Eine Inventur des fossilen Zeitalters

Der Klimawandel erfordert, dass wir uns von Erdöl und Kohle verabschieden. Doch unsere Gesellschaft, speziell unser Ideal von Freiheit und Wohlstand, ist in ungeahntem Maße von den fossilen Rohstoffen geprägt. Wie stark diese Abhängigkeit ist und welche Wege es gibt, davon loszukommen, untersuchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin.

Text: Jeannette Goddar

Es gibt Tage in Deutschland, da läuft die Energiewende auf allen Kanälen. Zum Beispiel, wenn, wie an diesem Tag im Januar, die Bundeskanzlerin am Mittag mit den Spitzen der Autobranche über die Zeit nach dem Verbrennungsmotor berät und am Abend mit den Ministerpräsidenten der vier Kohle-Länder im Kanzleramt zum Kohlegipfel zusammensitzt. Beides Treffen, die deutlich machen: Es geht um viel mehr als Öl und Kohle und Milliarden Euro. Nämlich um Zigtausende Arbeitsplätze, Strukturpolitik, das ohnehin sensible Verhältnis zwischen Ost- und West und um tief verankerte Traditionen.

Fragt man Benjamin Steininger, bestimmen fossile Rohstoffe unsere Welt noch mehr, als es an einem solchen Tag erscheint: „Wir leben in Städten, die nur motorisiert zu erreichen sind, tragen Goretex und Nylon, ernähren uns mithilfe von Kunstdünger, sind auf Medikamente angewiesen – alles Dinge, die auf Erdöl, Gas und Steinkohle basieren. Konkret wie abstrakt ist unser Lebensstil auf eine Weise von fossilen Rohstoffen geprägt, die wir noch kaum durchdrungen haben.“

Sogar eine politisch-gesellschaftliche Errungenschaft wie die Abschaffung der Arbeit von Kindern und rechtlosen Menschen, ergänzt Steininger, sei erst möglich geworden, als und weil „fossile Sklaven“ in Form von Maschinen ihre Arbeit übernahmen. Auch für die Moderne grundlegende Konzepte wie die Freiheit des Einzelnen, Wohlstand und Fortschritt haben sich gemeinsam mit dem technischen System der Nutzung fossiler Energieträger entwickelt.

Nun ist das kein Appell, an der massenhaften Verbrennung klimaschädlicher Rohstoffe festzuhalten. Sondern einer, zu erkennen, dass es mit dem Umstieg auf den Elektromotor und dem Abschied von Plastiktüten nicht getan sein wird. Steininger fordert – und fördert – eine Befassung mit all dem immateriellen Erbe der fossilen Moderne, das bisher kaum im Fokus ist: „Seit zwei Jahrhunderten verschieben fossile Rohstoffe die Grenzen des technologisch Mach- und Erreichbaren, und damit unser Verständnis von Wachstum, von Freiheit, unser Begehren. Ein Haus, in dem man sich 200 Jahre eingerichtet hat, kann man nicht einfach so verlassen. Es braucht eine Inventur.“

Mit einer solchen Inventur ist am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte eine kleinere Gruppe innerhalb einer größeren befasst. Zu der kleineren gehört außer dem Medien- und Kulturtheoretiker Benjamin Steininger die Ethnologin Gretchen Bakke und der Historiker Helge Wendt. Die größere heißt „Wissen im und über das Anthropozän“ und nimmt den von Menschen geprägten erdgeschichtlichen Abschnitt in einem breiten Bogen in den Blick. Dabei kooperiert sie mit dem Haus der Kulturen der Welt in Berlin, das seit 2012 mit Veranstaltungsreihen, Publikationen und Ausstellungen an Darstellung und Aufarbeitung all der Prozesse arbeitet, mit denen Menschen den Planeten machtvoll verändern. Das Max-Planck-Institut lädt dazu Wissenschaftler ein, arbeitet an einem Anthropozän-Curriculum und an einer „transdisziplinären Wissens- und Bildungskultur“ mit und war zuletzt 2019 – auch mit Benjamin Steininger – an einem mehrmonatigen Veranstaltungs- und Forschungsprojekt am Mississippi beteiligt.

Historiker Helge Wendt hat sich jenen Rohstoff ausgesucht, der in Deutschland nach wie vor höchst präsent ist: die Kohle. Weltweit nimmt Wendt einen Prozess in den Blick, der ebenfalls eine Energiewende war – jene von Wind, Wasser und Holz hin zu Braun- und Steinkohle. „Schon die Römer hatten Kenntnis von Steinkohle“, erklärt Wendt, „bis heute ist nicht wirklich bekannt, wofür sie diese nutzten.“ In größerem Stil, von China über Indien bis Europa, wurde Kohle ab dem 16. Jahrhundert zutage gefördert; recht zeitgleich, trotz kaum vorhandener globaler Wissensströme.

