Forschungsbericht 2010 - Max-Planck-Institut für Physik

Experimentelle Teilchenphysik bei hoechsten Energien – Das ATLAS Experiment am Large Hadron Collider

Autoren
Barillari, T.;Beimforde, M.; Bethke, S.; Bittner, B.; Bronner, J.; Capriotti, D.; Cortiana, G.; Dannheim, D.; Dubbert, J.; Ehrich, T.; Flowerdew, M.; Giovannini, P.; Goblirsch, M.; Göttfert, T.; Groh, M.; Haefner, P.; Jantsch, A.; Kaiser, S.; Kiryunin, A.; Kluth, S.; Kortner, O.; Kortner, S.; Kotov, S.; Kroha, H.; Macchiolo, A.; Menke, S.; Moser, H.-G.;  Nagel, M.; Nisius, R.; Oberlack, H.; Pospelov, G.; Pataraia, S.; Potrap, I.; Richter, R.; Salihagic, D.; Schacht, P.; Schwegler, P.; Seuster, R.; Stern, S.; Stonjek, S.; Vanadia, M.; von der Schmitt, H.; von Loeben, J.; Weigell, P.; Zhuravlov, V.
Abteilungen
Max-Planck-Institut für Physik, München
Zusammenfassung
Das ATLAS-Experiment am LHC-Beschleuniger zeichnet Teilchenreaktionen in Proton-Proton-Stößen bei den höchsten je von Menschenhand erzeugten Kollisionsenergien von 7 TeV auf. Ziel ist es, die derzeitigen Theorien der Teilchenphysik – zusammengefasst im Standardmodell – zu verifizieren, und neue Phänomene zu entdecken. So hat die Suche nach dem Higgs-Boson begonnen, dem letzten noch nicht entdeckten Baustein des Standardmodells. Mit den Daten aus diesem und dem nächsten Jahr könnte das Higgs-Boson bereits gefunden werden.

Einleitung

Der ATLAS-Detektor ist einer von zwei Vielzweckdetektoren am Proton-Proton-Beschleunigerring "Large Hadron Collider" (LHC) am Forschungszentrum CERN in Genf. Mit einer Länge von ca. 46 m und einem Durchmesser von ca. 25 m ist ATLAS der größte Detektor, der bisher in der Beschleuniger-Teilchenphysik in Betrieb genommen wurde. Er wurde von einer internationalen Kollaboration, bestehend aus ca. 3000 Wissenschaftlern aus 184 Instituten und Forschungseinrichtungen aus 40 Ländern, konzipiert und gebaut. Seit März 2010 werden mit dem ATLAS-Detektor Daten von Protonstößen bei einer Schwerpunktsenergie von 7 TeV gemessen. Bei dieser Energie soll ATLAS noch bis Ende 2012 Daten nehmen. Es ist geplant, den Beschleuniger dann für eine Schwerpunktsenergie von 14 TeV vorzubereiten.

Der LHC erreicht damit Energien, die der Beschleuniger-Teilchenphysik bisher verschlossen waren. Zusätzlich ist der LHC in der Lage, bei hohen Energien große Teilchendichten am Kollisionspunkt zu liefern. Beides ist notwendig, da die Prozesse bisher nicht erforschter Physik voraussichtlich in geringer Häufigkeit stattfinden werden (geringer Wirkungsquerschnitt). Diese seltenen Prozesse im bisher nicht messbaren Energiebereich werden neue Einsichten in den inneren Aufbau der Materie sowie in die Struktur und die frühe Entwicklungsphase des Universums liefern.

Interessante Ergebnisse werden erwartet bei der Untersuchung der Frage nach der Erzeugung der Massen der Teilchen. Das Standardmodell der Teilchenphysik beschreibt die meisten der bisher in der Teilchenphysik beobachteten Phänomene sehr gut. Allerdings ist das Standardmodell in seiner ursprünglichen Form nur für ruhemasselose Teilchen formuliert. Um die Massen der Teilchen im Rahmen des Standardmodells korrekt beschreiben zu können, muss man dieses erweitern. Diese Erweiterung verlangt allerdings die Existenz mindestens eines weiteren, bisher unentdeckten Teilchens, des Higgs-Bosons.

