein herausragender Wissenschaftler und begnadeter Wissenschaftsorganisator, ohne den die moderne Max-Planck-Gesellschaft nicht denkbar wäre, würdigt der heutige Max-Planck-Präsident, Martin Stratmann, Lüsts Wirken.

Das Amt des Max-Planck-Präsidenten sei das schönste Amt, das unser Land im Wissenschaftsbereich zu vergeben hat, wird Reimar Lüst immer wieder zitiert. Dabei waren die goldenen Zeiten des Wachstums für die Max-Planck-Gesellschaft erst einmal vorbei, als Lüst 1972 das Amt antrat. Die größte Herausforderung war, die Zukunftsfähigkeit der Max-Planck-Gesellschaft trotz des real stagnierenden Budgets auszubauen.

Lüst musste in seiner Amtszeit nach eigenen Angaben 20 selbständige Abteilungen, Forschungsstellen und Institute schließen – ein langwieriger Prozess, der erst nach geraumer Zeit neue Freiräume eröffnete. Langfristig konnte er auf diese Weise 12 neue Institute etablieren: beispielsweise in der Meteorologie, der Neurologie oder der Gesellschaftsforschung, mehrere weitere wurden umgewidmet oder zusammengeführt. Zudem führte er zeitlich begrenzte Projektgruppen ein, zum Teil als Vorstufe späterer Max-Planck-Institute.

Wo sich innovative Themen nicht aus eigener Kraft fördern ließen, beteiligte sich die Max-Planck-Gesellschaft unter Lüsts Ägide vermehrt an nationalen und vor allem internationalen Großforschungseinrichtungen und Projekten wie dem Berliner Elektronenspeicherring für Synchrotronstrahlung (BESSY), dem deutsch-französischen Institut für Radioastronomie im Millimeterbereich (IRAM) oder dem Joint European Torus (JET) in Großbritannien. Insgesamt baute Reimar Lüst die Auslandsaktivitäten der Max-Planck-Gesellschaft deutlich aus. Die wohl nachhaltigste Entscheidung war sein Brückenschlag nach China: Die Kontakte, die er bereits 1974 zwischen der Max-Planck-Gesellschaft und der Chinesischen Akademie der Wissenschaft knüpfte, legten die Basis für die bis heute fruchtbare wissenschaftliche Zusammenarbeit.

Auch innerhalb der Max-Planck-Gesellschaft etablierte Reimar Lüst dauerhaft tragfähige Strukturen. Während die Universitäten in Folge der Umwälzungen nach 1968 in große Turbulenzen gerieten, gelang es Lüst in relativ kurzer Zeit, die Max-Planck-Gesellschaft – teils auch gegen Widerstand in den eigenen Reihen – zu demokratisieren und zugleich das Harnack-Prinzip zu bewahren. Die von ihm initiierte Satzungsreform prägt bis heute die Max-Planck-Gesellschaft. So sind die wissenschaftlichen Mitarbeiter seither durch gewählte Repräsentanten in wichtigen Gremien der Max-Planck-Gesellschaft vertreten. Lüst führte kollegiale Leitungen an den Instituten ein, gleichzeitig wurde die Leitungsfunktion der Direktoren auf sieben Jahre begrenzt; über die Verlängerung entscheidet der Verwaltungsrat. Außerdem legte er die Grundlagen für das System der Fachbeiräte, also für eine Evaluation der Institute durch externe Experten.

Gegenüber der Politik verteidigte Lüst vehement die elitäre Grundhaltung der Max-Planck-Gesellschaft ebenso wie die Selbstverwaltung der Wissenschaft. Das Motto, nach dem der ehemalige Seeoffizier Lüst handelte, war laut Eckhard Henning, dem früheren Direktor des Max-Planck-Archivs: „Kurs halten, wenn nötig, Flagge zeigen und notfalls einen Schuss vor den Bug.“

Für Reimar Lüst war die Zeit bei der Kriegsmarine tatsächlich prägend. Mit 17 Jahren hatte er sich dort zum Dienst verpflichtet. Im März 1943 kam er als Ingenieur-Offizier auf ein U-Boot, das wenige Wochen später unter schweren Beschuss geriet. Um zu entkommen, tauchte das Boot mehr als 200 Meter tief – wesentlich weiter als eigentlich vorgesehen. Dass es von dort noch einmal an die Oberfläche kam, grenzt an ein Wunder. Der größte Teil der Mannschaft wurde von der britischen Marine gerettet. Den 11. Mai 1943, den Tag der dramatischen Geschehnisse, bezeichnete Lüst seither als seinen „zweiten Geburtstag“. Möglicherweise waren seine Hartnäckigkeit, aber auch seine Gelassenheit und sein Optimismus, mit denen er immer wieder Herausforderungen meisterte, auf diese Erfahrung zurückzuführen.