Die größte Hürde, die es allerorten zu überwinden galt, war das Grundwasser. Erst als die Dampfmaschine erfunden war, mussten die Gruben nicht mehr mithilfe von Pferden mühsam entwässert werden. Die erste Dampfmaschine, erzählt Wendt, war dabei gar nicht die 1769 von James Watt erfundene, die sich weltumspannend in Schulbüchern findet. Schon in den ersten Jahren des 18. Jahrhunderts hatte ein gewisser Thomas Newcomen ein, wenn auch wenig energieeffizientes, Modell erfunden – das, bevor es bei der Grubenentwässerung zum Einsatz kam, erst einmal bei der Wasserversorgung der englischen Königsfamilie half.

Mehr als Anekdoten sammelt Wendt Wissen: über Verbrennungstemperaturen und Lagerungseigenschaften verschiedener Kohlearten ebenso wie über ihre Anwendung, etwa durch Verkokung, Diese löst störende Schwefel- und Phosphatbestandteile aus der Kohle und lässt Koks entstehen, mit dessen Hilfe im 19. Jahrhundert in großem Rahmen Metallhütten entstanden, und damit die deutsche Stahl- und später die Autoindustrie.

Noch interessanter sei, „sich all die Neben- und Abfallprodukte anzuschauen, die zu Industrien führten, an die wir kaum denken, wenn wir über Kohle sprechen“. Denn bei der Verkokung entstand auch Leuchtgas, von dem man entdeckte, dass es Fabriken, Wohnungen und Straßen erhellen lassen kann; Steinkohlenteer legte den Grundstein für die Farben- und Pharmaindustrie. Auch das Akronym BASF steht, aus der Öffentlichkeit weitestgehend verschwunden, für „Badische Anilin- & Soda-Fabrik“ – Anilin ist ein Nebenprodukt der Kohleverarbeitung.

Von all diesen gleichsam verborgenen Kohlenutzungen ausgehend rollt Helge Wendt das Feld sozusagen rückwärts auf und fragt, was jeweils an ihre Stelle treten könnte. Und, daraus folgend: „Kann sie allerorten ersetzt werden? Auf was können, sollten wir verzichten? Und ist – parallel zu der Energiewende hin zur Kohle – denkbar, dass auch die heutige Wende hin zu erneuerbaren Energien zu nützlichen Nebenprodukten führt?“

Ebenso wichtig wie der Blick auf die zentralen Rohstoffe der modernen Kultur und Geschichte sei der Fokus auf die chemischen Prozesse, die aus ihnen resultieren, sagt Benjamin Steininger. Passend dazu ist seine Forschung sowohl am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte angesiedelt wie am Exzellenzcluster UniSysCat an der Technischen Universität Berlin, das sich dem Beitrag der Katalyse für eine nachhaltigere Chemieindustrie verschrieben hat.

„Unsere Geschichte wird – im Fall von Erdöl – nicht von einem schwarzen Naturstoff bestimmt. Sondern von einem Stoff, der durch chemische Reaktionen in unser ganzes Leben eingesickert ist“, erklärt Steininger. In Deutschland, einem Land in dem es kaum Rohstoffe, aber eine immens starke chemische Industrie gibt, gelte das insbesondere. Wenn es für eine erfolgreiche Energiewende die Sozial- und Geisteswissenschaften braucht – wäre es dann nicht gut, wenn sich das in der chemischen Forschung herumspräche? „Doch“, antwortet Steininger, „denn das würde bedeuten, dass sie diese Langzeitwirkungen von vornherein einbezieht und energetisch wie stofflich in nachhaltigen Kreisläufen denkt. Das wäre etwas radikal Neues“.

Innerhalb der Max-Planck-Gesellschaft immerhin gibt es dafür seit einigen Jahren Ansätze. Regelmäßig führen Wissenschaftler der Max-Planck-Institute für Wissenschaftsgeschichte und für Chemische Energiekonversion ihre Perspektiven zusammen und arbeiten an gemeinsamen Agenden. Kurz nach der Auftaktveranstaltung gingen die Direktoren Jürgen Renn von der Wissenschaftsgeschichte und Robert Schlögl von der Chemischen Energiekonversion im April 2017 zusammen mit einem Manifest zur Energiewende an die Öffentlichkeit. Darin heißt es in für Wissenschaftler ungewöhnlicher Deutlichkeit: „Klima- wie geopolitisch ist jetzt der richtige Zeitpunkt, um einen massiven Systemumbau in Angriff zu nehmen“.