Weiterhin wird der ATLAS-Detektor in der Lage sein zu klären, ob es eine "Physik jenseits des Standardmodells" gibt, und ob alternative Lösungen oder Erweiterungen des Standardmodells in der Natur realisiert sind: So wird z. B. im Rahmen der Supersymmetrie (SUSY) postuliert, dass es zu jedem bekannten Boson (Teilchen mit ganzzahligem Spin) im Standardmodell ein komplementäres, bisher unentdecktes Fermion (Teilchen mit halbzahligem Spin) und zu jedem Fermion ein komplementäres Boson gibt. Die Supersymmetrie bietet auch eine Erklärung für den Ursprung der sogenannten Dunklen Materie, welche als astrophysikalisches Phänomen etabliert, aber bisher in seiner physikalischen Ursache vollkommen ungeklärt ist. Weitere Erweiterungen des Standardmodells der Teilchenphysik sagen bisher unentdeckte Phänomene wie die Existenz höherer Raumdimensionen vorher mit z. T. spektakulären Signaturen Neuer Physik, wie z. B. der Existenz submikroskopischer Schwarzer Löcher. Die Teilchendetektoren am LHC sind sehr gut geeignet, in absehbarer Zukunft diese Fragen zu beantworten.

Der ATLAS-Detektor

Der ATLAS-Detektor (Abb. 1) besteht aus mehreren konzentrischen Lagen verschiedener Detektortypen. Jede Lage ist zylinderförmig aufgebaut, mit Endkappen an beiden Enden. Von innen nach außen messen die Detektoren Richtung und Impuls geladener Teilchen, Energie und Richtung von Photonen, Elektronen und Hadronen-Jets, sowie Richtung und Impuls von Myonen.

Neueste, strahlenharte Technologien mit hervorragender Orts- und Energieauflösung und extrem hoher Zuverlässigkeit sind unabdingbare Voraussetzungen für Präzisionsmessungen am LHC.

Die Kollisionsrate der Protonenbündel von 40 MHz stellt extreme Anforderungen an den Trigger, der elektronischen Auswahl der in diesem Datenstrom versteckten, physikalisch interessanten Kollisionsereignisse. Die primäre Triggerrate beträgt mehr als 100 kHz. Sie wird in mehreren Stufen auf ein für die Datenauslese akzeptables Niveau von etwa 200 Hz reduziert.

Der zentrale Spurdetektor mit einer Länge von 6,9 m und einem Durchmesser von 2,3 m befindet sich in einem supraleitenden Solenoidmagneten von 2 Tesla Feldstärke. Die innersten drei Lagen sind als Silizium-Pixeldetektor ausgeführt, gefolgt von weiteren vier zylindrischen Lagen eines Silizium-Streifendetektors. Daran schließt sich ein Gasspurdetektor an, bestehend aus 36 Lagen von Driftrohren. Insgesamt wird damit eine Impulsauflösung von etwa 10% bei einem Impuls von 100 GeV erreicht.

Das elektromagnetische Kalorimeter basiert auf flüssigem Argon als aktivem Material. Daran schließt sich ein hadronisches Eisen-Szintillator-Kalorimeter im zentralen und äußeren Vorwärtsbereich an. Um die notwendige Strahlenhärte zu garantieren, wurde bei den Endkappen wieder die Flüssig-Argon-Technologie gewählt.

Das Myonspektrometer wird von drei Lagen von Myonkammern gebildet, die aus jeweils mehreren Lagen von gasgefüllten Driftrohren bestehen und sich in einem mittleren Magnetfeld von 0,4 Tesla befinden, das von acht supraleitenden Toroidspulen erzeugt wird. Die Messgenauigkeit einer Myonenkammer beträgt 30 Mikrometer, was eine Impulsauflösung für Myonen von etwa 10% bei 1 TeV/c Impuls ermöglicht.

Die Datenverarbeitung für das ATLAS-Experiment erfordert wegen der enorm großen Datenmengen von mehren Petabyte (1015 Byte) pro Jahr neue Methoden. Die Daten werden weltweit auf bis zu 100 Rechenzentren verteilt und prozessiert, wobei die effiziente Organisation der Datenverarbeitung mit der Technik des Grid-Computing gewährleistet wird.

Das Max-Planck-Institut für Physik ist eines der größten der international 184 an ATLAS beteiligten Institute; es ist an vier Sub-Detektor-Projekten beteiligt: dem Silizium-Streifendetektor, dem hadronischen Endkappenkalorimeter, den Myonkammern und dem Aufbau eines Tier-2 Rechenzentrums in Garching, im Rahmen des World-Wide LHC Computing Grid. Konzeption und Bau der Detektorelemente, die Kalibrierung sowie die Vorbereitung der Rekonstruktions- und Analysesoftware und die physikalische Datenanalyse sind die wesentlichen Verantwortlichkeiten des Instituts.

