Wegweiser im digitalen Dschungel

Was bedeutet das digitale Zeitalter für Bibliotheken? Sie verändern sich radikal, und dennoch: Niemand, der die Geschichte der Menschheit, der Kultur und der Naturwissenschaften verstehen will, kann auf das publizierte Wort, auf Bild-, Hör- und Videomaterial verzichten, das systematisch gesammelt und aufbereitet wird.

Text: Barbara Abrell

Die Bibliotheca Hertziana, das Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte in Rom, ist eine bedeutende Quelle für die kunst- und kulturwissenschaftliche Forschung: Sie besitzt unter anderem einen einzigartigen Bestand an Reiseführern über Rom, die dokumentieren, wie sich die Stadt über die Jahrhunderte veränderte. Jetzt wird dieser Bestand digitalisiert. Schon bald werden Kunsthistorikerinnen und -Historiker weltweit in der Datenbank Schudt Online recherchieren können. Der erste Bibliotheksdirektor, Ludwig Schudt, hatte die Sammlung dieser Literatur begonnen und selbst das Werk, Le Guide di Roma, 1930 publiziert.

Ähnlich wie die bekannteste Bibliothek der Max-Planck-Gesellschaft beheimatet auch das Kunsthistorische Institut in Florenz sowie das Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte zahlreiche, teilweise sehr alte Kostbarkeiten, die sie aber zugleich in digitaler Form zeitgemäß präsentieren und für die Forschung weltweit bereitstellen.

Bibliotheken als Treffpunkt

Ganz anders präsentiert sich die Eberhard-Zeidler-Bibliothek des Leipziger Max-Planck-Institut für Mathematik in den Naturwissenschaften – eine der führenden, mathematischen Bibliotheken. Neben dem hervorragenden analogen und digitalen Bestand ist die Bibliothek auch ein wichtiger Treffpunkt für den wissenschaftlichen und sozialen Austausch der Forschenden am Institut. Diese werden vom Bibliotheksteam nicht nur bei der Informationsbeschaffung, sondern auch im Publikationsprozess umfassend unterstützt – auch mit besonderem Augenmerk auf Open Access.

Bei den monatlichen 'Coffee Lectures' werden für die wissenschaftliche Arbeit relevante Bibliotheksdienste vorgestellt und in entspannter Atmosphäre diskutiert. Mit viel Liebe zum Detail entstehen wechselnde Ausstellungen zu herausragenden Mathematikerinnen und Mathematikern oder bedeutenden wissenschaftlichen Auszeichnungen, die dann im Lesesaal gezeigt werden.

Die Integration von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund wird am Institut durch zwei Projekte unterstützt: Das Team bietet bibliothekspädagogische Führungen für Klassen in „Deutsch als Zweitsprache“ an und ein Bibliotheksmitarbeiter aus Syrien gibt Schülerinnen und Schülern aus Familien mit Migrationsgeschichte Nachhilfeunterricht in Mathematik.

Elektronisches für Experten

Zusätzlich zu erlesenen Werken und Gebrauchsliteratur sammeln die Archive und Bibliotheken der Max-Planck-Gesellschaft auch Bild-, Hör- und Videomaterial. FACES beispielsweise, eine Datenbank für die psychologische Forschung, beinhaltet Fotos und Videos von Gesichtern, von Männern und Frauen unterschiedlichsten Alters mit Gesichtsausdrücken, die sechs Emotionen widerspiegeln. Sie wurden von Wissenschaftlern im Rahmen eines aufwändigen Projekts erstellt und von der Max Planck Digital Library gemeinsam mit der Bibliothek am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in eine Datenbank eingespielt. Dort stehen sie nun interessierten Forschern aus aller Welt und mit ganz unterschiedlichem fachlichen Hintergrund für die eigene Forschung zur Verfügung.

Dies sind nur wenige Beispiele, die zeigen, welche Aufgaben moderne Bibliotheken heute zu bewältigen haben – und wie sich die Ansprüche an Bibliothekarinnen und Bibliothekare heute wandeln. „Weil Forschungsfragen immer spezieller werden, weil sich die Wissenschaftsdisziplinen immer feiner verästeln und weil die wissenschaftliche Literaturproduktion stark wächst, bedarf es besonderer Expertise, um den wissenschaftlichen Informationsdschungel zu durchdringen“, schreiben Sebastian Nix, Bibliotheksleiter am MPI für Bildungsforschung, und Kerstin Schoof, die die Bibliothek am MPI für empirische Ästhetik leitet, in ihrem Aufsatz „Spitzenservice für Experten Spezialbibliotheken im digitalen Zeitalter“.

Scouts im Informationsdschungel

Claudia Holland, die am Hamburger Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht ein Bibliotheks-Team von 20 Mitarbeitenden leitet, ist Mitglied im Sprecherkreis der Max-Planck-Bibliotheken. Sie zählt neben dem Ansatz Wissen für alle verfügbar zu machen (Open Access) vor allem das Forschungsdatenmanagement und die zeitgemäße Art und Weise der Präsentation von Daten zu den primären Aufgaben von Bibliotheken.

