Forschungsbericht 2019 - Assoziierte Einrichtung - Ernst Strüngmann Institute (ESI) for Neuroscience

Ein neu entdecktes Neuron für effektive Informationsübertragung

Autoren
Vinck, Martin
Abteilungen
Assoziierte Einrichtung - Ernst Strüngmann Institute (ESI) for Neuroscience, Frankfurt am Main
Zusammenfassung
Alles was wir wahrnehmen, fühlen oder tun, entsteht durch die Kommunikation vieler Milliarden Neurone im Gehirn. Neuronale Kommunikation wird durch die Balance zwischen Hemmung und Erregung geformt. Wir am Ernst Strüngmann Institut haben jetzt eine neue Klasse von Nervenzellen entdeckt, die eine wichtige Rolle bei der reibungslosen Übermittlung von Informationen spielen könnten.

Vom einzelnen Neuron zum Gehirn als Ganzes

Seit den frühen Anfängen der Hirnforschung haben Wissenschaftler versucht, die Funktionsweise des Gehirns zu ergründen, indem sie zunächst die Teile verstehen, aus denen es aufgebaut ist: einzelne Nervenzellen, die Neurone. Neurone benutzen kurze, elektrische Entladungen, um miteinander Informationen auszutauschen. Diese „Aktionspotentiale“, auch Spikes genannt, sind sozusagen die Sprache des Gehirns. Indem man Spikes anhand ihrer Form und Größe sortiert, können die „Stimmen“ einzelner Neurone unterschieden werden. Anhand der grundlegenden Eigenschaften ihrer Spikes können Neurone in unterschiedliche Gruppen eingeteilt werden. Im primären visuellen Kortex werden im Allgemeinen zwei Gruppen von Nervenzellen unterschieden, sogenannte funktionelle Zellklassen: 1) Inhibitorische Interneurone mit schnellen, sehr schmalen Spikes, die die Aktivität anderer Zellen herunter regulieren. 2) Excitatorische Neurone mit langsameren, eher breiten Spikes, die die Aktivität anderer Zellen in die Höhe treiben.

Aus zwei Klassen werden drei

Diese zweigegliederte Einteilung hat sich als Faustregel bewährt. Es gibt aber auch bemerkenswerte Ausnahmen, wie eine aktuelle Studie aus unserer Forschungsgruppe am Ernst Strüngmann Institut zeigt. Meine Doktorandin Irene Onorato, die auch Erstautorin der kürzlich in der Fachzeitschrift Neuron veröffentlichten Studie ist, untersuchte die Spikeformen von Neuronen im primären visuellen Kortex zweier unterschiedlicher Affenarten. Dabei fanden wir eine dritte Klasse Zellen. Der neue Zelltyp ähnelt auf den ersten Blick den bekannten inhibitorischen Interneuronen. Auch sie haben schnelle Spikes mit schmaler Form. Allerdings unterscheidet sich ihr Aktivitätsmuster eindeutig von inhibitorischen Interneuronen: Die von uns beschriebenen Neurone zeigen ein auffälliges Aktivitätsmuster mit Phasen, in denen Salven zahlreicher Spikes dicht nacheinander gefeuert werden, so genannte „Bursts“. Überraschenderweise fiel mit 30 Prozent ein vergleichsweise großer Anteil der untersuchten Neurone in diese neu beschriebene Kategorie. Wie ist es möglich, dass eine so große Gruppe bisher übersehen wurde?

Eine mögliche Erklärung dafür könnte in dem Tiermodell liegen, dass viele Forscher bevorzugen: Mäuse. Über die Zelltypen, die im Hirn von Primaten zu finden sind, ist relativ wenig bekannt. Ein Grund dafür ist, dass zahlreiche Techniken zur gezielten Untersuchung einzelner Zellen bei Mäusen angewendet werden können, bei Primaten aber nicht. Das gilt insbesondere für genetische Werkzeuge. Mäuse und Affen sind sehr unterschiedliche Tiere mit entsprechend unterschiedlichen Fähigkeiten. Daher sind bei der Klassifikation von Neuronen Abweichungen zwischen Maus und Affe zu erwarten. Unterschiede in der Ausprägung von Zellklassen spiegeln wahrscheinlich fundamentale Abweichungen in der Organisation der Gehirne zwischen Spezies wider. Dazu gehören die topographische Verteilung der Stimuluspräferenzen einzelner Zellen genauso wie der Ausprägungsgrad schneller, rhythmischer Aktivität.

Effektive Kommunikation im Takt des Gamma-Rhythmus

Uns fiel auf, dass die neue Zellklasse im Vergleich zu den anderen beiden Neuronentypen ein besonders ausgeprägtes Stimulus-Tuning hat. Das heißt, diese Zellen sind besonders gut darin, detaillierte Informationen über einen visuellen Reiz auszulesen und weiter zu leiten. Eine eingehende Analyse zeigte außerdem, dass die auffälligen Aktivitätsmuster hoher Spike-Dichte einem Rhythmus folgen, der synchron zur Gamma-Band-Aktivität des Netzwerks (30 bis 80 Hz) ist. Rhythmische Schwingungen im Gamma-Band, die die synchrone Aktivität vieler, nahe beieinander liegender Neurone reflektieren, wurden im Zusammenhang mit Informationsverarbeitung das erste Mal von Wolf Singers Labor am MPI für Hirnforschung beschrieben. In vielen Untersuchungen wird diese Netzwerkaktivität vernachlässigt, weil es schwierig ist, sie auszuwerten, aber ihre zeitliche Präzision ist bemerkenswert hoch. Spikes, die der exakten Taktvorgabe des Gamma-Rhythmus folgen, dienen im primären visuellen Kortex möglicherweise dazu, visuelle Informationen zu kodieren.

Die neu beschriebenen Neurone übermitteln also besonders genaue Informationen über einen visuellen Input in einem Zeitfenster, das exakt an den Takt des Gamma-Rhythmus gekoppelt ist. Eine Kombination, die nahelegt, dass diese Neurone besonders effektiv in der Kommunikation mit nachgeschalteten Zellgruppen sind. Damit würden sie in der Verarbeitung visueller Informationen eine tragende Rolle spielen.

Das Forschungsprojekt wurde von Dr. Martin Vinck geleitet und durchgeführt in Zusammenarbeit mit dem Brain Institute in Natal (Brasilien), dem Max-Planck Institut für Hirnforschung in Frankfurt (Deutschland) und der University of Oregon (USA).

Literaturhinweise

Onorato, I.; Neuenschwander, S.; Hoy, J.; Lima, B.; Rocha, K.S.; Broggini, A.C.; Uran, C.; Spyropoulos, G.; Klon-Lipok, J.; Womelsdorf, T.; Fries, P.; Niell, C.; Singer, W.; Vinck, M.
A Distinct Class of Bursting Neurons with Strong Gamma Synchronization and Stimulus Selectivity in Monkey V1
Neuron 105, 180-197 (2020)

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