Detaillierte anatomische Karte neuronaler Netzwerke des Gehirns erstellt

Die neuen Forschungsergebnisse bilden die Grundlage computergestützter Studien des gesunden und kranken Gehirns

12. Oktober 2010

In drei in engem Zusammenhang stehenden Untersuchungen haben Forscher am Max-Planck-Institut in Florida eine der bisher umfassendsten Analysen der Detailstruktur eines wesentlichen Bestandteils neuronaler Netzwerke des Gehirns vorgelegt: der „kortikalen Säule“ der Großhirnrinde. Die drei Studien schafften es auf die Titelseite der Oktoberausgabe der Fachzeitschrift Cerebral Cortex (Band 20, Heft 10). In derselben Ausgabe erschien ein Sonderkommentar von Edward G. Jones von der Universität von Kalifornien und Pasko Rakic von der Medizinischen Fakultät der Universität Yale.

Die extrem genaue Analyse umfasst eine anatomische Übersicht der genauen Abmessungen sowie der Anzahl, Verteilung und Art der Nervenzellen (Neuronen) in einer normalen kortikalen Säule. Darüber hinaus werden die vom Thalamus ausgehenden sensorischen Eingänge in eine Säule exakt vermessen. Die quantitative und räumliche Vermessung der neuronalen Netzwerke des Gehirns ist eine der wichtigsten Aufgaben der Neurowissenschaft und einer der unerlässlichen Schritte auf dem Weg zu einem Verständnis der Funktionsweise des Gehirns. Die Ergebnisse der drei Studien ermöglichen die Erstellung komplexer Computermodelle der neuronalen Netzwerke in kortikalen Säulen und stellen einen wichtigen Zwischenschritt auf dem Weg zu einer Abbildung der neuronalen Netzwerke des gesamten Gehirns dar.

„Wir erforschen die an der Verarbeitung sensorischer Reize beteiligten neuronalen Netzwerke in der Hirnrinde von Tieren, um zu verstehen, wie das Gehirn arbeitet“, berichtet Hanno-Sebastian Meyer, ein Forscher an der Abteilung für Digitale Neuroanatomie am Max Planck Florida Institut und der Erstautor von zwei der Studien. “Wir haben die Netzwerke ausgewählt, die im Gehirn von Nagetieren funktional mit den zum Tasten verwendeten Barthaaren verbunden sind. Letztendlich werden wir mit unseren Daten in der Lage sein, ein Computermodell dieses Systems zu erstellen. Die Ergebnisse der nun veröffentlichten Arbeiten stellen den ersten wichtigen Schritt dar.“

Während in früheren Studien die Bedeutung einer detaillierten Rekonstruktion der neuronalen Netzwerke in Säulen oft nicht gewürdigt wurde oder mit herkömmlichen Methoden nicht möglich war, gewähren diese Untersuchungen einen wichtigen quantitativen Blick auf diese archetypischen Strukturen der Großhirnrinde. Obwohl sie an Tiermodellen durchgeführt wurde, eröffnet die Rekonstruktion dieser neuronalen Netzwerke eine Vielzahl neuer Perspektiven. So versprechen sich die Forscher ein besseres Verständnis davon, welche Veränderungen in der Netzwerkarchitektur mit sensorischen und kognitiven Anomalien einhergehen.

Ein quantitativer Ansatz

Weite Teile der Großhirnrinde, welche eine zentrale Rolle z.B. bei der sinnlichen Wahrnehmung, Gedächtnisfunktionen und der Sprache spielt, bestehen aus sechs horizontalen Nervenzellschichten. Die Nervenzellen sind in vertikalen Säulen funktionell und strukturell organisiert. Bei der Stimulation sensorischer Organge (z.B. beim Ablenken eines Barthaares) werden in den für die Verarbeitung sensorischer Reize zuständigen Teilen der Hirnrinde (im Fall der Tasthaare ist dies die „somatosensorische“ Hirnrinde) zuerst Neuronen aktiv, die in derselben Säule liegen. Diese Säulen lassen sich den sensorischen Organen direkt „eins zu eins“ zuordnen – so gibt es bei Nagetieren für jedes Barthaar eine „zuständige“ Säule. Deshalb geht man davon aus, dass die neuronalen Netzwerke in diesen Säulen an der primären Verarbeitung der von den Sinnesorganen eingehenden Daten wesentlich beteiligt sind. Der Thalamus, eine Ansammlung von Nervenzellen in der Nähe der Mitte des Gehirns, ist eine Zwischenstation für die sensorischen Reize (Gesichts-, Hör- und Berührungssinn): Er leitet die Information an die entsprechenden Säulen in sensorischen Bereichen der Hirnrinde weiter.

Der vielleicht vielversprechendste Aspekt der neuen Untersuchungen, so heißt es im Kommentar zu den Arbeiten, sei die von den Forschern gewählte quantitative Methode. Diese Vorgehensweise beinhaltete die sorgfältige und aufwendige Lokalisierung aller Neuronen in identifizierten Säulen der somatosensorischen Hirnrinde. Die Anzahl (ca. 19.000) und dreidimensionale Verteilung der Nervenzellen in einer Säule konnte so ermittelt werden.

