Forschungsbericht 2019 - Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften

Altern über Grenzen hinweg: Älter werden in einer globalisierten Welt

Autoren
Amrith, Megha
Abteilungen
Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften, Göttingen
Zusammenfassung
Die Weltbevölkerung altert. Doch nicht alle Menschen werden an den Orten älter, die sie sich vielleicht vorgestellt haben. Da Individuen, Familien und Gemeinschaften zunehmend in transnationale Netzwerke eingebettet sind, die sich über verschiedene Orte erstrecken, ist es an der Zeit, die kulturellen, politischen und ethischen Implikationen des Älterwerdens in einer vernetzten, aber ungleichen Welt zu untersuchen.

Die Welt bewegt sich in Richtung einer deutlich älteren Bevölkerung. Weltweit gibt es über 705 Millionen Menschen im Alter von 65 Jahren oder älter, und das United Nations Department of Economic and Social Affairs prognostizierte 2019, dass sich diese Zahl bis 2050 auf 1,5 Milliarden verdoppelt. In der heutigen vernetzten und mobilen Welt werden diese Menschen nicht alle an den Orten älter werden, die sie sich vielleicht vorgestellt haben. Dennoch werden Altern und Migration typischerweise in getrennten wissenschaftlichen und öffentlichen Debatten behandelt, wobei das Altern weithin als Prozess verstanden wird, der an einem angestammten Ort stattfindet, während sich Studien zur Migration eher auf jüngere Bevölkerungsgruppen konzentrieren.

Bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass Altern und Migration Prozesse sind, die sich in wichtigen Bereichen überschneiden. Was bedeutet es, als Flüchtling älter zu werden, wenn eine Rückkehr in die ursprüngliche Heimat nicht möglich ist? Wie kümmern sich Migrantinnen und Migranten mit prekärem Einwanderungsstatus um ihre alternden Eltern, die in ihren Heimatländern geblieben sind, auch angesichts von Schwierigkeiten beim Überschreiten von internationalen Grenzen? Wie können Menschen ein Leben im Ruhestand führen, wenn sich ihr familiäres und soziales Leben über mehrere Orte erstreckt oder wenn der Zugang zu Sozialsystemen, wie zum Beispiel Renten, begrenzt oder nicht übertragbar ist?

Dies sind einige der Fragen, die die Forschungsgruppe „Altern in einer Zeit der Mobilität“ bewegen. Wir verwenden ethnographische Methoden, um zu verstehen, wie die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Transformationen, die mit dem Altern und der Migration verbunden sind, die Lebensgeschichte von Menschen und Familien prägen, die über verschiedene Orte verstreut sind.

Unsere Fälle stammen aus Regionen der Welt, die in den kommenden Jahrzehnten voraussichtlich rasch altern werden – Asien, Afrika und Lateinamerika –, die aber in der Forschung und in der politischen Agenda weniger sichtbar sind. Die Feldforschung des Teams verfolgt das Leben von Migrantinnen und Migranten und ihren Familien, die zwischen Brasilien, den Vereinigten Staaten und dem Vereinigten Königreich, Indonesien und Osttimor, den Philippinen und Singapur, Kamerun und der umliegenden Region umziehen.

Die Migration bietet sowohl Chancen als auch Herausforderungen für das Erleben des Alterns in einer globalisierten Welt. Im Vordergrund steht die Entkoppelung des realen transnationalen Lebens von der nationalen Organisation sozialer Sicherung und Migration, die Menschen an Orte bindet. Unterschiedliche Rechte auf Mobilität, Aufenthalt und Staatsbürgerschaft in verschiedenen Gesellschaften haben ungleiche Auswirkungen auf die Art und Weise, wie Menschen das Älterwerden erleben, entweder als Migrantinnen und Migranten oder als diejenigen, die zu Hause geblieben sind, während Familienmitglieder weggezogen sind. Abhängig von Ethnizität, Klassenzugehörigkeit, Geschlecht und Religion wird das Älterwerden für Menschen unterschiedlich spürbar. Menschen, die im Laufe ihres Lebens Diskriminierung und Ausgrenzung erfahren haben, stellen bisweilen fest, dass dies auch ihren Zugang zu Pflege, sozialen Diensten und Lebensunterhalt im späteren Leben beschränkt.

Wir leben in einer Zeit, in der soziale Sicherungssysteme mitunter nur eine begrenzte Reichweite haben oder auch gekappt werden. Das Streben nach Arbeit und die Vorstellungen über das Produktivbleiben gehen dabei über die gängige Definition von „Alter“ (typischerweise ab 60 oder 65 Jahren) oder „Ruhestand“ hinaus. Dies gilt insbesondere für Menschen, die in ökonomisch prekären Situationen und Unsicherheit leben. In den untersuchten Gruppen sind verwandtschaftliche Pflege und informelle Netzwerke historisch und kulturell wichtige Formen der Altenpflege, im Zeitalter der Mobilität können sie aber nicht immer als sichere Quellen sozialer Unterstützung angesehen werden. So suchen etwa auch jüngere Familienmitglieder, von denen man hätte erwarten können, dass sie sich um die alternden Eltern kümmern, nach Möglichkeiten für ihre eigene Zukunft in weit entfernten Orten und stehen darum nicht mehr zu Verfügung.

In ihrem transnationalen Leben sind die Menschen sehr einfallsreich, um die Betreuung über Generationen hinweg zu arrangieren, denn es entstehen auch neue Bedingungen für Familie, Betreuung und Altern. Durch die Migration der jüngeren Generation können größere finanzielle Ressourcen entstehen, mit denen die Pflege zurückbleibender älterer Familienmitglieder unterstützt wird. Außerdem kommt es zu neuen Pflegepraktiken, wenn etwa über große Entfernungen digitale Kommunikation für die Betreuung Älterer eingesetzt wird.

Mitunter ist die ältere Generation selbst überraschend mobil und spielt, wenn die jüngeren Menschen restriktiven Einwanderungsbestimmungen unterworfen sind, innerhalb transnationaler Familien eine entscheidende Rolle bei der Betreuung und Entscheidungsfindung. Dies zeigt, dass ältere Menschen nicht nur passive oder sesshafte Pflegebedürftige sind, sondern auch einen wichtigen Beitrag zur Organisation von Haushalten, zum Aufbau von Gemeinschaften und zur Gestaltung der Zukunft leisten.

Die weltweit unterschiedlichen Situationen zeigen, dass Altern und Älterwerden vielfältige, kulturell und lokal spezifische Formen hat, angesichts globaler Vernetzung aber auch kontinuierlich neu bestimmt werden muss. Alternde Gesellschaften erfordern in einer Zeit verstärkter Mobilität komplexe Neuordnungen von Familie, Pflege, Heim und Zugehörigkeit. Und die Erfahrungen des Älterwerdens werden durch Zuwanderungspolitik, begrenzte soziale Absicherung und asymmetrische globale Abhängigkeiten ungleichmäßig beeinflusst.

Literaturhinweise

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