Forschungsbericht 2018 - Max Planck Florida Institute for Neuroscience

Gezielte Inhibitionen im Kleinhirn erlauben eine Feinkalibrierung des motorischen Lernens

Autoren
Christie, Jason
Abteilungen
Forschungsgruppe Mechanisms of Synaptic Signaling and Computation
Zusammenfassung
Unsere unterbewusste Fähigkeit, routinierte Bewegungsabläufe beinahe mühelos ausführen zu können, wird oft Muskelgedächtnis genannt. Diese Erinnerungen werden aber nicht im Muskel selbst, sondern im Kleinhirn gespeichert. Obwohl hier zu jeder Zeit ganze Fluten von neuronalen Signalen eintreffen, wird das Muskelgedächtnis glücklicherweise nicht ständig umgeschrieben; dies geschieht nur unter stark regulierten Bedingungen. Den Schlüssel hierzu bildet eine Gruppe inhibitorischer Nervenzellen des Kleinhirns, genannt molecular layer interneurons (MLIs), von denen dieser Bericht handelt.

Das Kleinhirn lernt aus motorischen Fehlern

Präzise Bewegungsabläufe werden durch ständiges Wiederholen erlernt, wobei das Lernen aus Fehlern eine wichtige Rolle spielt. Die Adaption solcher Motorprozesse geschieht im Kleinhirn: Zuerst werden motorische Fehlabläufe durch bestimmte Nervenfasern, sogenannte Kletterfasern, an Gehirnzellen im Kleinhirn, sogenannte Purkinjezellen (PZ), kommuniziert (Abb. 1). In den PZ werden dann Sekundärsignale ausgelöst, die eine Stärkung oder Schwächung der dortigen Synapsen hervorrufen können, wodurch ultimativ eine Rekalibrierung der entsprechenden Bewegungsabläufe eingeleitet wird. Obwohl Kletterfasern sehr zuverlässig dendritische Sekundärsignale in PZ hervorrufen können, stoßen diese Signale nur manchmal Lernprozesse an. Offensichtlich existieren gewisse Regulationsmechanismen, die die Umwandlung von dendritischen Signalen in tatsächliches Lernverhalten steuern.

Im Gehirn gibt es neben erregenden auch unterdrückende Nervenzellen, deren inhibitorische Signale wie eine Bremse auf die Erregbarkeit anderer Gehirnzellen wirkt. Im Kleinhirn sind sogenannte molecular layer interneurons (MLIs) in der Lage, die Erregbarkeit von Purkinjezellen derart zu senken, dass ankommende Signale völlig unterdrückt werden können. Insbesondere werden MLIs dann aktiviert, wenn bei Bewegungsabläufen motorische Fehler auftreten [1]. Wir haben deswegen die Hypothese aufgestellt, dass MLIs spezifisch Signale aus den Kletterfasern unterdrücken können, um das motorische Lernen entweder zu koordinieren oder aber vor allem, um es zu verhindern, falls die Veränderung des Muskelgedächtnisses unangebracht oder fehlerhaft sein könnte, sprich: wenn eine Bewegung bereits mit höchster Präzision manifestiert und ausgeführt werden kann. Das bedeutet, dass diese Zellen interessanterweise kontextabhängig den Lernprozess im Kleinhirn steuern können.

MLIs erlauben eine feine Kalibrierung des Muskelgedächtnisses

Um unsere Hypothese zu testen, haben wir sogenannte optogenetische Methoden eingesetzt, bei denen die Aktivität von MLIs mit Hilfe von Licht nach Belieben an- und ausgeschaltet werden kann [2]. Messungen an Purkinjezellen in Gehirnschnitten von Mäusen haben gezeigt, dass die verstärkte Aktivierung von MLIs zu einer proportionalen Unterdrückung der durch Kletterfasern hervorgerufenen Sekundärsignale führte. Diese stufenweise Kontrolle der MLIs über die eintreffende Signalstärke der Kletterfasern in Pukinjezellen ermöglicht diesen Zellen in der Tat eine kontextabhängige Regulierung des Lernvorgangs. Wir konnten sogar zeigen, dass die steigende Aktivität von MLIs zu einem völligen Ausbleiben der synaptischen Plastizität oder, unter speziellen Bedingungen, gar zu einer Erstarkung der entsprechenden Schaltkreise führt.