Die ersten Resultate

Das Hauptziel des ATLAS-Experiments ist die Suche nach dem Higgs-Boson sowie nach den supersymmetrischen Partnern der Teilchen des Standardmodells und anderen neuen Phänomenen. Das Institut ist an diesen für die Zukunft der Teilchenphysik entscheidenden Untersuchungen maßgeblich beteiligt.

Eine Grundvoraussetzung für den Nachweis neuer Teilchen ist ein genaues Verständnis der vom Standardmodell vorhergesagten Prozesse in dem neuen Energiebereich des LHC. Die bekannten Teilchen des Standardmodells, insbesondere die schweren Eichbosonen W und Z der schwachen Wechselwirkung sowie das schwerste der Quarks, das top-Quark, wurden im ersten Jahr des LHC-Betriebs mit dem ATLAS-Detektor wiederentdeckt. Die Vorhersagen des Standardmodells wurden bei den bisher höchsten Energien hervorragend bestätigt. Das Spektrum der invarianten Masse von Paaren entgegengesetzt geladener Myonen in Abbildung 2 mit zahlreichen Resonanzen bekannter Teilchen illustriert dies eindrucksvoll. Abbildung 3 zeigt ein typisches Bild des Detektors mit Daten eines Ereignisses mit einem Myonenpaar.

Auf dieser Grundlage konnten bereits wichtige Ausschlussgrenzen für neue mögliche Prozesse gesetzt werden. So wurden zum Beispiel angeregte Quarkzustände, die auf eine bisher unbekannte Substruktur der Quarks zurückzuführen wären, bei Massen unterhalb von 1,53 TeV/c2 ausgeschlossen. Neue schwere W-Bosonen (W’) müssen nach den neuesten ATLAS-Messungen schwerer als 1,49 TeV/c2 sein. Schließlich dürfen die supersymmetrischen Partnerteilchen der Quarks (Squarks) nicht leichter als etwa 775 GeV/c2 sein.

Mit den in diesem (2011) und im nächsten Jahr erwarteten Daten entsteht bereits die Möglichkeit, das Higgs-Boson und erste supersymmetrische Teilchen zu entdecken.

Messung elektroschwacher Eichbosonen

Die Messung der Wirkungsquerschnitte der Erzeugung der elektroschwachen Eichbosonen W und Z in Proton-Proton-Kollisionen ist ein erster wichtiger Test der Vorhersagen des Standardmodells im neuen Energiebereich, den der LHC eröffnet. Abbildung 4 vergleicht die von ATLAS gemessenen Erzeugungsraten für W- und Z-Bosonen mit theoretischen Vorhersagen und Messungen anderer Experimente bei niedrigeren Schwerpunktsenergien. Die rote durchgezogene Linie zeigt links die Vorhersage für die W-Produktion und rechts für die Z-Produktion als Funktion der Schwerpunktsenergie in Proton-Proton-Kollisionen. Die roten Punkte stellen die zugehörigen Ergebnisse des ATLAS-Experimentes dar, welche die theoretischen Vorhersagen bestätigen, die auch im Einklang mit den Messungen der anderen LHC-Experimente stehen.

Die ATLAS-Gruppe am Institut beschäftigt sich neben diesen Messungen auch mit der Untersuchung der Erzeugung von W- und Z-Bosonen in Begleitung hochenergetischer Hadronen-Jets.

Messung des top-Quarks

Im Institut wird auch die Produktion von top-antitop Quark-Paaren (t-Paaren) im Detail untersucht. Das top-Quark ist das schwerste der sechs bekannten Quarks, es hat in etwa die Masse eines Goldatoms. Aufgrund dieser Tatsache hat das top-Quark sehr spezielle Eigenschaften, insbesondere ist es das einzige Quark, das in ungebundenem Zustand zerfällt.

Im Standardmodell erfolgt der Zerfall fast immer in ein W-Boson und ein bottom-Quark (b-Quark). Das antitop-Quark zerfällt in die entsprechenden Antiteilchen. Das W-Boson zerfällt dann in bekannter Weise in ein Lepton- oder Quarkpaar. Die Flugrichtung und Energie dieser Quarks manifestiert sich im ATLAS-Detektor in den Eigenschaften von engen Bündeln von Hadronen, den sogenannten Jets. Somit ist die experimentelle Signatur eines top-Quarks ein Jet, hervorgegangen aus einem b-Quark (b-Jet) und entweder einem Lepton-Paar oder einem Jet-Paar von den leichten Quarks (q-Jets).