Heute, bald drei Jahre später, ist zumindest der Ausstieg aus der Kohle terminiert. Nach jahrelangen zähen Verhandlungen gelang es bei besagtem Kohlegipfel im Bundeskanzleramt, einen Termin für das Ende der innerdeutschen Förderung zu beschließen: 2038. Viel zu spät, sagen allerdings – in heute nicht mehr so ungewohnter Deutlichkeit – zahlreiche Klimawissenschaftler.

Eine gute Nachricht ist: Es gibt viele Mut machende Ansätze für die nachhaltigere Nutzung von Ressourcen. Darauf weist die Ethnologin Gretchen Bakke hin, die über eine Gastprofessur der Humboldt-Universität zu Berlin in das Anthropozän-Projekt eingebunden ist. Die in den USA zuletzt zu gewissem Ruhm gelangte Anthropologin zog es erst jüngst gezielt nach Deutschland – und damit an einen Ort, an dem Klimaforschung einen hohen Stellenwert hat.

Bis 2018 forschte sie im kanadischen Quebec; zuletzt schrieb sie ein Buch, das Bill Gates auf seiner Top-5-Bücherliste notierte: „The Grid“, das Netz, gemeint ist das Stromnetz in den USA. Neben der Feststellung, dass dieses von der erstaunlichen Zahl von 3.600 Versorgungsunternehmen (des-)organisiert ist, brachte Bakke Erkenntnisse mit, die ihr nun in Europa zugutekommen. Eine zentrale ist: Es gibt viele, oft gegenteilige Entwicklungen, zur selben Zeit – die nicht immer analog zu gängigen Erwartungen verlaufen. Das sonnenreiche Florida zum Beispiel verfügt über fast keine erneuerbaren Energien – während sich das strikt republikanische Iowa zu 50 Prozent aus Windenergie versorgt. Bakke: „Mich interessiert, wann wo Wandel passiert: Welche Kultur, welche Werte, welche Anreize fördern oder verhindern Transformation?“

Dafür macht sie sich auf die Suche nach Gesprächspartnern, in Politik und Wissenschaft ebenso wie in der Zivilgesellschaft; und auch zu Fragen, die man, wie sie sagt, „immer öfter auch im Fahrstuhl mithört“: Warum nutzen Menschen das Auto statt der Bahn, die Bahn statt dem Auto, das Flugzeug statt der Bahn? Schon dass es diese Gespräche gibt, bedeutet Wandel, erklärt sie: „Es gibt immer Pioniere, und Bereiche, in denen es scheinbar – noch – nicht vorangeht.“ Ein Beispiel dafür, was Pioniergeist bewirken kann, hat sie ebenfalls aus den USA mitgebracht: „Die Sonne als Quelle für Energie zu nutzen, galt dort noch vor zehn Jahren als absurd – etwas für Hippies, oder für Deutsche. Heute verbreitet sich die Solarenergie auch dort, langsam, aber stetig.“

Die Ethnologin weist darauf hin, dass es im Grunde nicht um eine, sondern um zwei Energiewenden geht – eine hin zu erneuerbaren und eine weg von fossilen Energien. Das wird spätestens deutlich, wenn sie sich mit weniger offensichtlichen Innovationen befasst, etwa mit der klimafreundlicheren, weil weniger CO2 freisetzenden Produktion von Zement und Stahl. „Technologisch ist das möglich“, sagt sie, „doch damit solche Produkte marktfähig werden, braucht es politische Ansätze – auch solche, die bisherige Techniken unattraktiv machen.“ Nun brauchen politische Lösungen, siehe Kohlekompromiss, immer Zeit – ebenso, wie der Bau von Fabriken, die Umstellung von Produktionen. Insofern fällt ihr Resümee so aus: „Wandel gibt es. Ob er das ausreichende Tempo hat, kann ich nicht sagen.“

Auf den Punkt gebracht

  • Die letzte Energiewende, bei der Wasser, Wind und Holz von der Kohle abgelöst wurden, zeigt, dass eine solche Wende viele Nebeneffekte hat.

  • Heute bilden Kohle und Erdöl nicht nur eine wichtige Energiequelle, sondern auch die Basis für zahllose chemisch erzeugte Stoffe und Materialien. Dementsprechend bräuchte es auch in der chemischen Industrie eine Neuorientierung.

  • Auf die aktuelle Energiewende wirken neben der Politik auch Faktoren wie Kultur, Moral und Überzeugungen ein.

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