Forschungsbericht 2010 - Max-Planck-Institut für demografische Forschung

Regionale Demografie in Deutschland: Der Süden erwartet mehr vom Leben

Regional demography in Germany: The South expects more from life

Autoren
Kibele, Eva
Abteilungen
Max-Planck-Institut für demografische Forschung, Rostock
Zusammenfassung
Die durchschnittliche Lebenserwartung von Männern und Frauen schwankt stark in den Regionen Deutschlands. So kann ein Mann, der in einer wohlhabenderen südlichen Region lebt, mit einem Lebensalter von fast 77 Jahren rechnen. Sein Landsmann in einer strukturschwachen Region hingegen stirbt im Durchschnitt knapp vier Jahre früher. Diese großen Unterschiede stehen im Zusammenhang mit der regionalen Bevölkerungs-, Wirtschafts- und Sozialstruktur sowie der Qualität der Gesundheitspolitik.
Summary
The average life expectancy of men and women in Germany is highly fluctuating. Thus, a man, who lives in the southern prosperous regions, can expect to live nearly 77 years. A compatriot in an economically underdeveloped region, however, dies on average almost four years earlier. The reasons for these big differences are associated with economic, social and population structures of the regions and the quality of health care policy.

Sage mir, wo du lebst, und ich sage dir, wie alt du wirst. Ganz so einfach ist der Zusammenhang zwischen Region und Lebenserwartung zwar nicht, doch immerhin: Im Durchschnitt wird ein Mann, der in Freiburg lebt, etwa vier Jahre älter als einer, der auf Rügen zu Hause ist. Bei Frauen in denselben Regionen beträgt der Unterschied in der Lebenserwartung gut zwei Jahre. Wo genau diese Unterschiede in der Lebenserwartung auftreten und welche Gründe es für sie gibt, ist Gegenstand verschiedener Forschungsprojekte am Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock.

Lange Zeit ergaben sich die auffälligsten Unterschiede bei der Lebenserwartung zwischen Ost- und Westdeutschland. Erst nach dem Jahr 2000 haben sich die Werte bei Frauen angeglichen, während bei Männern bis heute eine Differenz von einem Jahr besteht. Dabei setzte die Ost-West-Angleichung sehr schnell nach der Wende ein [1, 2]. Der starke Anstieg der Lebenserwartung in den ostdeutschen Kreisen vollzog sich vor allem in den 1990er-Jahren und schwächte sich zum Ende des Jahrzehnts ab. Dies heißt auch, dass kaum noch Spätfolgen der ungünstigen Situation des Gesundheitswesens der DDR zu erkennen sind. Und heute zeigt sich: Stärker als die Differenzen zwischen Ost und West sind die Differenzen zwischen den einzelnen Regionen Deutschlands ausgeprägt.

„Wohlhabenden Westen“ gibt es auch im Osten

Um hier einen Überblick zu gewinnen, wurden 438 Kreise in Deutschland in vier Gruppen, sogenannte „Cluster“, zusammengefasst. Eine solche Clusteranalyse gibt Aufschluss darüber, welche Kreise ein ähnliches Niveau und einen ähnlichen Anstieg in der Lebenserwartung zu verzeichnen hatten (Abb. 1). Anhand der jeweiligen Zahlen für die Jahre 1995 bis 2006 konnten die Kreise in vier weitestgehend homogene Gruppen zusammengefasst werden. Cluster 1 und 3, der „Prosperierende Süden“ und die „Heterogenen Regionen“, unterscheiden sich dabei allerdings nur im durchschnittlich erreichten Lebensalter, kaum aber im Anstieg der Lebenserwartung.

Cluster 1 („Prosperierender Süden“) besteht aus 64 Kreisen mit einer Gesamtbevölkerung von über 14 Millionen. Er umfasst vorwiegend Kreise im Süden Deutschlands, in denen die Arbeitslosigkeit gering und die Wirtschaftsleistung hoch ist. Dieser Cluster hat das höchste Niveau und den zweithöchsten Anstieg in der Lebenserwartung.

Cluster 2 („Wohlhabender Westen“) besteht aus 136 vorwiegend westdeutschen Kreisen mit einer Gesamtbevölkerung von 27,3 Millionen. Darin enthalten sind vor allem wirtschaftlich solide Regionen, die jedoch eine etwas weniger dynamische Entwicklung als die Regionen in Cluster 1 verzeichnen. Ebenso wie Cluster 1 hat Cluster 2 signifikante Bevölkerungszuwächse durch Zuwanderung. Der Cluster hat zwar die zweithöchste Lebenserwartung zu verzeichnen, diese steigt allerdings von allen Clustern am wenigsten an. Der Abstand zum Vorreiter, zu Cluster 1, ist somit seit 1995 größer geworden.

Cluster 3 („Heterogene Regionen“) ist im strukturellen wie im geografischen Sinne heterogen. Insgesamt besteht er aus 154 Kreisen mit einer Einwohnerzahl von etwa 30 Millionen und setzt sich aus verschiedenen strukturschwachen westdeutschen Regionen und bessergestellten ostdeutschen Regionen zusammen. Die sozioökonomische Situation liegt leicht unter dem Durchschnitt aller Regionen. Cluster 3 hat die zweitniedrigste Lebenserwartung.

