Stromlinienform für wandernde Nervenzellen

Forscher entdecken neues Regulationsprinzip der Hirnentwicklung

Unsere Großhirnrinde ist für eine Vielzahl von komplexen Hirnfunktionen verantwortlich, von der Wahrnehmung von Sinnesreizen über Aufmerksamkeit, Gedächtnis oder Sprache bis zum Bewusstsein. Neurobiologen des Max-Planck-Instituts für experimentelle Medizin in Göttingen haben ein neues Regulationsprinzip entschlüsselt, das die Entwicklung der komplexen Nervenzellarchitektur in der Großhirnrinde steuert.

Das Gehirn des Menschen wird wie bei allen anderen Säugetieren durch eine äußere und an Nervenzellen reiche Schicht dominiert, die als Großhirnrinde oder Cortex bezeichnet wird. Sie besteht aus sechs Ebenen von Nervenzellen, die auf hoch komplexe Weise miteinander und mit anderen Hirnbereichen verschaltet sind und alle komplexen Hirnfunktionen steuern.

Die Bildung der kompliziert geschichteten Nervenzellarchitektur in der Großhirnrinde beginnt schon relativ früh während der Embryonalentwicklung und wird erst nach der Geburt abgeschlossen. Dabei werden zunächst an der Unterseite der sich entwickelnden Großhirnrinde neue Nervenzellen gebildet, die dann eine stromlinienförmige – oder bipolare – Form annehmen, senkrecht zur Oberfläche nach außen wandern und schließlich in ihrer Zielregion anhalten, wo sie die für Nervenzellen typische, durch zahlreiche Fortsätze charakterisierte Form annehmen und sich mit anderen Nervenzellen verschalten.

Die Ausbildung der bipolaren Struktur der sich entwickelnden Nervenzellen, ihre so genannte Polarisierung, und ihre folgende Wanderung in der entstehenden Großhirnrinde werden durch zahlreiche zellinterne Regulationsprozesse kontrolliert, die wiederum das Ziel einer ganzen Reihe zellexterner Signalprozesse sind. Fehler bei diesen Entwicklungsprozessen führen zu Fehlbildungen der Großhirnrinde und haben fast immer schwerwiegende Konsequenzen für betroffene Patienten, wie etwa bei der Lissenzephalie.

Verschachtelte Gene

Mateusz Ambrozkiewicz und Hiroshi Kawabe vom Göttinger Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin haben nun gemeinsam mit Victor Tarabykin von der Charité in Berlin und Kooperationspartern in Japan ein neues zelluläres Regulationsprinzip entdeckt, das die Polarisierung neu geborener Nervenzellen und deren Wanderung steuert. Mit Hilfe von Tierversuchen an genetisch veränderten Mäusen konnten die Wissenschaftler zeigen, dass die koordinierte Aktivität der so genannten Ubiquitin-Ligasen WWP1 und WWP2, die den Abbau von Proteinen herbeiführen, und der so genannten Micro-RNA miR140, die die Neuproduktion von Proteinen hemmt, eine wesentliche Rolle bei der Polarisierung und Wanderung von Nervenzellen während der Entwicklung der Großhirnrinde spielt. Besonders interessant ist dabei, dass die beteiligten Gene teilweise miteinander verschachtelt sind, in ähnlicher Weise kontrolliert werden und verwandte Prozesse in sich entwickelnden Nervenzellen steuern.

"Abgesehen davon, dass wir einen neuen Regulationsprozess bei der Gehirnentwicklung entdeckt haben, sind wir besonders davon fasziniert, dass das miR140-Gen in das WWP2-Gen eingebettet ist", meint Hiroshi Kawabe, der Leiter der Studie. Eine solche Verschachtelung von Protein-kodierenden Genen und Micro-RNA-Genen sei selten aber nicht ungewöhnlich, und es werde schon lange vermutet, dass solche Genstrukturen auf eine gemeinsame Funktion der jeweiligen Genprodukte hinweisen. "Aber uns ist der Nachweis gelungen, dass dies tatsächlich der Fall ist. WWP2 und miR140 werden von Nervenzellen in koordinierter Weise produziert und unterstützen gemeinsam deren Polarisierung."

NB/HR

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