Peptid gegen Kannibalismus

Molekül schützt Fadenwurm-Larven vor dem Hunger der Eltern

4. April 2019

Ein Wurm, zu dessen bevorzugten Speisen ausgerechnet Wurmlarven zählen, muss höllisch aufpassen, dass er nicht aus Versehen den eigenen Nachwuchs verzehrt. Das gilt umso mehr, als optische Reize im Fall von Pristionchus pacificus keine Rolle spielen können – der Fadenwurm ist praktisch blind. Wie die winzigen, nur ein Millimeter langen Tiere es dennoch schaffen, eigene von fremden Larven zu unterscheiden und Kannibalismus zu vermeiden, haben Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Entwicklungsbiologie in Tübingen nun herausgefunden. Demnach erkennt Pristionchus seinen Nachwuchs mit Hilfe eines bisher nicht bekannten Mechanismus. Die Würmer haben ein kleines, hoch variables Protein auf ihrer Körperoberfläche, das offenbar mit der Nase detektiert wird. Der variable Teil des als SELF-1 bezeichneten Peptids stellt einen Selbsterkennungs-Code dar und bereits die Veränderung einer Aminosäure führt zum Kannibalismus.

„Mechanismen zur Selbsterkennung gibt es im gesamten Tier- und Pflanzenreich“, sagt Ralf Sommer, der die Tübinger Forschungsgruppe leitet und Pristionchus als Modellorganismus neben dem bekannteren Fadenwurm Caenorhabditis elegans etabliert hat. Wenn Einzeller sich zu übergeordneten Strukturen zusammenfinden, Pflanzen einer Selbstbestäubung vorbeugen oder das menschliche Immunsystem sich gegen Krankheitserreger oder fremdes Gewebe wehrt – stets liegt diesen Prozessen die Unterscheidung zwischen „fremd“ und „selbst“ zugrunde.

Während diese Reaktionen jedoch auf der Ebene einzelner Zellen ablaufen, findet die Vermeidung von Kannibalismus bei Pristionchus auf der Verhaltensebene statt – es muss also der Organismus als Ganzes reagieren. „Eine solche organismische Selbsterkennung ist bei Fadenwürmern bislang noch nicht beschrieben worden“, sagt Sommer.

Um zu untersuchen, wie differenziert die Würmer zwischen eigenem und fremdem Nachwuchs unterscheiden können, führten die Tübinger Forscher eine Reihe von Experimenten zur Beutepräferenz durch. Dabei boten sie ausgewachsenen Tieren verschiedener Pristionchus-Arten in jeweils getrennten Versuchsansätzen eigene Larven, C. elegans-Larven, Larven einer anderen Pristionchus-Art oder einer verwandten Linie innerhalb der eigenen Art als Beute an.

Signale auf der Körperoberfläche

In keinem der Versuche griffen die Würmer Larven der eigenen Stammeslinie an. Vor dem Verzehr von C. elegans-Larven, dem Nachwuchs näher verwandter Arten oder gar Linien derselben Art scheuten sie jedoch nicht zurück. Auch P. pacificus-Exemplare, die in eine gemischte Kultur aus eigenen Larven und Larven einer nahe-verwandten Art gesetzt wurden, wählten ausschließlich den fremden Nachwuchs als Beute. „Damit war ausgeschlossen, dass eigene Larven über Pheromon-ähnliche Substanzen erkannt werden, die in die Umgebung abgegeben werden“, erläutert James Lightfoot, Erstautor der Studie – denn diese hätten die ganze Mischkultur zur beutefreien Zone gemacht. Auch die Beobachtung, dass die Tiere zunächst Nasenkontakt mit der Beute aufnehmen, bevor sie zubeißen, spricht dafür, dass die entscheidenden Signale auf der Körperoberfläche der Larven lokalisiert waren.

Mithilfe von gezielten Mutationen konnten Sommer und sein Team ein Gen identifizieren, das bei der Unterscheidung von „fremd“ und „selbst“ eine entscheidende Rolle spielt und von den Forschern mit dem Namen self-1 belegt wurde. self-1 kodiert für ein kleines Protein von 63 Aminosäuren. Weite Teile des Proteins sind stark konserviert, weisen also auch bei entfernten Arten immer dieselbe Aminosäuresequenz auf.

Variabler Molekülabschnitt

Ein kleiner Abschnitt am Ende des Proteins ist jedoch äußerst variabel - hier unterscheiden sich selbst nah verwandte Linien von P. pacificus deutlich. „In Mutationsversuchen reichte bereits der Austausch einer einzigen Aminosäure in diesem Bereich aus, um die Selbsterkennung zu verhindern und den Schutz der Larven vor kannibalischen Angriffen aufzuheben. SELF-1 scheint also einen Selbsterkennungs-Code darzustellen und wird während der gesamten Lebensspanne des Wurms auf dessen Oberfläche gebildet“, erläutert Sommer.

Weitere Versuche zeigten jedoch, dass die Ausstattung mit einem arteigenen SELF-1-Protein nicht das einzige Signal ist, von dem die Entscheidung für oder gegen das Zubeißen abhängt. C. elegans-Larven wurden auch dann von P. pacificus attackiert, wenn sie selbst gentechnisch mit dem SELF-1 Protein ausgerüstet worden waren. „SELF-1 ist offenbar Teil eines komplexeren Mechanismus, der die Unterscheidung von „fremd“ und „selbst“ ermöglicht“, sagt Sommer – „Die Fadenwürmer sind damit ein ideales Modellsystem, um die Ko-Evolution nahe verwandter Arten zu erforschen und die Strategien zu entschlüsseln, mit denen sie Konkurrenzsituationen meistern.“

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