Wie Fliegen die Welt sehen
Der neuronale Code im Fliegengehirn passt sich kontinuierlich den Umgebungsbedingungen an
Unser Sehsystem ist extrem gut im Erkennen von Objekten unter den verschiedensten Bedingungen. Wir nehmen beispielsweise Fußgänger am Straßenrand bei strahlendem Sonnenschein ebenso wie an bewölkten Tagen wahr und können ihre Bewegungsrichtung vor einer Hauswand genauso wie vor dem Getümmel an einer Bushaltestelle erkennen. Was Auge und Gehirn scheinbar mit Leichtigkeit tun, ist eine große Herausforderung für automatisierte Systeme mit computergestützter Bildverarbeitung. Forscher des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie in Martinsried haben nun herausgefunden, wie das Fliegenhirn dieses Problem angeht: Die Nervenzellen verändern ihre Empfindlichkeit konstant in Abhängigkeit vom aktuellen Umgebungskontrast. Der Vergleich mit anderen Zellen ergibt dann ein Optimum, um visuelle Information bestmöglich zu übertragen.
Ein Fliegenhirn besitzt rund 100.000 Nervenzellen, wovon zirka 25.000 Zellen am Bewegungssehen beteiligt sind. Im Vergleich zu Wirbeltiergehirnen ist das überschaubar, doch trotzdem gibt es viele Parallelen zwischen dem Sehsystem von Fliegen und zum Beispiel Mäusen. Der Vorteil der Fliege ist jedoch, dass Neurobiologen das System Zelle für Zelle entschlüsseln können.
Doch worauf reagieren einzelne Nervenzellen im Fliegenhirn? Um das zu untersuchen haben Forscher aus der Abteilung von Alexander Borst am Max-Planck-Institut für Neurobiologie ein Panoramakino für Fruchtfliegen gebaut. Während hier "Filme" laufen, nehmen die Neurobiologen die Aktivität der Nervenzellen im Gehirn der Fliegen auf. Dank solcher Untersuchungen ist das Bewegungssehen von Fliegen heute einer der am besten verstandenen Nervenzellschaltkreise auf zellulärer Ebene.
Trotzdem versagten Computermodelle des Fliegen-Bewegungssehens bisher, sobald die Forscher den Modellen statt künstlicher Streifenmuster fotorealistische Bilder von natürlichen Umgebungen zeigten. Natürliche Bilder bestehen aus vielen unterschiedlichen Objekten, die in Helligkeit und Kontrast stark variieren können. Diese natürliche Komplexität stellt Computermodelle vor große Herausforderungen.
Um besser zu verstehen, wie das Fliegenhirn es dem Tier ermöglicht sich auch in komplexen natürlichen Umgebungen zurechtzufinden, haben Michael Drews und Aljoscha Leonhardt ein Großaufgebot moderner neurobiologischer Methoden eingesetzt: Von der Elektrophysiologie über bildgebende Verfahren und Verhaltensstudien bis hin zur Modellanalyse mit Künstlicher Intelligenz.
Informationsverarbeitung ist Teamwork
In einem wichtigen Teil ihrer Untersuchungen ließen die Forscher unterschiedlich kontrastreiche Landschaftsbilder um die Fliegen rotieren. Dank eines angeborenen Verhaltens reagieren die Fliegen auf den optischen Fluss der Bilder mit einer Drehbewegung in entsprechender Richtung und Geschwindigkeit. „Die Fliegen haben uns durch ihr Drehverhalten daher direkt gezeigt, ob sie die Bewegung und Geschwindigkeit der Umgebungsbilder noch auflösen können“, erklärt Drews. „So konnten wir untersuchen, welche Nervenzellen wie auf die verschiedenen Kontrastverhältnisse reagieren.“
Die Untersuchungen haben gezeigt, dass das Fliegenhirn gleich zu Beginn der Lichtreiz-Verarbeitung eine Feedbackschleife zum Kontrastvergleich eingebaut hat. Nimmt eine Nervenzelle einen hohen Kontrast wahr, vergleicht sie diesen Wert zunächst mit dem ihrer Nachbarzellen. Ist der Umgebungskontrast im Vergleich gering, antwortet die Nervenzelle stark. Ist der Umgebungskontrast dagegen größer, so schwächt die Zelle ihre Antwort ab.
Kontrast wird im Sehsystem der Fliege also immer nur relativ zum Umgebungskontrast kodiert. „Durch diesen Mechanismus passt das Sehsystem seine Kontrastempfindlichkeit ständig an den gegebenen Umgebungskontrast an,“ erklärt Leonhardt. „So entsteht eine robuste Informationsübertragung, die unter beinahe allen Bedingungen gleich gut funktioniert.“
Künstliche Intelligenz lernt Sehen
Um die Funktion des neuen Schaltkreises zu überprüfen, haben die Forscher das Sehsystem im Computermodell nachgebaut – einmal mit und einmal ohne die Feedbackschleife. Tatsächlich konnten künstliche neuronale Netzwerke, die mit dem erweiterten Schaltkreis "Sehen" gelernt haben, deutlich besser reagieren, als mit dem einfachen Schaltkreis trainierte Netzwerke. Entscheidend dabei: Der erweiterte Schaltkreis kommt auch mit natürlichen Umgebungsbildern gut klar.
Die Wissenschaftler haben somit in der Fliege einen sehr einfachen aber effektiven Algorithmus gefunden, der Bewegungen auch bei variierenden Kontrastverhältnissen berechnen kann. Ähnliche Verschaltungen werden zu Beispiel auch im Gehirn von Mäusen vermutet. So kann die Fliege uns helfen, die Gehirne anderer Tiere besser zu verstehen oder künstliche und computergestützte Sehsysteme vielleicht noch effizienter zu machen.