Abbildung 5 zeigt ein in 2010 mit dem ATLAS-Detektor aufgezeichnetes Ereignis, bei dem (sehr wahrscheinlich) ein top-antitop Quark-Paar in der Proton-Proton Kollision erzeugt wurde. Der Zerfall eines der beiden top-Quarks wird im Detektor in einem rekonstruierten Jet sowie einem Elektron und fehlender transversaler Energie (Signatur des Neutrino) sichtbar, während der Zerfall des anderen top-Quarks sich in drei rekonstruierten Jets manifestiert. Das Elektron wurde als die hochenergetische, einzelne und nach unten gehende Spur im zentralen Spurdetektor, die mit einem räumlich kompakten Cluster im elektromagnetischen Kalorimeter verbunden ist, nachgewiesen. Die gestrichelte Linie zeigt die Richtung fehlender Energie in transversaler Richtung zum Strahl, d. h. der Energie, die zur Erhaltung von Impuls und Energie in transversaler Richtung notwendig ist.

Der Wirkungsquerschnitt für die Produktion von top-antitop Quark-Paaren in Proton-Proton-Kollisionen mit einer Schwerpunktsenergie von 7 TeV wurde von ATLAS mit einer anfänglichen Genauigkeit von 32% gemessen. Die Vorhersage des Standardmodells ist in Übereinstimmung mit dieser Messung. Für diese Messung ist ein vollständig funktionsfähiges Experiment unabdingbar, da präzise Informationen aus dem inneren Detektor, dem Kalorimeter und dem Myonsystem sowie dem Trigger zur Durchführung notwendig sind. Die Messung ist noch relativ ungenau, weil die Menge der bisher aufgezeichneten Daten gering und das Experiment noch nicht vollständig kalibriert ist. Die Messung zeigt überzeugend, dass das Experiment wie vorgesehen funktioniert.

Abbildung 6 zeigt die ATLAS-Messung des Wirkungsquerschnitts für die Produktion von top-antitop-Paaren in Proton-Proton-Kollisionen bei 7 TeV. Sie wird verglichen mit Messungen anderer Experimente bei niedrigeren Schwerpunktsenergien (CDF, D0) und am LHC (CMS) sowie mit theoretischen Vorhersagen. Das blaue Band zeigt die Vorhersage für Proton-Proton-Kollisionen, die mit den Messungen am LHC übereinstimmt. Das gelbe Band zeigt die Vorhersage für Proton-Antiproton Kollisionen, die von den Experimenten CDF und D0 analysiert werden.

Andere Vorhersagen des Standardmodells für die Produktion von W- und Z-Bosonen sowie von Jets bei hohen Energien wurden auch von ATLAS mit den Daten von 2010 bestätigt. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass das ATLAS-Experiment das Standardmodell der Teilchenphysik am LHC wiederentdeckt und bei den hohen Energien des LHC validiert hat.

In der ATLAS-Gruppe am Institut werden zurzeit die gesamten Daten des Jahres 2010 analysiert. Dabei werden eine verbesserte Kalibration des Detektors sowie die größere Datenmenge im Vergleich zu den oben besprochenen Arbeiten zu einer deutlichen Reduktion der Fehler führen. Die Analysen umfassen eine genaue Messung der Masse des top-Quarks sowie Messungen der Produktion von W- und Z-Bososen.

Suche nach dem Higgs-Boson

Die Suche nach dem Higgs-Boson, das als einziger Baustein des Standardmodells bisher unentdeckt geblieben ist, ist eine wichtige Motivation für die LHC-Experimente. Die Masse des Higgs-Bosons wird von der Theorie nicht vorhergesagt, es darf aber nicht schwerer als etwa 1 TeV/c2 sein, wenn die Widerspruchsfreiheit der Theorie gewahrt werden soll. Die bisherige Suche nach diesem Teilchen an früheren Experimenten am LEP Speicherring setzt eine Massenuntergrenze von 115 GeV/c2, während die neuesten Analysen an den Experimenten am Tevatron-Beschleuniger in den USA einen weiteren Massenbereich zwischen 158 GeV/c2 und 175 GeV/c2 ausschließen.

Die Herausforderung an Detektortechnologie und Datenanalyse ist die Identifizierung der Higgs-Ereignisse in einem um viele Größenordnungen höheren Untergrund bekannter Prozesse, wie z. B. der W-, Z-, oder t-Produktion. Im Massenbereich zwischen 130 GeV/c2 und 200 GeV/c2 hat der Zerfall über zwei W-Bosonen in zwei geladene Leptonen und zwei Neutrinos (H→WW→lνlν) die größte Sensitivität. Die Suche nach dem Higgs-Boson in diesem Zerfallskanal erfolgte mit den gesamten Daten des Jahres 2010.