Ihre Bibliothek gehört unter den 75 Bibliotheken der Max-Planck-Gesellschaft zu den größten. Spezialbibliotheken wie ihre in Hamburg bilden mit rund 2.500 Einrichtungen zugleich eine besonders heterogene Gruppe unter den wissenschaftlichen Bibliotheken in Deutschland. Dazu gehören „One Person Libraries“ mit wenigen 1.000 Medien wie auch Einrichtungen mit Millionen von Medien und einer zwei- oder sogar dreistelligen Zahl von Mitarbeitenden.

Vor allem in den Geistes- und Sozialwissenschaften sind Bibliotheken mit ihrem großen Bestand an Büchern nicht nur in gedruckter Form wie die Labore in den Naturwissenschaften (siehe Interview mit Peter Weber „Die Bibliothek – ein Labor“). Ohne sie ist Forschung nicht möglich. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können die Geschichte der Menschheit, von politischen Systemen und Rechtsordnungen nicht erzählen, ohne immer wieder auf die Originalquelle zurückzukehren. Jedes Buch verweist auf ein anderes, wie jeder Gedanke auf einem anderen aufbaut. 

Obwohl die Lesesäle und Gruppenarbeitsräume der wissenschaftlichen Bibliotheken noch sehr gut besucht sind, scheint ihre Aufgabe in Zeiten des Internets immer unklarer zu werden: Vor allem in den Naturwissenschaften – und hier vor allem in der Biologie und Medizin – fragt man sich zunehmend: Ist das Wichtigste nicht schon im Netz verfügbar? Welche Funktion hat die Bibliothek noch? Ist sie ein Lernort, ein Zentrum, das der Informationsbeschaffung dient, oder lediglich sozialer Treffpunkt?

Gemeinsam stark

Michael Knoche, der ehemalige Direktor der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar, hat ein nachdenkliches Buch über die Oasen des Wissens geschrieben. „Die Idee der Bibliothek und ihrer Zukunft“ heißt es. Es handelt davon, dass wissenschaftliche Bibliotheken eine Hauptaufgabe haben: die Verantwortung für die Verfügbarkeit des Wissens. Nach Michael Knoche geben Bibliotheken Auskunft über den jeweils erreichten Stand der Erkenntnis. Dazu müssen sie viel enger zusammenwirken als früher, die umfassende Erfüllung der stetig sich erweiternden Aufgaben von Bibliotheken funktioniert nur noch im Zusammenspiel.

Das haben die Max-Planck-Bibliotheken schon früh erkannt. Sie wählen aus ihren Reihen deshalb alle zwei Jahre einen Sprecherkreis von fünf Personen. Die Ehrenamtlichen organisieren regelmäßige Treffen, halten Kontakte zu anderen universitären und außeruniversitären Bibliotheken und der Max Planck Digital Library. Dabei spricht man über Themen, die bibliotheksübergreifend diskutiert werden müssen. Das ist angesichts der großen Veränderungen des wissenschaftlichen Forschens und Publizierens heute notwendiger denn je, weil die digitale Transformation nur gemeinsam und durch eine systematische Kooperation bewältigt werden kann.

Herausforderungen und Chancen der Digitalisierung

Dazu zählt auch die Sicherung digitaler Daten. Denn während viele die Macht des Buches unterschätzen, überschätzen sie die Langlebigkeit digitaler Daten. Papier ist nämlich geduldig, Bits und Bytes nicht. Deshalb müssen in Zeiten, in denen immer mehr digital publiziert wird, Daten auf digitalen Plattformen aktiv gesichert und zugänglich gemacht werden. Dieser noch zu lösenden Zukunftsaufgabe müssen sich alle Bibliotheken gemeinsam stellen.

Wesentlich weiter sind Bibliotheken schon jetzt, wenn es darum geht, Forschende beim digitalen Publizieren zu unterstützen. Weil öffentlich finanzierte Forschung frei verfügbar und möglichst vielfältig nutzbar sein soll, gilt dies besonders für das Publizieren von wissenschaftlichen Daten und Texten in Open Access, das „urheberrechtliches Know-how genauso voraussetzt wie fundierte Kenntnisse fachspezifischer Publikationsbedingungen“, so Sebastian Nix und Kerstin Schoof. Nur so könnten diese wichtigen "Rohstoffe" wissenschaftlicher Arbeit, die heute unter anderem mit Methoden von Text- und Data-Mining in ganz neuer Weise nutzbar sind, auch in Zukunft einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden. Dazu können Bibliotheken mit ihrer jahrhundertealten Expertise in der Auf- und Verbreitung wissenschaftlicher Information ganz wesentlich beitragen.

 

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