„Es ist unsere Pflicht, uns den Diskussionen zu stellen“

In Europa sterben 790.000 Menschen vorzeitig an Erkrankungen, die durch Luftverschmutzung, vor allem Feinstaub, zumindest mitverursacht werden, weltweit sind es sogar 8,8 Millionen vorzeitige Todesfälle. Zu diesen Ergebnissen kommen Wissenschaftler um Jos Lelieveld, Direktor am Max-Planck-Institut für Chemie, und Thomas Münzel, Professor für Kardiologie an der Universitätsmedizin Mainz, in einer aktuellen Untersuchung. Wir sprachen mit Jos Lelieveld über die Kritik, die es schon vor der Veröffentlichung an der Studie gab, und die Äußerungen einiger Lungenärzte, die Gefahren durch Luftverschmutzung kleinreden wollten. Das führte auch zu der Frage, wie die Wissenschaft der Öffentlichkeit in solchen Diskussionen Orientierungshilfen zu geben kann.

Herr Lelieveld, es gab schon vor der Veröffentlichung Kritik an Ihrer aktuellen Studie, vor allem was die Methode betrifft. Was entgegnen Sie darauf?

Ich habe der Sendung Monitor ein Interview gegeben, weil unsere Untersuchung eigentlich viel früher erscheinen sollte, dann aber kurzfristig verschoben wurde. Die Aussagen, die da herausgegriffen wurden, waren nicht falsch, aber aus dem Kontext gerissen. Daraus haben einige auf die Methode geschlossen und diese kritisiert, aber diese Methode haben wir gar nicht verwendet. Das hat uns sehr geärgert. Ich erwarte, dass man sich bei uns erkundigt, was wir eigentlich gemacht haben.

Ein Einwand richtete sich auch gegen Ihre Aussage zu den vorzeitigen Todesfällen. Sinnvoller sei es, die Senkung der durchschnittlichen Lebenserwartung zu betrachten. Warum halten sie die vorzeitigen Todesfälle für die brauchbarere Größe?

Die Messgröße sind die Sterberaten, die auch Unsicherheit haben. Die Verkürzung der Lebenserwartung ist eine abgeleitete Größe, bei der man zusätzliche Annahmen machen muss. Ich kann mir vorstellen, dass sie einsichtiger ist, oder was auch immer, aber es ist bestimmt keine bessere Aussage. Luftverschmutzung verkürzt nicht das Leben von jedem, betroffen sind vor allem ältere Menschen und solche, die bereits unter Herz-Kreislauf-Erkrankungen leiden. Man kann auch berechnen, dass das Rauchen die durchschnittliche Lebenserwartung um zwei Jahre senkt – ja, stimmt. Aber es sterben natürlich nur die Menschen, die rauchen oder dem Rauch passiv ausgesetzt sind.

Welche Größe geben Sie jetzt also an?

Wir haben jetzt einfach alles gemacht und auch genau beschrieben, wie wir vorgegangen sind: Wir haben die verlorenen Lebensjahre berechnet, die vorzeitigen Todesfälle und die Senkung der Lebenserwartung. Die 790.000 Menschen, die unserer Studie nach in Europa vorzeitig sterben, verlieren demnach im Schnitt 17 Jahre. Das entspricht einer Verkürzung der durchschnittlichen Lebenserwartung um 2,2 Jahre. Am Ende ändert das nichts an unserer Hauptaussage: Es gibt mehrere Risikofaktoren: Bluthochdruck, Diabetes, Übergewicht, auch das Rauchen. Das sind die Hauptrisikofaktoren, durch die Menschen früher sterben. Diese Risikofaktoren werden dadurch beeinflusst, wie man lebt und welchen Umweltfaktoren man ausgesetzt ist. Luftverschmutzung kommt da hinzu, und erhöht auch andere Risiken. Bei unseren neuen Zahlen stellt sich nun heraus, dass dieser Faktor viel wichtiger ist, als wir vorher gedacht haben.

Sie weisen selbst darauf hin, dass die tatsächlichen Todesraten oder vorzeitigen Todesfälle etwa aufgrund von Herz-Kreislauf-Erkrankungen durch die Feinstaubbelastung in einem Bereich von plus-minus 50 Prozent des Mittelwertes liegen können. Die Ergebnisse sind also mit einer großen Unsicherheit behaftet. Müssen Sie nicht fürchten, dass das die Öffentlichkeit verwirrt?

Wir finden es wichtig, die Unsicherheiten anzusprechen. Denn die Daten, die in unsere Untersuchungen einfließen, haben alle ihre Unsicherheiten und außerdem gibt es methodische Unsicherheiten. Wir sind da jetzt sogar vorsichtiger als andere Forscher. Zu benennen, was wir wissen und was wir nicht wissen, ist zwar ein bisschen gefährlich, aber wir finden es noch gefährlicher zu behaupten, dass wir die Ergebnisse mit hoher Sicherheit bestimmen.

Generell werden zum Gesundheitsrisiko durch die Luftverschmutzung immer wieder neue Zahlen veröffentlicht, die teilweise stark voneinander abweichen. Viele Menschen wissen deshalb nicht mehr woran sie glauben sollen. Wie können Sie da für Klarheit sorgen?

