Das Erwachen einer neuen Kraft

Neu entdeckte physikalische Kraft trägt zur gesunden Entwicklung des Rotbraunen Reismehlkäfers bei

Jedes Leben hat seine Meilensteine. Lewis Wolpert, ein britischer Entwicklungsbiologe, scherzte einmal, dass nicht Geburt, Ehe oder Tod, sondern Gastrulation das wichtigste Ereignis im Leben sei. Bei der Gastrulation verwandelt sich die aus einer Zellschicht bestehende Keimblase – eine Hohlkugel aus Zellen – in ein mehrschichtiges Gebilde, die sogenannte Gastrula. Dabei formen physikalische Kräfte das embryonale Gewebe vielzelliger Organismen zu komplexen Bauplänen. Bei vielen Embryonen ist das gastrulierende Gewebe von einer festen Schutzhülle umgeben. Bisher war nicht bekannt, ob Wechselwirkungen zwischen dem lebenden Gewebe und der Schutzhülle zusätzliche Kräfte erzeugen, die die Gastrulation beeinflussen. Forscher des Max-Planck-Instituts für molekulare Zellbiologie und Genetik, des Biotechnologischen Zentrums der TU Dresden und des Exzellenzclusters „Physics of Life“ haben bei der Erforschung des Rotbraunen Reismehlkäfers nun herausgefunden, dass sich das lebende Gewebe zeitweise fest mit der Hülle verankert, die den Embryo umgibt. Diese Anbindung erzeugt zusätzliche externe Kräfte, die für die korrekte Gastrulationsbewegung erforderlich sind.

Die Gastrulation ist einer der meist untersuchten biologischen Prozesse. Während der Gastrulation gibt es im Embryo Gewebebewegungen und Faltungsvorgänge, die eine einfache Zellschicht in eine komplexe mehrschichtige Struktur namens Gastrula umwandeln. Diese Verwandlung wird vor allem durch physikalische Kräfte gesteuert, die im embryonalen Gewebe selbst erzeugt werden. Bei den meisten Tierarten läuft die Gastrulation innerhalb einer festen Schutzhülle ab, die den Embryo umgibt. Um herauszufinden, wie sich die Wechselwirkung zwischen dem lebenden Gewebe und der Innenseite der Schutzhülle auf die Gastrulation auswirkt, hat ein interdisziplinäres Dresdner Forscherteam diesen Prozess im Rotbraunen Reismehlkäfer Tribolium castaneum untersucht. In diesem Modellorganismus finden während der Gastrulation spektakulär komplexe Bewegungen des Gewebes statt. Die Forscher haben entdeckt, dass das Gewebe an einer bestimmten Stelle an der Schutzhülle zeitweise anhaftet und dass diese Fixierung zusätzliche externe Kräfte erzeugt, die zu den korrekten Gastrulationsbewegungen beitragen.

Die Forscher haben die Gewebebewegungen während der frühen Entwicklung von Tribolum und der Fruchtfliege Drosophila mit dem für Dresden typischen Ansatz untersucht, Theorie und Experiment zu kombinieren. Zunächst haben sie die dynamische Entwicklung des Reismehlkäfers mit modernster Light-Sheet-Mikroskopie sichtbar gemacht. Dann testeten  sie diese Messungen mit einer biophysikalischen Theorie. Das überraschende Ergebnis war, dass eine zusätzliche Kraft beteiligt sein musste. Nur so konnten die Gastrulationsbewegungen zu erklären sein. Aber um was genau konnte es sich dabei handeln? Stefan Münster, der Erstautor der Studie, erklärt die Entdeckung: „Wir haben festgestellt, dass die unbekannte Kraft von der Anhaftung des Gastrulationsgewebes an einer bestimmten Stelle der Schutzhülle ausgeht. Wir haben dann die molekularen Komponenten für diese Verbindung aufgespürt und gezeigt, dass diese auch bei den Gastrulationsbewegungen der Fruchtfliege Drosophila eine Rolle spielen.“

Neuer Mechanismus

Die Ergebnisse zeigen einen bisher unentdeckten Mechanismus, der zur physikalischen Umformung von Gewebe während der Entwicklung von Tieren beiträgt. Stefan Münster arbeitete gemeinsam mit dem Physiker Alexander Mietke und der Biologin Akanksha Jain an der theoretischen Modellentwicklung und der experimentellen Überprüfung des Befestigungsmechanismus. „Es war eine spannende Reise von der Physik zur Biologie und zurück“, sagt Stefan Münster, der mit einem Stipendium vom Center for Systems Biology Dresden gefördert wird. „Wir haben erstmals den Reismehlkäfer auf biophysikalische Art und Weise untersucht. Mit dem Blick auf diesen Käfer haben wir etwas Neues über die Bewegungen im Gewebe während der Gastrulation und dessen Verankerung in der Schutzhülle herausfinden können. Solange wir uns nur die Fruchtfliege angeschaut haben, ist uns diese Wechselwirkung und die Verankerung entgangen“, fasst Stefan Münster die Ergebnisse zusammen. Stephan Grill vom Max-Planck-Institut für molekulare Zelllbiologie und Genetik fügt hinzu: „Dresden ist ein idealer Ort, um eine solche Studie durchzuführen. Wir haben Biologen, die verschiedene Modellorganismen am Max-Planck-Institut untersuchen, und Theoretiker, die in der Lage sind, die Physik biologischer Prozesse am Center for Systems Biology Dresden in Modelle umzusetzen. An der TU Dresden gründen wir gerade ein neues Institut, das Exzellenzcluster ‚Physik des Lebens‘, welches sich mit solchen interdisziplinären Themen beschäftigt.“

Neben der Physik eröffnen diese Ergebnisse auch neue Sichtweisen darauf, wie sich die Gastrulation zwischen verschiedenen Arten entwickelt haben könnte. „Obwohl es sich um ein charakteristisches Ereignis der frühen Entwicklung handelt, das tonangebend für den Rest des Lebens ist, ist die Gastrulation sehr flexibel und selbst verwandte Arten zeigen sehr unterschiedliche Gastrulationsfaltungen und -bewegungen“, sagt Pavel Tomancak. „Wie und warum sich die Gastrulation so rasant entwickeln konnte, ist ein langjähriges Geheimnis der Evolutionsbiologie.“ Die Arbeit des Dresdner Teams deutet darauf hin, dass die lokale Wechselwirkung des lebenden Gewebes mit seiner schützenden Hülle ein Mechanismus sein kann, der dazu beiträgt, auf welch vielfältige Art und Weise sich Organismen entwickeln.

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