Fließende Übergänge – mathematische Software verbindet Theorie und Praxis

Lösungen für Systeme polynomieller Gleichungen und Antworten auf Fragen der theoretischen Mathematik

Klassischerweise unterschiedet man zwischen theoretischer und angewandter Mathematik, um verschiedene Bereiche der mathematischen Wissenschaften einzuordnen. Dass diese Trennlinie sehr durchlässig ist, konnten Bernd Sturmfels vom Max-Planck-Institut für Mathematik in den Naturwissenschaften sowie Paul Breiding und Sascha Timme von der Technischen Universität Berlin nachweisen. Mittels einer eigens entwickelten Software lassen sich sowohl numerische Lösungen für Systeme polynomieller Gleichungen finden als auch klassische Fragen der theoretischen Mathematik beantworten. Forschungsergebnisse wurden in der Januar-Ausgabe der „Notices of the American Mathematical Society” publiziert.

Der Artikel „3264 Conics in a Second” verdeutlicht wie mithilfe mathematischer Software eine Brücke zwischen theoretischen Fragestellungen und angewandten Methoden geschlagen werden kann. Neben dem umfangreichen numerischen Softwarepackage „HomotopyContinuation.jl" erstellten die Autoren zudem eine leicht zugängliche Webseite, welche die unterschiedlichen Anwendungsmöglichkeiten der Software anschaulich erklärt. Eine dieser Anwendungen, die wiederum die Lösung eines klassischen geometrischen Problems darstellt, wurde darüber hinaus mithilfe einer Webapp noch greifbarer gemacht.

Steiners Kegelschnitt-Problem

Die publizierte Arbeit thematisiert ein klassisches Problem in der Geometrie vor dem Hintergrund moderner numerischer Algorithmen. Im Jahr 1848 stellte der Mathematiker Jakob Steiner die Frage, wie viele Kegelschnitte tangential zu fünf gegebenen Kegelschnitten liegen. Ein Kegelschnitt ist eine ebene Kurve, welche durch den Schnitt eines Kegels mit einer Ebene entsteht, gleichzeitig ist es auch die reelle Nullstellenmenge einer quadratischen Gleichung in zwei Variablen. Obwohl Steiner's Frage zunächst ausschließlich akademischer Natur zu sein scheint, hat sie doch Bezüge zu modernen Anwendungen. Das Kegelschnitt-Problem wird historisch als Ursprung der modernen "Intersection Theory" gesehen. Diese wiederum legt den Grundstein für moderne Algorithmen zur Nullstellenberechnung von Polynomsystemen, welches eine zentrale Aufgabe in vielen angewandten Bereichen ist:
Robotik, Materialwissenschaften, maschinelles Lernen, Biologie oder Analyse dynamischer Systeme sind Beispiele unter vielen anderen Disziplinen, in denen polynomielle Gleichungen gelöst werden müssen.

Softwarepaket HomotopyContinuation.jl

Auf eben diese numerischen Berechnungsverfahren zur Lösung von polynomiellen Gleichungssystemen haben sich die Autoren mit dem Softwarepaket HomotopyContinuation.jl für die, aufs numerische Rechnen optimierte, Programmiersprache Julia spezialisiert. Die zugehörige Webseite geht nicht nur auf die Funktionsweise der Software ein, sondern stellt auch weitreichende Beispiele aus dem computerunterstützten Sehen, der Robotik, Chemie, Datenmathematik und algebraischer Geometrie vor und kontextualisiert damit die Anwendung. Verschiedenste Leitfaden führen den Nutzer an die Möglichkeiten der Software heran und erläutern wie sie in den unterschiedlichsten Fragestellungen Anwendung finden kann. So auch in Steiner's Kegelschnitt-Fragestellung, welche sich als Problem zur Nullstellenberechnung eines polynomiellen Gleichungssystem formulieren lässt. Mittels der eigens entwickelten numerischen Software lassen sich nun die Lösungen innerhalb einer Sekunde berechnen.


Die Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts und der Technischen Universität Berlin haben als Anhang zu ihrer Arbeit ein Webinterface erstellt, durch das der Leser leicht die 3264 Lösungen für seine eigenen Kegelschnitte errechnen kann (siehe juliahomotopycontinuation.org/diy/). Diese innovative Art von wissenschaftlicher Kommunikation ist ein Novum für Publikationen in den Notices. Den Autoren gelang es mithilfe ihrer Software exakte Gleichungen für Arrangements mit reellen Lösungen für das Steinersche Kegelschnitt-Problem zu finden. Damit konnten sie zeigen, dass nicht nur theoretische Resultate numerische Verfahren bedingen, aber auch dass numerische Methoden Anwendung in der Beweisführung konkrete theoretischer Resultate haben können.

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