Forschungsbericht 2019 - Max-Planck-Institut für Kernphysik
Ein Hauch von Ewigkeit: Die langsamste Kernumwandlung der Welt
Neue Erkenntnisse in der Teilchenphysik sind heutzutage schwer zu erlangen. Oftmals sind sie in extrem seltenen Reaktionen verborgen, für deren Nachweis ein Detektor äußerster Empfindlichkeit erforderlich ist: Der XENON1T-Detektor ist so ein Nachweisgerät [1]. Er wurde für die Suche nach der geheimnisvollen Dunklen Materie entwickelt. Das ist eine weitgehend unbekannte Substanz, von der unser Universum durchsetzt ist und die seine Entwicklung seit dem Urknall maßgeblich beeinflusst hat. Auch noch heute macht sie sich indirekt bemerkbar, indem sie die Bewegung von Sternen und Galaxien beeinflusst und diese auf ansonsten nicht erklärbare Bahnen zwingt. Wahrscheinlich besteht diese Dunkle Materie aus bisher unentdeckten schweren Elementarteilchen, die nur sehr selten mit gewöhnlicher Materie in Wechselwirkung treten. XENON1T wurde gebaut, um nach diesen seltenen Ereignissen zu suchen.
Hochreiner Detektor
Der Detektor verwendet 3,2 Tonnen Xenon allerhöchster Reinheit und wird bei -96 °C betrieben. Bei dieser Temperatur liegt das meiste Xenon in flüssiger Form vor, aber über der Flüssigkeit befindet sich ein kleines Volumen mit gasförmigem Xenon, das für den Betrieb benötigt wird. Deponiert ein teilchenphysikalisches Ereignis Energie im Detektor, regt das die Xenon-Atome zum Leuchten an. Dieses ultraviolette Szintillationslicht registrieren zwei Anordnungen von empfindlichen Lichtsensoren. Außerdem werden bei so einem Ereignis einige Xenon-Atome ionisiert. In einem elektrischen Feld driften die freigesetzten Elektronen nach oben, wo sie das gasförmige Xenon zum Leuchten anregen.
Somit verrät sich ein Ereignis durch zwei charakteristische Lichtblitze in kurzem zeitlichem Abstand. Weil ein physikalisch interessantes Ereignis kaum von einem gewöhnlichen radioaktiven Zerfall zu unterscheiden ist, haben wir die Baumaterialien des Detektors sehr sorgfältig ausgewählt. Sie enthalten nur geringste Spuren von natürlicher Radioaktivität. Um zudem gegen die kosmische Höhenstrahlung geschützt zu sein, stand XENON1T circa 1300 Meter unter der Erdoberfläche im italienischen Gran Sasso-Untergrundlabor in den Abruzzen. Die höchsten Reinheitsanforderungen werden aber an das Xenon selbst gestellt: Destillation des Xenons direkt vor Ort entfernt Spuren von omnipräsenten radioaktiven Edelgasen (Krypton und Radon). Die erreichte Reinheit ist beeindruckend: Beispielsweise kommt auf 1023 Xenon-Atome nur ein radioaktives 85Kr-Atom. Das ist weniger als ein einziger Regentropfen verdünnt in der gesamten Nordsee! Zusammengefasst war XENON1T ein Detektor mit nie da gewesener radioaktiver Reinheit und dadurch das weltweit führende Experiment bei der direkten Suche nach Dunkler Materie [2].
Lange Messzeit und ausgefeilte Analyse
Doch der Detektor konnte noch mehr: Xenon enthält ein interessantes Isotop, Xenon-124, das etwa 1 Promille aller Xenon-Atome ausmacht: Dieses Isotop ist quasi stabil, denn sein „normaler“ radioaktiver Zerfall durch Einfang eines Hüllenelektrons ist energetisch verboten. Erlaubt ist aber der so genannte doppelte Elektroneneinfang, bei dem gleichzeitig zwei Hüllenelektronen von Protonen im Atomkern eingefangen werden, der sich dadurch in Tellur-124 umwandelt. Bei diesem extrem seltenen Prozess wird auch Strahlung mit einer Energie von 64,3 Kiloelektronvolt frei, die wir mit XENON1T nachweisen konnten [3]. In Messdaten von circa einem Jahr fanden wir mehr als 100 Zerfälle dieser Art. Problematisch bei der Analyse war, dass in direkter Nachbarschaft des Signals Störstrahlung von Iod-125 auftauchte, das in situ durch Neutroneneinfang am Xenon entsteht. Dessen Beitrag ließ sich jedoch durch eine gezielte Analyse abschätzen und subtrahieren, so dass am Ende nur das 124Xe-Signal übrigblieb. Übersetzt in eine Halbwertszeit ergab sich der unvorstellbar große Wert von (1,8 ± 0,5stat ± 0,1sys) × 1022 Jahren: Weltrekord!
Dass es gelang, einen solch seltenen Kernzerfall nachzuweisen, demonstriert erneut wie außerordentlich erfolgreich die Technologie von XENON1T für die Suche nach extrem seltenen Ereignissen ist. Möglicherweise kann 124Xe sogar ohne Emission von Neutrinos zerfallen. Dieser neutrinolose doppelte Elektroneneinfang wäre nochmals viel unwahrscheinlicher und kann überhaupt nur stattfinden, wenn Neutrinos ganz spezielle Eigenschaften haben, die bislang nur Vermutung sind. Diese Eigenschaften würden bei der Erklärung der Materie-Antimaterie-Asymmetrie im Universum eine wichtige Rolle spielen. Daher ist die Suche nach solchen neutrinolosen Prozessen – zum Beispiel auch nach dem neutrinolosen Doppel-Betazerfall von 136Xe – so spannend und ein aktives Forschungsfeld in der Teilchenphysik.
Das XENON-Projekt
XENON1T ist ein gemeinschaftliches Projekt, an dem rund 160 Forschende aus Europa, den USA, Japan und dem Nahem Osten beteiligt sind. Das Max-Planck-Institut für Kernphysik (MPIK) in Heidelberg leistete unter anderem mit seinen weltweit führenden Nachweismethoden für geringste Spuren von Radioaktivität essentielle Beiträge bei der Reinheitskontrolle des Xenons. XENON1T hat von 2016 bis Dezember 2018 Daten genommen und dabei die weltbeste Empfindlichkeit für die Suche nach Dunkler Materie erreicht. Danach erfolgte der Umbau des Experiments für die neue Phase XENONnT, bei der die aktive Detektormasse verdreifacht und die radioaktiven Verunreinigungen weiter reduziert werden. Nach diesem Upgrade wird der Detektor nun bald wieder Daten nehmen und dann noch etwa zehnmal empfindlicher sein. Wir warten gespannt auf neue Entdeckungen im Bereich der Dunklen Materie und darüber hinaus!
Literaturhinweise
Physical Review Letters 121, 111302 (2018)
Nature 568, 532–535 (2019)