Form ist Funktion

Flüssigkeitsähnliches Verhalten von Gewebe ist ein Schlüsselprinzip für die Entstehung von Formen in biologischen Systemen

Forscher am Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung in Potsdam haben gezeigt, dass sich wachsendes Knochengewebe auf langen Zeitskalen wie eine viskose Flüssigkeit verhält und dadurch Formen mit minimaler Oberfläche annimmt. Dieses Verhalten der Zellen bestimmt die Form des Gewebes, wenn es auf ein Gerüst aufwächst.

Eine besondere Stärke und gleichzeitig faszinierende Eigenschaft lebender Systeme ist ihre Anpassungsfähigkeit an sich verändernde Umweltbedingungen. Diese Fähigkeit besitzt auch der menschliche Knochen. Dieser wird laufend durch An- und Abbau kleiner Knochenpakete erneuert. Dieser Umbauprozess wird nach mechanischen Prinzipien über einen Regelkreis kontrolliert. Dadurch besitzt Knochen die Fähigkeit sich ändernden mechanischen Anforderungen anzupassen. Als Reaktion auf veränderte mechanische Belastungen, etwa durch regelmäßige Sportaktivitäten, ändert der Knochen seine Struktur und passt seine innere Form an. Unter welchen Bedingungen sich Knochengewebe bestmöglich züchten lässt, hat John Dunlop, ehemaliger Arbeitsgruppenleiter am Potsdamer Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung und jetzt Professor für Biophysik an der Universität Salzburg mit seinem Team untersucht.

Biologische Strukturen werden von Zellen erzeugt, die viel kleiner sind als die entstehende Form. Die Zellen sind sogar dazu in der Lage die Krümmung einer Oberfläche zu ertasten, die viel größer ist als sie selbst. Doch wie gelingt es den Zellen, komplexe makroskopische Formen zu erzeugen oder bei der Knochenheilung die ursprüngliche Form wiederherzustellen? „Eine partielle Antwort auf diese Frage könnte die Erkenntnis aus dieser Arbeit sein, dass Zellen Oberflächenenergie für die Formbildung nutzen, auf ähnliche Weise wie komplexe Gebilde auf Grund der Oberflächenenergie aus Seifenblasen entstehen können.“ sagt Peter Fratzl, Direktor am Potsdamer Max-Planck-Institut und Koautor der Studie, an der auch Forscher von der Berliner Charité, aus Würzburg, aus Dresden und von der Montanuniversität Leoben beteiligt waren.

Formen mit konstanter mittlerer Krümmung

Die Forscher konnten zeigen, dass Gewebe, das auf gekrümmten Oberflächen wächst, Formen mit Außengrenzen konstanter mittlerer Krümmung entwickelt. Diese ähneln sehr stark Formen von Flüssigkeitstropfen, die eine minimale Oberfläche annehmen. Als Substrate für das Zell- und Gewebewachstum dienten gekrümmte Oberflächen aus Kunststoff, die Sebastian Ehrig während seiner Doktorarbeit herstellte. Dabei wurde ein flüssiges Polymer verwendet, das sich bei hohen Temperaturen verfestigt und mit dem Substrat mit unterschiedlichen Geometrien hergestellt wurde, auf denen die Zellen wachsen und neues Gewebe bilden konnten. Die Menge des gebildeten Gewebes hing dabei von der Form des Substrats ab. Dabei fiel auf, dass auf stark konkaven Oberflächen mehr Gewebe gebildet wurde, was auf einen mechanisch induzierten biologischen Rückkopplungsmechanismus hinweist.

Durch Hemmung der Zellkontraktilität konnte nachgewiesen werden, dass aktive Zellkräfte notwendig sind, um ausreichende Oberflächenspannungen für das flüssigkeitsähnliche Verhalten und das Wachstum des Gewebes zu erzeugen. „Dies legt nahe, dass die mechanische Signalübertragung zwischen Zellen und ihrer physischen Umgebung zusammen mit der kontinuierlichen Reorganisation von Zellen und Matrix ein Schlüsselprinzip für die Entstehung der Gewebeform ist“, unterstreicht Sebastian Ehrig, Erstautor und ehemaliger Doktorand am Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung, der jetzt am Max-Delbrück Center in Berlin forscht.

Chirale Strukturen

Mithilfe der Lichtblattmikroskopie konnten die Forscher Einblicke in die räumliche Gewebestruktur gewinnen, wobei eine weitere bemerkenswerte Entdeckung gemacht wurde: Die Zellen ordneten sich zu ausgedehnten chiralen Strukturen an, die sich spiralförmig um die Kapillarbrücken schlängelten. Ähnliche Strukturen findet man auch in Osteonen, die kleinste Funktionseinheit des Knochens. Ein Osteon entsteht, indem sich knochenbildende Zellen (Osteoblasten) konzentrisch in vier bis 20 Schichten um ein Blutgefäß lagern, einmauern und zu Lamellenknochen werden.

Die hier vorgelegte Publikation legt nahe, dass flüssigkeitsähnliches Gewebeverhalten ein Schlüsselprinzip für die Entstehung von Formen in biologischen Systemen ist. Dies könnte weitreichende Konsequenzen haben im Hinblick auf das Verständnis von Heilungsprozessen und der Organentwicklung und auch für medizinische Anwendungen wie der Entwicklung von Implantaten relevant sein.

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