In amerikanischer Kriegsgefangenschaft begann Lüst an einer Lageruniversität Physik und Mathematik zu studieren. Zurück in Deutschland schloss er das Studium 1949 ab und bewarb sich für die Doktorarbeit bei Carl Friedrich von Weizsäcker – mit Erfolg. Dort fand Lüst zu seinem späteren wissenschaftlichen Schwerpunkt, der Astrophysik. Bereits 1951 schloss er die Promotion ab. Nach Forschungsaufenthalten in den USA habilitierte er sich 1960 an der Universität München.

Im gleichen Jahr berief ihn die Max-Planck-Gesellschaft als Wissenschaftliches Mitglied ans damalige Max-Planck-Institut für Physik und Astrophysik in München. Schnell machte er sich wissenschaftlich einen Namen. So gelang es ihm beispielsweise, mithilfe künstlicher Kometen aus Bariumatomen den Sonnenwind zu messen. Aus diesem Forschungszweig erwuchs kurz darauf das Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik mit Lüst als Gründungsdirektor. Lüst engagierte sich weit über das Institut hinaus für die wissenschaftlichen Belange der Raumfahrt. So wurde er bereits in den Anfangsjahren der neu gegründeten European Space Research Organisation zum wissenschaftlichen Direktor ernannt, später zu deren Vizepräsident. Ab Ende der 1960er Jahre sammelte Lüst zudem als Vorsitzender des deutschen Wissenschaftsrats Erfahrungen in Wissenschaftsmanagement und -politik. Diese konnte er in seiner Zeit als Max-Planck-Präsident gewinnbringend einsetzen und erweitern.

Nach zwei Amtszeiten bei der Max-Planck-Gesellschaft blieb Lüst in der Wissenschaftspolitik. Als Generaldirektor der europäischen Weltraumorganisation ESA etablierte er die damals noch junge Organisation als international anerkannten Partner in der Raumfahrt. 1989 wurde Lüst Präsident der Alexander von Humboldt-Stiftung und erschloss in den darauffolgenden 10 Jahren neue Einsatzregionen in Afrika, Osteuropa und den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion. An Ruhestand dachte der inzwischen 76-jährige auch danach nicht. So brachte er bei der Gründung der International University Bremen, heute Jacobs University, als Chairman oft the Board of Governors seine Erfahrungen und Kontakte ein.

In den vergangenen Jahren war Lüst weiterhin außerordentlich aktiv. So arbeitete er mit über 90 noch regelmäßig in seinem Büro am MPI für Meteorologie, besuchte Veranstaltungen und hielt Vorträge. Ebenso nahm er weiterhin an den Senats- und Sektionssitzungen der Max-Planck-Gesellschaft teil und brachte seine Erfahrungen ein.

Biografische Hinweise

Geboren wurde Reimar Lüst am 25. März 1923 in Wuppertal-Barmen. Nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft konnte er 1949 das Studium der Physik an der Universität Frankfurt am Main abschließen. 1951 wurde er an der Universität Göttingen promoviert, es folgten Forschungsaufenthalte an den Universitäten in Chicago und Princeton. 1960 wurde Lüst im Fach Physik an der Universität München habilitiert und im gleichen Jahr zum Wissenschaftlichen Mitglied des MPI für Physik und Astrophysik in München berufen. 1963 folgte der Ruf zum Direktor des neu gegründeten MPI für extraterrestrische Physik in Garching bei München. Für sein Wirken wurde Reimar Lüst vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem großen Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband der Bundesrepublik Deutschland, mit dem Titel des „Offiziers der Ehrenlegion“ von Frankreich, zahlreichen Ehrendoktorwürden und Ehrenprofessuren und mit der Benennung eines Asteroiden nach seinem Namen.

Reimar Lüst war in zweiter Ehe mit Nina Grunenberg-Lüst verheiratet, die 2017 starb. Aus seiner ersten Ehe mit Rhea Lüst hat er zwei Söhne.

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