Forschungsbericht 2018 - Max-Planck-Institut für Mathematik in den Naturwissenschaften

Theoretische Modelle politischer Meinungsbildung

Autoren
Sven Banisch, Eckehard Olbrich und Jürgen Jost
Abteilungen

Max Planck Institute for Mathematics in the Sciences, Leipzig

Zusammenfassung
Heutige Gesellschaften stehen vor schwierigen Herausforderungen, die demokratisch getragene Entscheidungen verlangen. Meinungen bezüglich verschiedener Themen - etwa zum Klimawandel oder zum Umgang mit der gestiegenen Zahl an Flüchtlingen - gehen allerdings oft auseinander. Am Max-Planck-Institut für Mathematik in den Naturwissenschaften untersuchen wir im Rahmen des Europäischen Projektes "Odycceus" grundlegende Mechanismen der Dynamik von politischen Meinungen, um soziale, kulturelle und themenspezifische Umstände zu beleuchten, die Prozesse politischer Meinungsbildung beeinflussen. 

Theoretische Modelle politischer Meinungsbildung

Das Ringen um politische Macht ist ein diskursiver Prozess, in dem das politisch Bedeutsame immer wieder neu ausgehandelt wird. Neue Themen gewinnen an Bedeutung — oft im Zuge globaler Prozesse und deren medialer Darstellung als Krisenphänomene —, alte Themen verändern im Bezug darauf ihre traditionelle Verortung.  Aber auch der kommunikative Modus der Auseinandersetzung verändert sich durch neue soziale Medien grundlegend. 

Diese gewachsene Komplexität mit wissenschaftlichen Methoden in den Griff zu bekommen, ist eines der Hauptziele des vor zwei Jahren begonnenen ODYCCEUS-Projektes (Opinion Dynamics and Cultural Conflicts in European Spaces). Auf der einen Seite stellen wir mittels der empirischen Analyse von Diskursdaten - gerade auch aus verschiedenen Onlinebereichen - interaktive Instrumente zur Verfügung, die es interessierten Beobachtern erlauben, diese dynamische Heterogenität besser zu fassen. Entlang welcher Dimensionen spielt sich eine politische Auseinandersetzung ab und welches ist der jeweilige sprachliche Rahmen? Wie haben sich diese über die Zeit verändert? Zu welchen „Rekonfigurationen“ politischer Lager hat das geführt? Auf der anderen Seite entwickeln wir mathematische Modelle, welche diese Dynamiken in abstrakter Form abzubilden vermögen und damit eine theoretische Analyse zu Grunde liegender Mechanismen erlauben. Was ist die Rolle verschiedener Kulturen und Gruppen mit verschiedenen Interessen und Wertvorstellungen? Wie können wir Brücken zwischen verschiedenen Lagern und deren sprachlichen Formen bauen? Wie konstruktiven Austausch ermöglichen? 

Mathematische Modelle sind stets Karikaturen einer empirischen Wirklichkeit. Die Frage nach dem „richtigen“ Grad der Abstraktion — sei es im Bezug auf Kommunikationsstrukturen oder im Verhältnis zur Komplexität dessen, was wir Meinung nennen — kann nur unter Berücksichtigung der theoretischen Zielstellung wirklich sinnvoll diskutiert werden. Die Modellentwicklungen, die in diesem Beitrag skizziert werden sollen, sind als eine erste Annäherung zu verstehen, im Wechselspiel von empirischer Diskursanalyse und experimentell fundierten Mechanismen des Meinungsaustauschs theoretische Modelle zu entwickeln, die unser Verständnis politischer Meinungsbildung erweitern, indem sie strukturelle Bedingungen für Polarisierung herauskristallisieren und die Rolle kultureller Differenzen in den Blick nehmen.

