Nervenzellen für das richtige Timing

Eine neue Klasse von Neuronen sorgt für reibungslose Verständigung im Gehirn

Alles was wir wahrnehmen, fühlen oder tun, entsteht durch die Kommunikation vieler Milliarden Neurone im Gehirn. Wie so oft hängt auch bei der neuronalen Verständigung alles davon ab, dass einer dem anderen in genau dem richtigen Moment gut zuhört. Wissenschaftler vom Ernst Strüngmann Institut in Frankfurt haben jetzt Nervenzellen entdeckt, die für gutes Timing sorgen und damit eine wichtige Rolle bei der reibungslosen Übermittlung von Informationen spielen könnten.

Seit den frühen Anfängen der Hirnforschung haben Wissenschaftler versucht, die Funktionsweise des Gehirns zu ergründen, indem sie zunächst die Teile verstehen, aus denen es aufgebaut ist: die Nervenzellen. Diese benutzen kurze, elektrische Entladungen, um miteinander Informationen auszutauschen. Diese sogenannten Aktionspotentiale sind sozusagen die Sprache des Gehirns. Indem man Aktionspotentiale anhand ihrer Form und Größe sortiert, können die „Stimmen“ einzelner Neurone unterschieden werden. Anhand der grundlegenden Eigenschaften ihrer Aktionspotentiale können Neurone in unterschiedliche Gruppen eingeteilt werden. Im primären visuellen Kortex – das ist der erste Teil der Großhirnrinde, der sich mit dem beschäftigt, was wir sehen – werden im Allgemeinen zwei Gruppen von Nervenzellen unterschieden, sogenannte funktionelle Zellklassen. Die eine Sorte sind hemmende Neurone mit schnellen, sehr schmalen Aktionspotentialen, die die Aktivität anderer Zellen herunter regulieren. Die andere Sorte sind erregende Neurone mit langsameren, eher breiten Aktionspotentialen, die die Aktivität anderer Zellen in die Höhe treiben.  

Diese zweigegliederte Einteilung hat sich als Faustregel bewährt. Neue Forschungsergebnisse zeigen aber auch, dass es ganz offensichtlich bemerkenswerte Ausnahmen von der Regel gibt: „Wir haben uns Signale von Nervenzellen im primären visuellen Kortex angeschaut und dabei eine dritte Neuronen-Art gefunden, die bisher unbekannt war“, erklärt Irene Onorato, Erstautorin der Studie. Die Forscher entdeckten das von ihnen erstmals beschriebene Neuron bei zwei verschiedenen Affenarten. Bei Mäusen konnten sie sie aber nicht finden.

Der neue Zelltyp hat genau wie altbekannte, hemmende Neurone schnelle Spikes mit schmaler Form. Allerdings unterscheidet sich ihr Aktivitätsmuster eindeutig von ihnen: Statt vereinzelter Aktionspotentiale feuern sie regelrechte Salven, so genannte „bursts“. Statt die Aktivität anderer Neurone zu hemmen, scheinen sie sie anzuregen. Von den Zellen, deren Signale die Forscher aufgezeichnet hatten, fiel fast jedes dritte Neuron in diese Gruppe. Dafür, dass dieser Zelltyp bisher übersehen worden war, ein überraschend großer Anteil.          

Eine mögliche Erklärung dafür sieht Studienleiter Martin Vinck darin, dass viel Wissen über das Gehirn aus einem einzigen Tiermodell stammt: „Nur sehr wenige Studien haben funktionelle Zellklassen im Gehirn von Primaten untersucht. Die meisten Untersuchungen dieser Art wurden an Mäusen gemacht. Wir haben Daten verschiedener Spezies miteinander verglichen und konnten dabei zeigen: Mäuse haben diese Neurone einfach nicht.“ In der neurowissenschaftlichen Forschung spielen Tierversuche an Mäusen eine tragende Rolle. Mit guten Grund: Viele der neuesten Methoden, insbesondere solche aus dem Werkzeugkasten der Genetik, können bei Mäusen angewendet werden, funktionieren aber nicht bei Affen. In Hinblick auf kognitive Fähigkeiten wie Lernen oder Aufmerksamkeit sind Affen den Mäusen aber deutlich überlegen. Dass sich die Gehirne der Tiere unterscheiden, ist für die Wissenschaftler deshalb wenig überraschend.   

Gutes Timing für gute Kommunikation 

Einer der vielen Unterschiede ist, dass im visuellen Kortex von Affen sehr viel rhythmische Netzwerkaktivität gemessen werden kann. Im visuellen Kortex von Mäusen kommt solche Netzwerkaktivität auch vor, ist allerdings deutlich schwächer. Die rhythmischen Schwingungen werden auch Oszillationen genannt und entstehen, wenn viele Neurone gleichzeitig zwischen aktiv und inaktiv hin und her wechseln. Neurowissenschaftler vermuten, dass Oszillationen eine wichtige Rolle in der neuronalen Kommunikation spielen. Insbesondere das sogenannte Gamma-Band zwischen 30 und 80 Hertz wird mit kognitiven Funktionen in Verbindung gebracht.

„Wenn man weiß, dass der visuelle Kortex von Affen von rhythmischer Aktivität quasi überschwemmt wird, der von Mäusen aber nicht; und man dann Neuronen entdeckt, bei denen das Hauptmerkmal rhythmische Aktivitätsausbrüche sind, die es wiederum in Affen, aber nicht bei Mäusen gibt – dann kann man gar nicht anders als zu überlegen, ob es einen Zusammenhang gibt“, sagt Martin Vinck. Und tatsächlich, eine eingehende Datenanalyse lieferte Hinweise darauf, dass die von den Wissenschaftlern entdeckten Zellen gemeinsam mit den klassischen hemmenden Neuronen eine Art Schrittmacherfunktion übernehmen und damit Gamma-Rhythmen erzeugen.

Frühere Studien zeigten, dass Neurone, die ihre Aktionspotentiale mit dem Gamma-Rhythmus synchronisieren, ihre Informationen besonders effektiv an nachgeschaltete Hirnareale weiterleiten. Die rhythmischen Schwingungen geben sozusagen eine Art Zeitplan vor, in welchem Moment sich ein Neuron melden muss, um gut gehört zu werden. Die neu entdeckten Neurone könnten diesen Zeitplan vorgeben. Sie sorgen dafür, dass das Timing bei der Kommunikation stimmt. Damit könnten sie bei der Verarbeitung von visuellen Sinneseindrücken eine tragende Rolle spielen.

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