Als nächstes haben wir an Mäusen untersucht, ob sich die oben beschriebene Regulation des motorischen Lernvorgangs durch MLIs im Verhalten der Tiere widerspiegelt. Hierfür haben wir den vestibular-ocular reflex (VOR) genauer betrachtet und erfasst. Der VOR ist dafür zuständig, dass bei einer Drehung des Kopfes ein anvisiertes Ziel nicht aus den Augen verloren wird. Um dies zu gewährleisten, bewirkt der VOR eine gleichzeitige, hochpräzise Drehung der Augen in die entgegengesetzte Richtung zum Kopf (Abb. 2). Im Experiment beobachteten wir, dass eine Aktivierung der Kletterfasern während einer Bewegung des Kopfes zu einer Erhöhung des VOR führte, die Mäuse also mit einer zu starken Augenbewegung auf eine Kopfdrehung reagierten. Wenn wir hingegen gleichzeitig mit den Kletterfasern auch noch die MLIs aktivierten, konnten wir eine Abnahme des VOR beobachten, also weniger Augenbewegung in Folge gleichbleibender Kopfbewegung. Wenn MLIs auf einem mittleren Niveau aktiviert wurden, wurde jegliches Lernen unterdrückt. Insgesamt erlauben MLIs durch ihre hemmende Wirkung auf Purkinjezellen scheinbar eine viel größere Bandbreite an möglichen Stimulationszuständen, was wiederum ein breiteres Spektrum an Lernergebnissen eröffnet, um die Stärke und die Richtung der Bewegungsabläufe präzise anpassen zu können.

MLIs unterdrücken unangebrachte Lernprozesse

Wenn zusätzlich zu Kletterfasern auch noch sogenannte Parallelfasern - diese Fasern übermitteln einen wichtigen sensormotorischen Kontext - Signale an Purkinjezellen übermitteln, können sie gemeinsam derartig starke Sekundärsignale auslösen, um so die neuronalen Schaltkreise im Kleinhirn nachhaltig zu verändern und so das motorische Gedächtnis anzupassen. Interessanterweise sind Kletterfasern selbst bei hochpräzise ausgeführten Bewegungsabläufen kontinuierlich aktiv, was im Prinzip eine ständige Abänderung des Muskelgedächtnisses zur Folge hätte, selbst wenn keine motorischen Fehler auftreten – ein potenziell fatales Phänomen, das die Kapazität der Schaltkreise im Gehirn massiv überlasten könnte.

Im Experiment beobachteten wir bei Mäusen, dass während geübten Bewegungsabläufen gemeinsam zu den Parallelfasern auch die MLIs aktiviert wurden, die umgekehrt die Anregung der Purkinjezellen wieder unterdrückten. Wenn wir allerdings die Aktivierung der MLIs gezielt verhinderten, dann reichten schon geringe Bewegungen aus, um erhöhte Sekundärsignale in Purkinjezellen zu generieren. Offensichtlich ist eine Kombination aus Anregung und Unterdrückung notwendig, um die relevanten Signale der Kletterfasern richtig zu interpretieren und das motorische Gedächtnis korrekt anzupassen. Insgesamt bewirkt die zusätzliche Integration von MLIs im Signalvorgang, dass während routinierter Bewegungen das Induzieren von Lernprozessen verhindert wird, solange keine motorischen Fehlbewegungen kommuniziert werden.

Zukünftige Forschungsrichtungen

Indem MLIs gezielt im Kleinhirn das Lernverhalten regulieren, spielen sie eine signifikante Rolle zu bestimmen, wann und wie das motorische Gedächtnis umgeschrieben wird. Eine Fehlfunktion dieser regulatorischen Mechanismen im Kleinhirn könnte eine Ursache bestimmter Krankheitsbilder sein, bei denen die (Aus-)Bildung des Muskelgedächtnisses beeinträchtigt ist. Demzufolge könnte eine gezielte Aktivierung von MLIs eine effektive Strategie sein, um motorischen Störungen zu behandeln, bei denen das Muskelgedächtnis entweder vergessen oder falsch kodiert wird. Unsere zukünftigen Untersuchungen werden in diese Richtung ausgelegt sein.

Literaturhinweise

Gaffield, M.A.; Christie, J.M.
Movement rate is encoded and influenced by widespread, coherent activity of cerebellar molecular layer interneurons
The Journal of Neuroscience 37, 4751-4765 (2017)
Rowan, M.J.M.; Bonnan, A.; Zhang, K.; Amat, S.B.; Kikuchi, C.; Taniguchi, H.; Augustine, G.J.; Christie, J.M.
Graded control of climbing fiber-mediated plasticity and learning by inhibition in the cerebellum
Neuron 99, 999-1015 (2018)
Gaffield, M.A.,; Rowan, M.J.M.; Amat, S.B.; Hirai, H.; Christie, J.M.
Inhibition gates supralinear Ca2+ signaling in Purkinje cell dendrites during practiced movements
eLife 7:e36246 (2018)
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