Strukturelle Dimensionen

Unser erster Modellentwurf  basiert auf der Idee des sozialen Feedbacks und betrachtet die sozio-strukturellen Bedingungen, unter denen verschiedene Gruppen von Individuen immer stärkere Überzeugungen entgegengesetzter Meinungen bilden. Im Gegensatz zu den meisten vorherigen Modellparadigmen erscheint Polarisierung hier als der generische Fall. Im Modell bringen Individuen verschiedene Meinungen zum Ausdruck und erhalten Zustimmung oder Ablehnung in ihrer sozialen Umgebung. Dieses Feedback wird mittels psychologisch und neuro-physiologisch begründeter Regeln des verstärkenden Lernens für eine private Bewertung des ausgedrückten Inhalts herangezogen. Negatives Feedback schwächt die Überzeugung von der artikulierten Meinung und macht deren erneute Artikulation weniger wahrscheinlich. Zustimmende Reaktionen führen zu einer gestärkten Überzeugung, dass das Gesagte die „richtige“ Ansicht sei. In Zusammenarbeit mit den Soziologen der Leipziger Universität wurde auf Basis des Modells ein Experiment durchgeführt, welches die Wirksamkeit positiven und negativen Feedbacks auf zukünftige Meinungsäußerung in überraschender Deutlichkeit bestätigt. 

In diesem wiederholten Prozess der Artikulation von Meinungen, des sozialen Feedbacks und dessen impliziter Bewertung bilden sich zusammenhängende Gruppen heraus, in denen eine Meinung für alle Teilnehmer die wahrgenommene Mehrheitsmeinung ist, und dies führt zur Gruppenpolarisierung. Die Gruppe bildet eine extreme Überzeugung von der entsprechenden Meinung. Erlauben kommunikative Strukturen nun mehrere solcher Gruppen, führt dies zu partiell unabhängigen Prozessen der Gruppenpolarisierung, in denen verschiedene Gruppen verschiedene Ansichten mit starker Überzeugung vertreten. Die spieltheoretische Analyse zeigt,  dass diese Bedingungen von allen Netzwerken erfüllt werden — online wie offline —, in denen sich sinnvoll von „Communities“ sprechen lässt.

Inhaltliche Dimensionen

Das zweite Modell ist stärker an den inhaltlichen Dimensionen des Diskurses über spezifische Themen orientiert. Es unterscheidet analytisch zwischen Fakten und deren Bewertung bezüglich verschiedener politischer Ziele und bezieht somit explizit die den Einstellungen zu Grunde liegenden argumentativen Dimensionen mit ein. Zum einen kann dadurch berücksichtigt werden, dass es stets eine ganze Reihe von Fakten gibt, die für ein Thema relevant sind und für oder gegen eine bestimmte Position sprechen, zum anderen kann es aber auch den Zusammenhang verschiedener politischer Ziele abbilden, weil einzelne Fakten beispielsweise für das eine und gleichzeitig gegen ein anders Ziel sprechen. 

Dieses Modell verwobener Argumente basiert einerseits auf strukturellen Theorien der Einstellungsforschung, in denen davon ausgegangen wird, dass sich eine Einstellung zu einem Thema durch eine Struktur von Bewertungen der für das Thema relevanten Faktoren ergibt. Auch Kommunikation findet mit Referenz auf diese zu Grunde liegenden Aspekte statt und wird als Austauschs von Argumenten modelliert. Wenn Individuen bevorzugt mit anderen Individuen kommunizieren, die ähnliche Einstellungen vertreten, führt dies dazu, dass sie eher Argumenten ausgesetzt sind, die ihre derzeitige Meinung zusätzlich unterstützen. Auch hier entwickelt sich so ein Prozess der Gruppenpolarisierung, welcher initiale Meinungsdifferenzen verstärkt. Die argumentative Verknüpftheit verschiedener Themen kann darüberhinaus erklären, weshalb Einstellungen bezüglich gewisser politischer Ziele ideologisch organisiert und entlang politischer Achsen korreliert sind.

Eine weitere vielversprechende Frage, die mit dem Modell adressiert werden kann, bezieht sich auf die Rolle, die kultureller Differenzen in diesen Prozessen spielen können. Was passiert, wenn Gruppen den Diskurs führen, die jeweils spezifische Bewertungsschemata in unterschiedlichen sozio-kulturellen Kontexten erworben haben? Mathematische Resultate legen nahe, dass dies Polarisierungstendenzen abschwächen kann, und zeigen damit eine sehr interessante Richtung für zukünftige experimentelle Forschung auf.

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