Forschungsbericht 2019 - Max-Planck-Institut für Psycholinguistik

Gehirnströme beeinflussen, wie wir Wörter wahrnehmen    

Autoren
Bosker, Hans Rutger
Abteilungen
Abteilung "Psychology of Language"
Zusammenfassung
Unsere Sprache ist äußerst variabel und vielfältig. Jedes Wort kann auf verschiedenste Weise ausgesprochen werden, zum Beispiel schnell oder langsam. Dennoch unterhalten wir uns im Alltag problemlos. Wir passen uns offenbar, meist ohne Schwierigkeiten, an das Sprachsignal unseres Gegenübers an. In unserer Studie fanden wir einen neurobiologischen Mechanismus, der es dem Gehirn ermöglicht, Sprache in verschiedenen Schnelligkeiten zu verstehen: Die Gehirnströme des Zuhörers passen sich dem Sprachrhythmus des Gegenübers an und beeinflussen so, wie die Wörter im Sprachsignal verstanden werden.

Sprache ist äußerst vielfältig

Sprache wird mit unterschiedlicher Schnelligkeit gesprochen. Gut verständliche Sprechgeschwindigkeiten variieren von 3 zu 8 Silben pro Minute. Während einer Unterhaltung muss sich der Hörer also auf die Sprechgeschwindigkeit seines Gesprächspartners einstellen. Das wird dadurch erschwert, dass viele phonologische Unterschiede von der Dauer eines Klanges abhängen. Ob man zum Beispiel das Wort “Ratte” oder das Wort “Rate” hört, hängt von der Länge des ersten Vokales ab: Wenn das /a/ kurz ist, dann hört man “Ratte”, wenn das /a:/ lang ist, dann hört man “Rate”. Doch die Vokallänge ist ein relatives Merkmal, sie wird erst im sprachlichen Zusammenhang wirklich informativ. Das lange /a:/ in “Rate” kann, bei hohem Sprechtempo, kürzer ausfallen als das kurze /a/ in “Ratte” bei langsamerem Sprechtempo. Wie können Hörer die gesprochenen Vokale korrekt verstehen, obwohl das Sprechtempo so unterschiedlich sein kann?

Das Sprechtempo beeinflusst die Vokale, die wir hören

In unserer Studie [1] gaben wir Niederländischen Probanden schnell und langsam gesprochene Sätze zu hören, die am Ende zu einem neutralen Sprechtempo wechselten (Abb. 1). Nach dem Tempowechsel wurden in neutralem Sprechtempo zweideutige Wörter präsentiert, deren Vokale genau „auf halber Strecke“ zwischen einem kurzen /a/ und einem langen /a:/ lagen (zum Beispiel mittig zwischen dem Niederländischen “tak” /tak/ (Zweig) mit kurzem /a/ und “taak” /ta:k/ (Aufgabe) mit langem /a:/). Die Probanden sollten angeben, welches der beiden Wörter sie verstanden hatten (“tak” =Zweig, oder “taak” =Aufgabe). Wie erwartet beeinflusste das Sprechtempo des Satzes, wie der Vokal wahrgenommen wurde: Ein und derselbe Vokal klang am Ende von schnellen Sätzen eher lang und am Ende von langsamen Sätzen eher kurz (Abb. 2).

Gehirnströme synchronisieren sich mit dem Sprechtempo

Während unsere Probanden die schnellen und langsamen Sätze hörten, maßen wir ihre Gehirnströme  mittels Magnetoenzephalographie (MEG). Hier zeigte sich, dass sich die Gehirnströme mit dem Sprechtempo des Satzanfanges synchronisierten: Wenn das Sprechtempo langsam war, dann oszillierten die Gehirnströme ebenfalls in einer niedrigen Frequenz, und wenn das Sprechtempo schneller war, dann oszillierten die Gehirnströme in einer höheren Frequenz.

Doch der Befund, dass das Gehirn der Probanden sich mit dem Sprechtempo am Satzanfang synchronisierte, lieferte noch keinen Beweis dafür, dass diese Gehirnströme auch tatsächlich die Sprachwahrnehmung beeinflussen. Um dies zu bestimmen, untersuchten wir die Gehirnströme der Probanden nach dem Wechsel des Sprechtempos genauer. 

Hier machten wir eine interessante Entdeckung: Am Satzende (wo das Sprechtempo immer neutral war), oszillierten die Gehirnströme schnell oder langsam weiter – je nachdem, ob die Probanden vorher einen schnellen oder langsamen Satzanfang gehört hatten. Das Gehirn nutzt also das wahrgenommene Sprechtempo eines Satzes, um die nächsten Wörter „vorherzusagen“ (Abb. 2, B). Je mehr die Probanden die langsamen oder schnellen Oszillationen beibehielten, desto deutlicher wurde auch ihre Wahrnehmung des Vokals (Abb. 2, C).

Jemandem zuhören ist wie Fahrradfahren

Unser Experiment zeigt zum ersten Mal, dass Gehirnströme, die sich in ihrer Frequenz dem Sprechtempo angepasst haben, noch eine Weile anhalten, nachdem sich das Tempo geändert hat. Man kann sich diese Funktion in gewisser Weise wie ein Fahrrad vorstellen: Die Räder drehen sich proportional zum Tempo des Radlers, der in die Pedale tritt. Wenn der Radler plötzlich aufhört zu treten, drehen sich die Räder noch etwas weiter – je nachdem, wie schnell oder langsam der Radler vorher in die Pedale getreten hat. Unsere Studie liefert außerdem den ersten Beweis dafür, dass diese anhaltenden Gehirnströme direkt die Wahrnehmung von Sprachlauten beeinflussen. Schnelle Gehirnströme führen zu einer hohen Dichtheit der Informationsverarbeitung (perceptual sampling), wodurch Hörer die Länge eines wahrgenommenen Vokales eher „überbewerten“. Umgekehrt führen langsamere Gehirnströme zu einer eher spärlichen Informationsverarbeitung, wodurch Hörer dazu neigen, die Vokallänge zu „unterschätzen“.

Insgesamt legen unsere Befunde also nahe, dass die neurale Verfolgung der Sprachdynamik nicht nur eine Begleiterscheinung des Sprachverstehens ist, sondern einen wichtigen Mechanismus darstellt. Die anhaltende Gleichschaltung zwischen Gehirnströmen und Sprechtempo hilft uns, die Länge zukünftiger Sprachlaute vorherzusagen, was wiederum beeinflusst, wie wir Wörter verarbeiten und verstehen. Über diesen neuralen Sprachverfolgungs-Mechanismus bewältigen wir die Verarbeitung der Variation im Sprechtempo: Unser Gehirn synchronisiert sich mit dem Sprachrhythmus des Sprechers und passt die vorhergesagten Sprachlaute dem bereits gehörten Sprechtempo an.

Derzeit erforschen wir, ob die Wahrnehmung von Wörtern mittels transkranieller Stimulation des Gehirns beeinflussbar ist. Damit könnten diese Erkenntnisse zukünftig helfen, die Sprachwahrnehmung gezielt zu verändern, zum Beispiel, um ungünstige Hörbedingungen auszugleichen oder Hörgeschädigten das Hören zu erleichtern.

Literaturhinweise

[1] Kösem, A.; Bosker, H. R.; Takashima, A.; Jensen, O.; Meyer, A.; Hagoort, P.
Neural entrainment determines the words we hear
Current Biology 28, 2867–2875 (2018)

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