Die Forscher seien überrascht gewesen, in den einzelnen Säulen eine so große Anzahl von Neuronen zu finden, so Meyer. Bisher wurde angenommen, dass die Zahl eher bei etwa 10.000 liege – was also der Hälfte des tatsächlichen Wertes entspricht. „Es ist offensichtlich, dass die genaue Kenntnis der Anzahl und der Verteilung der Neuronen erforderlich ist, wenn man exakte computerbasierte Modelle erstellen will.“

Kartierung neuronaler Netzwerke

Um die Anzahl und Verteilung sämtlicher Neuronen in kompletten Säulen quantitativ zu erfassen, markierten die Forscher die Neuronen mit fluoreszierenden Chemikalien, die mit hochentwickelten Mikroskopietechniken sichtbar gemacht werden konnten.

Die Ortsbestimmung der einzelnen Neuronen erfolgte zunächst von Hand, wobei zur Visualisierung und Markierung der Neuronen spezielle Software eingesetzt wurde.

„Wir haben innerhalb von zwei Jahren sämtliche Neuronen in drei Säulen und den angrenzenden Bereichen manuell markiert und die Anzahl und Verteilung in den Säulen bestimmt“, sagte Meyer. „Während dieses Vorgehens haben wir viele Terabyte an Bilddaten dieser Hirnabschnitte gewonnen und mehr als 100.000 Neuronen markiert. Diese manuell gesammelten Daten werden der Ausgangspunkt für die künftige Entwicklung von Algorithmen zur automatischen Lokalisierung sein.“

Das Ergebnis dieser Bilderfassung, Lokalisierung und Analyse ist ein riesiger Fundus von Daten über die Struktur der kortikalen Säulen. In Kombination mit Messungen der Aktivität einzelner Neuronen erlaubt dies den Wissenschaftlern, den potentiellen Output einer normalen kortikalen Säule mit bisher unerreichter Genauigkeit abzuschätzen: ca. 4400 Signale werden von den Nervenzellen in den verschiedenen Schichten innerhalb von 100 Millisekunden nach dem Ablenken eines Barthaars emittiert.

Die Arbeiten umfassten auch die Quantifizierung der vom Thalamus stammenden Kontakte, welche die verschiedenen Nervenzelltypen in einer Säule erhalten. Diese Ergebnisse liefern die anatomische Grundlage für funktionelle Messungen auf der Ebene einzelner Nervenzellen.

„Durch die Kombination funktionaler Daten mit unserem neuen Wissen über die Anatomie können wir die Input- und Outputsignale in einer kortikalen Säule bei Berührung eines Barthaares abschätzen und besser verstehen“, sagte Meyer. „Auch hier ist die Exaktheit unserer quantitativen Vorgehensweise für die Erstellung eines zuverlässigen Computermodells von entscheidender Bedeutung.“

In ihren künftigen Forschungen werden Meyer und seine Kollegen dazu übergehen, Methoden zu entwickeln, mit denen sich schließlich eine Karte des gesamten Nagetierhirns erstellen lassen wird. „Wir wollen die Struktur der übrigen Säulen in der sensorischen Hirnrinde erfassen", sagte Meyer. „Anschließend werden wir unter anderem die Gehirne von Mäusen, die an Alzheimer erkranktet sind, analysieren, um festzustellen, was mit den neuronalen Netzwerken in den Frühstadien dieser Krankheit geschieht.“ Die Analyse der zellulären Struktur kompletter Gehirne ist zwar noch recht weit entfernt, aber die Forscher sind auf dem Weg dahin.

„Die Kartierung neuronaler Netzwerke kompletter Hirnareale und letztendlich des gesamten Gehirns auf Einzelzellebene ist ein so umfangreiches Projekt, dass wir uns überlegen müssen, wie es in großem Maßstab durchgeführt werden kann, ähnlich wie man es beim menschlichen Genomerfolgreich vorgeführt hat", sagte er.

Die Gruppe für Digitale Neuroanatomie am Max-Planck-Institut in Florida wird von Bert Sakmann, MD, Ph.D. geleitet, der zusammen mit dem Physiker Erwin Neher 1991 den Nobelpreis für Medizin erhielt. Die Gruppe konzentriert sich auf die Erforschung der funktionalen Anatomie neuronaler Netzwerke in der Großhirnrinde. Sie stellen die neuronale Grundlage einfacher Verhaltensweisen dar, wie etwa das Treffen von Entscheidungen. Diese Forschungen erfordern den Einsatz umfangreicher, hochauflösender Mikroskopietechniken, um die Einzelstrukturen, Positionen und synaptischen Verbindungen verschiedener Neuronentypen in großen Volumina zu rekonstruieren. Möglicherweise wird dies schließlich die Teile des Netzwerkes enthüllen, welche sensorisch ausgelöstes Verhalten steuern, und zu neuen Entdeckungen über Lernvorgänge im Gehirn führen.

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