Die übrigen – vorwiegend ostdeutschen – Kreise gehören zu Cluster 4 („Strukturschwacher Osten“) mit einer Bevölkerung von etwa 10,5 Millionen. Die wirtschaftliche Situation in diesen 84 Kreisen ist sehr schwierig, was sich in niedrigen Durchschnittseinkommen und hoher Arbeitslosigkeit widerspiegelt. Darüber hinaus sind die Regionen von einer starken Abwanderung der Bevölkerung betroffen. Der „Strukturschwache Osten“ hat die niedrigste durchschnittliche Lebenserwartung, gleichzeitig jedoch die stärksten Zuwächse in diesem Bereich zu verzeichnen.

Die Clusteranalyse zeigt, dass sich die Unterschiede in der Lebenserwartung zwar geografisch grob in Ost, West und Süd einteilen lassen (Abb. 2). Sie zeigt aber auch, dass es bereits viele Kreise gibt, die dieses Muster durchbrechen. So gehören einige Kreise im äußersten Westen – im Saarland und im Ruhrgebiet –, zum strukturschwachen Osten, während etwa Jena und Dresden zum prosperierenden Süden und viele sächsische Kreise an der Ostgrenze Deutschlands zum wohlhabenden Westen gehören. Zudem können die Kreise aus Cluster 4 („Strukturschwacher Osten“) den höchsten Anstieg der Lebenserwartung aller Cluster verzeichnen.

Woran sterben wir?

Doch warum kommt es in Deutschland zu solchen Unterschieden in der Lebenserwartung? Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, wurde die Sterblichkeit nach Todesursachen in den Clustern 2, 3 und 4 mit denen des „Best-Practice-Cluster“, Cluster 1, verglichen [3]. Dabei zeigte sich, dass sich die Ursachen, die für eine geringere Lebenserwartung verantwortlich sind, in allen drei Clustern ähneln (Abb. 3): Der größte Anteil entfällt auf Herz- und Kreislauferkrankungen (kardiovaskuläre Sterblichkeit), gefolgt von Krebs (insbesondere Lungenkrebs) und Atemwegserkrankungen. Bei den Männern sind Unterschiede zum Cluster 1 darüber hinaus auch teilweise durch Alkoholkonsum und externe Todesursachen (insbesondere Autounfälle) bedingt. Dies ist vor allem in Cluster 4, dem strukturschwachen Osten, der Fall und gilt in dieser Region für beide Geschlechter. Interessant ist, dass der starke Anstieg der Lebenserwartung in Cluster 4 vor allem mit einem starken Rückgang der externen Todesursachen (etwa Unfälle) und der alkoholbedingten Sterbefälle einherging.

Die durchschnittliche Lebenserwartung ist kein Zufallsprodukt, sondern hängt mit der Bevölkerungs-, Wirtschafts- und Sozialstruktur sowie der Qualität der Gesundheitspolitik in den einzelnen Kreisen zusammen. Vor allem das durchschnittliche Einkommen sowie eine hochwertige und zügige Gesundheitsversorgung sind für die Höhe der Lebenserwartung von Bedeutung. Auch bestehende Ost-West-Unterschiede sind weitgehend durch die sozioökonomischen Bedingungen in den Kreisen erklärbar.

Kann die Regionalpolitik Leben verlängern?

Diese Bedingungen aber lassen sich verändern. Regionale Unterschiede in der Lebenserwartung zeigen immer auch Problemfelder für die Regionalpolitik, die Gesundheitsplanung und Gesundheitsversorgung vor Ort auf. Um die Ungleichheiten zu verringern, sollten daher Präventionsmaßnahmen ergriffen werden, die zum Beispiel aus den analysierten Todesursachen abgeleitet werden können. Denn wie etwa der durch Autounfälle oder Alkoholkonsum verursachte Tod, lassen sich auch andere Todesrisiken durch entsprechende Maßnahmen vermeiden oder zumindest verringern.

Dabei könnte es zukünftig hilfreich sein, auch die Lebenserwartung unterschiedlicher sozialer Schichten zu berücksichtigen. Denn regionale und soziale Unterschiede im Gesundheitsniveau ähneln sich [4]. Weitere Forschung zum Zusammenspiel von Individual- und Regionalfaktoren könnte daher helfen, adäquate Maßnahmen zur Angleichung der Lebenserwartung zu entwickeln – damit die Bewohner auf Rügen irgendwann genauso viel vom Leben erwarten dürfen wie die Menschen in Freiburg.

J. W. Vaupel, J. R. Carey, K. Christensen:
It’s never too late.
Science 301, 1679–1680 (2003).
University of California, Berkeley (USA), Max-Planck-Institut für demografische Forschung (Deutschland):
Human Mortality Database.
Daten für Deutschland. www.mortality.org [6. Januar 2011].
E. M. Andreev, V. M. Shkolnikov, A. Z. Begun:
Algorithm for decomposition of life expectancies, healthy life expectancies, parity-progression ratios, and total fertility rates.
Demographic Research 7, 499–522 (2002).
D. A. Leon, G. Walt:
Common threads: Underlying components of inequality in mortality between and within countries.
In: Poverty, inequality, and health: An international perspective. (Eds.) D. A. Leon, G. Walt. Oxford University Press, Oxford 2001, 58–87.
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