Genau deshalb sollten wir versuchen, die Unsicherheiten richtig einzuschätzen. Denn es kann natürlich nicht sein, dass wir erst eine Zahl mit plus-minus 25 Prozent Unsicherheit veröffentlichen, und dann ein doppelt so große Zahl, die auch wieder eine Unsicherheit von plus-minus 25 Prozent hat. Und wir müssen erklären, warum die Ergebnisse stark voneinander abweichen können. Wir können auch gut erklären, warum unsere Zahl jetzt doppelt so hoch ist wie in unserer Studie von 2018.

Welche Gründe gibt es dafür?

Wir haben jetzt eine viel bessere Datenlage. Wir konnten bislang schwer feststellen, welche Effekte es bei relativ niedrigen Konzentrationen und bei hohen Konzentrationen der Luftverschmutzung gibt. So gab es für Länder mit hoher Feinstaubbelastung wie etwa China keine epidemiologischen Studien. Deshalb hat man bislang Raucherdaten extrapoliert und kam zu dem Schluss, dass die Effekte bei hohen Konzentrationen nicht mehr wesentlich zunehmen. Wir haben jetzt aber festgestellt, dass das sehr wohl der Fall ist. Außerdem haben wir jetzt Belege, dass auch das Risiko für zusätzliche nicht-übertragbaren Krankheiten wie Bluthochdruck und Diabetes durch Luftverschmutzung erhöht wird – das ist vor allem für Europa wichtig. Da waren die Unsicherheiten bislang zu groß, um Aussagen zu machen.

Trotzdem: Nicht zuletzt, weil es immer wieder unterschiedliche Zahlen gibt, zweifeln manche Lobbygruppen an der Schädlichkeit von Luftschadstoffen…

… und sogar Lungenärzte...

Was entgegnen Sie diesen Kritikern und gerade den Einlassungen der etwa 100 Lungenärzte um Dieter Köhler?

Ich habe sein Papier gelesen. Wissenschaftlich kann man es leicht vollkommen auseinandernehmen, weil da so viel Unfug drinsteht. Zum Beispiel, dass noch kein Lungenarzt beobachtet habe, wie ein Patient an Stickstoffoxiden gestorben sei. Das ist eine lächerliche Aussage. Abgesehen davon, dass mehr Menschen an einer Herz-Erkrankung sterben, kann das natürlich kein Lungenarzt feststellen. In der Sterbeurkunde steht als Todesursache natürlich nicht Stickstoffoxide, sondern ein Hirnschlag oder eine Herzattacke. Auch bei einem Raucher wird das Rauchen nicht als Todesursache angegeben. Außerdem hat man von den Mengen an Feinstaub, die Raucher abbekommen, auf die Werte extrapoliert, die Menschen durch Luftverschmutzung einatmen. Da gab es Rechenfehler bei den Größenordnungen. Unabhängig davon, wissen wir, dass die Erkrankungen selbst bei niedrigen Feinstaubkonzentrationen auftreten können. Die deutsche Gesellschaft für Pneumologie übernimmt die Ansichten von Herrn Köhler auch nicht. Sie hat selbst ein Papier mit diametral entgegengesetzten Aussagen veröffentlicht.

Dennoch hat die Meinung der Lungenärzte um Dieter Köhler auch bei Politikern großes Echo gefunden. Wie können Sie reagieren, wenn solch eine Minderheitenmeinung eine so große Plattform bekommt?

Das ist eher eine Frage, die ich Ihnen stellen würde. Es ist gut, dass es eine Meinung und eine Gegenmeinung gibt. Aber Journalisten sollten das auch gewichten. Wenn 90 Prozent einer Fachgemeinde eine Aussage macht, und eine Minderheit dagegenhält oder Zweifel äußert, wird das oft so dargestellt, als seien die Auffassungen gleichwertig. Das ist aber nicht der Fall.

In den vergangenen Jahren entsteht der Eindruck, die Wissenschaft gerate auch durch solche Diskussionen immer wieder in die Defensive. Was können Forscher dagegen tun?

Ich habe da meine persönliche Strategie: Wenn wir mit dem, was wir machen, Aussagen treffen können, die für die Gesellschaft und die Gesundheit der Menschen wichtig sind, wäre es doch unverantwortlich nichts zu sagen. Das wäre zwar bequem, denn ich finde es nicht leicht, mich da aus dem Fenster zu lehnen und den Diskussionen auszusetzen. Aber ich finde, wir haben als Wissenschaftler die Pflicht, gesellschaftlich relevante Erkenntnisse zu teilen und zu erklären, und uns den Diskussionen zu stellen.

Haben Sie den Eindruck, die Politik orientiert sich genügend an den Erkenntnissen der Wissenschaft?

Zum Glück gibt es Politiker, die verstehen wollen, was die Wissenschaft zu sagen hat. So hat Frau Merkel die Leopoldina, in der ich auch bin, gebeten, Klarheit in die Feinstaub-Diskussion zu bringen. Wir müssen als Wissenschaftler aber auch verstehen, dass bei solchen Themen mehrere Interessen eine Rolle spielen. Ich finde, letztlich funktioniert das in Deutschland auch ganz gut: Es gibt zwar Populisten und sogar einen Verkehrsminister, der Kurzschlüsse zieht, und natürlich auch die Bildzeitung mit der Feinstaublüge, was unakzeptabel ist. Aber es gibt hier eine öffentliche Debatte und eine Akademie, die sich damit beschäftigt, und es gibt auch viele Qualitätsmedien, die verstehen wollen, was die Wissenschaft macht, und kritische Fragen stellen. Und das Gesamtpaket hilft dann auch, in der Gesellschaft weiterzukommen.

Das Interview führte Peter Hergersberg

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