Forschungsbericht 2019 - Max-Planck-Institut für Physik komplexer Systeme

Universelle Eigenschaften von Klonen in der Embryonalentwicklung

Autoren
Rulands, Steffen
Abteilungen
Max-Planck-Institut für Physik komplexer Systeme, Dresden
Zusammenfassung
Die Entstehung von komplexen Organen im sich entwickelnden Embryo beruht auf einer präzise regulierten Zusammenarbeit zwischen vielen Zellen. Die Anzahl der Nachfahren solcher Zellen, sogenannte Zellklone, ist eine wichtige experimentelle Messgröße ihres Verhaltens. Am MPI für Physik komplexer Systeme fanden heraus, dass die Größen dieser Zellklone universellen Gesetzmäßigkeiten folgen. Mit dem Wissen um den Ursprung solch universellen Verhaltens können wir spezifische Informationen über das Verhalten von Stammzellen aus Experimenten herausfinden.

Die Entstehung von komplexen Organen in der Embryonalentwicklung beruht auf dem Wechselspiel von vielen Zellen. Doch wie organisieren sich Zellen, die anfangs alle identisch sind, um später komplexe Strukturen wie das Herz oder das Gehirn zu bauen? Das Verhalten von diesen Zellen, etwa Zellteilungen, Zellmigration oder Differenzierung, muss präzise gesteuert werden, damit die richtige Anzahl und der richtige Typ von Zellen an einem bestimmten Zeitpunkt oder Ort im Embryo entsteht. Die diesem Verhalten zugrunde liegenden Prozesse sind das zentrale Forschungsthema der Stammzellbiologie. Abweichungen von diesen Prozessen bilden die Grundlage für Krankheiten wie Diabetes oder Krebs.

Neue experimentelle Methoden aus der Genomik und Genetik erlauben es nun, molekulare Prozesse in Zellen hochdetailliert aufzulösen. Dieser Fokus auf die molekulare Ebene verrät allerdings nichts darüber, wie aus den komplexen Wechselwirkungen zwischen Molekülen kollektives Verhalten von Zellen entsteht. Die statistische Physik, ein Teilbereich der theoretischen Physik, stellt Methoden zur Verfügung, die mikroskopischen Prozesse in ihre makroskopischen Konsequenzen und damit ihre biologische Funktion übersetzen können. Ein zentrales Konzept der statistischen Physik ist das Phänomen der Universalität. Es beruht darauf, dass makroskopische Größen vieler Systeme trotz unterschiedlicher mikroskopischer Struktur ähnliche Eigenschaften haben. Aber wie lassen sich solche Konzepte auf das Verhalten von Zellen anwenden?

Genetische Methoden zur Verfolgung von Zellverhalten

Um das Verhalten von Zellen experimentell zu untersuchen, würde man idealerweise ihr Verhalten während der Embryonalentwicklung filmen. In Säugetieren und Menschen ist dies jedoch in den meisten Fällen nicht möglich, ohne die Entwicklung des Embryos zu stören. In den letzten Jahren wurden daher Methoden entwickelt, die auf genetisch veränderten Lebewesen basieren und die es erlauben, eine Teilmenge von Zellen genetisch zu markieren [1]. Wenn sich Zellen teilen, werden diese Markierungen an alle Nachfahren einer Zelle (ein sogenannter Zellklon) weitergegeben. Solche Klone sind durch fluoreszierende Proteine unter dem Mikroskop sichtbar, sodass sich ihre Größe und ihre Zusammensetzung über die Zeit messen lassen [Bild 1]. Mit theoretischen Methoden lässt sich dann das Verhalten der markierten Zellen zwischen Markierung und Analyse wieder herstellen [2].

In der Embryonalentwicklung wird dieses Unterfangen jedoch dadurch verkompliziert, dass markierte Zellklone durch Kräfte im wachsenden Gewebe in separate Zellgruppen zerfallen und wieder verschmelzen können. Was kann man also von solchen Zellklonen über die Prozesse lernen, die das Verhalten von Zellen steuern?

Universelles Verhalten von markierten Zellen

Zusammen mit experimentellen Kollaborationspartnern haben wir uns diese Frage am Beispiel der Entwicklung des Herzens, der Leber und der Bauchspeicheldrüse gestellt [3]. Dabei fanden wir heraus, dass sich die Zellklone in sich entwickelnden Geweben wie Tröpfchen in Aerosolen verhalten. Basierend auf dieser Analogie stellten wir fest, dass das Verhalten von Klonen in der Embryonalentwicklung einer universellen Gesetzmäßigkeit folgt: Während das Organ wächst, werden Informationen über die biologischen Prozesse, die dem Verhalten von Zellen zugrunde liegen, nach und nach gelöscht, sodass die Größenverteilung der Zellklone selbst für verschiedene Gewebe immer dieselbe ist. Unsere theoretischen Vorhersagen haben wir in Experimenten an verschiedenen Organen des Mausembryos getestet [Bild 2].

Statistische Methoden zur Inferenz der Zellklondynamik

Das universelle Verhalten der markierten Zellen wirft die Frage auf, wie sich spezifische biologische Informationen dann extrahieren lassen. Um diese Frage zu beantworten, entwickelten wir aufbauend auf unseren Ergebnissen verschiedene experimentelle und theoretische Strategien, mit denen wir das Verhalten von Zellen im Embryo verstehen können. Beispielsweise lassen sich mit unseren mathematischen Methoden, die statistische Inferenz mit biophysikalischen Modellen verbinden, ausgehend von den Positionen markierter Zellen deren Bewegungen im Gewebe zurückverfolgen und damit ihr Verhalten bestimmen. Diese Methoden verwenden wir momentan in Zusammenarbeit mit experimentellen Gruppen, um das Verhalten von Stammzellen im Herz, in der Haut, der Lunge, dem Gehirn und in der Entstehung von Krebs zu untersuchen.

 

Das Verständnis von universellem Verhalten der Zellklondynamik ist die Voraussetzung dafür, biologische Information in solchen Experimenten zu identifizieren. Unsere Arbeit schafft einen theoretischen Rahmen, diese Messungen sinnvoll zu interpretieren. Über die biologische Fragestellung hinaus zeigt diese Arbeit überraschenderweise, wie Kernkonzepte der theoretischen Physik wie Kritikalität und Universalität in biologischen Systemen auftreten. Unsere Arbeit verdeutlicht auch, dass Methoden der theoretischen Physik für die Interpretation neuer technologischer Entwicklungen in der Biologie unerlässlich sein können.

Literaturhinweise

Kretzschmar, K.; Watt, F. M.
Lineage tracing.
Cell. 148, 33–45 (2012)
Rulands, S., Simons, B. D.
Tracing cellular dynamics in tissue development, maintenance and disease.
Current Opinion in Cell Biology 43, 38–45 (2016).
Rulands, S. et al.
Universality of clone dynamics during tissue development.
Nature Physics 14, 469-474 (2018).

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