Abbildung 7 zeigt, welcher Wirkungsquerschnitt für die Higgs-Produktion durch den Prozess H→WW→lνlν relativ zur Erwartung des Standardmodells als Funktion der Higgs-Masse mit 95% Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist. Die schwarze Linie stellt die Messung dar, die Bänder die für die aufgezeichnete Datenmenge erwartete statistische Unsicherheit. Wenn das Verhältnis bei einer gegebenen Masse kleiner als 1 ist, bedeutet dies, dass es, mit der entsprechenden Wahrscheinlichkeit, kein Higgs-Boson mit dieser Masse gibt. Da die durchgezogene Linie stets oberhalb von 1 verläuft, hat ATLAS mit der bisherigen Datenmenge die Existenz des Higgs-Bosons noch bei keiner Masse ausschließen können.

Jedoch ist die bis zum Ende des Jahres 2011 erwartete Datenmenge groß genug, den Massenbereich des Higgs-Bosons stark einzuschränken. Falls keine konkreten Anzeichen für die Produktion von Higgs-Teilchen gesehen werden, können dann Higgsmassen zwischen etwa 130 GeV und 190 GeV ausgeschlossen werden. Durch Hinzunahme weiterer Higgs-Zerfallskanäle lässt sich das Massenintervall auf den Bereich von 125 GeV bis 500 GeV ausdehnen.

Die ATLAS-Gruppe am Institut beteiligt sich maßgeblich an der Higgs-Boson-Suche in den wichtigsten Zerfallskanälen.

Suche nach Teilchen von supersymmetrischen Theorien

Die Einführung einer neuen Symmetrie, der sogenannten Supersymmetrie zwischen Fermionen und Bosonen, ist die am meisten favorisierte Erweiterung des Standardmodells, die mit der Vorhersage neuer, supersymmetrischer Partnerteilchen zu jedem Teilchen des Standardmodells einhergeht. Sie liefert eine natürliche Erklärung für eine relativ niedrige erwartete Higgs-Bosonmasse unterhalb von 1 TeV/c2. Die supersymmetrischen Partnerteilchen könnten dann ebenfalls Massen unterhalb dieser Grenze besitzen und am LHC in hoher Rate erzeugt und untersucht werden.

In den favorisierten Modellen werden supersymmetrische Teilchen paarweise erzeugt und zerfallen in mehreren Stufen schließlich in das leichteste supersymmetrische Partnerteilchen (LSP), das stabil ist und nur schwach mit Materie wechselwirkt. Damit ist das LSP ein guter Kandidat für die Dunkle Materie im Universum, nach deren Ursprung seit langem gefahndet wird. Typische Signaturen für Erzeugung und Zerfall supersymmetrischer Teilchen im ATLAS-Detektor sind mehrere hochenergetische Jets und möglicherweise Leptonen aus den Kaskadenzerfällen sowie ein großer Fehlbetrag in der transversalen Energiebilanz der Prozesse.

Entscheidend für den Nachweis bzw. den Ausschluss der Supersymmetrie aufgrund dieser Signaturen ist das genaue Verständnis des Untergrunds von bekannten Prozessen des Standardmodells einschließlich der Detektoreffekte, die zum Beispiel fehlende Energie vorspiegeln können. Abbildung 8 zeigt die gute Übereinstimmung zwischen den Messungen und den Vorhersagen. Sie führt zu den in Abbildung 9 gezeigten Ausschlussgrenzen für die Massen der Squarks (supersymmetrische Partnerteilchen der Quarks) und Gluinos (supersymmetrische Partnerteilchen der Gluonen, der Eichbosonen der starken Wechselwirkung zwischen den Quarks). Hierbei sind die Massen links von den entsprechenden Linien ausgeschlossen.

Die von ATLAS erreichten Ausschlussgrenzen übertreffen die Ausschlussgrenzen aller bisherigen Experimente, einschließlich der am LHC, bei weitem. In den gängigen supersymmetrischen Modellen (MSUGRA/CMSSM) müssen die Squarks und Gluinos demnach, unter Annahme etwa gleicher Massen, schwerer als 775 GeV/c2 sein. Das Institut ist an diesen Untersuchungen maßgeblich beteiligt.

Mit den Daten der Jahre 2011 und 2012 werden die Ausschlussgrenzen noch erheblich verbessert und supersymmetrische Erweiterungen des Standardmodells, bis zu Energieskalen oberhalb 1 TeV, getestet. Die Entdeckung der Supersymmetrie oder anderer Erweiterungen des Standardmodells, und damit einer "Neuen Physik", ist somit in unmittelbarer Reichweite!

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