Forschungsbericht 2010 - Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb

Die Wende zum Privatrecht: Konfliktlösung nach der Deregulierung

Autoren
Podszun, Rupprecht
Abteilungen
Max-Planck-Institut für Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht, München
Zusammenfassung
Deregulierung und Public-Private-Partnerships des Staates verlagern Konflikte aus der Domäne des öffentlichen Wirtschaftsrechts ins Privatrecht. Zivilgerichte entscheiden. Diese Wende ist problematisch: Die ordnungspolitische Dimension zivilgerichtlicher Entscheidungen wird unterschätzt. Wenn öffentliche Interessen und Akteure vor Zivilgerichten eine stärkere Rolle spielen als bisher, wird die Freiheit der Marktteilnehmer eingeschränkt. Das Modell der Wirtschaftsordnung durch Privatrecht bedarf daher institutioneller und verfahrensrechtlicher Absicherungen.

Der Blick auf die Gasrechnung löst bei manchem Verbraucher ein Frösteln aus: Die Preise steigen, die Rechnungsdetails und Vertragsbedingungen wirken undurchschaubar. Das empfinden Verbraucher nicht zuletzt deshalb als Zumutung, weil ihnen anderes versprochen worden war: Die Öffnung der Energiemärkte für den Wettbewerb (Deregulierung) und die Privatisierung von Staatsunternehmen sollten eigentlich die Wirtschaftlichkeit steigern und die Kosten senken. Die Gaspreise wurden früher im Wesentlichen von Verwaltungsbehörden festgesetzt oder jedenfalls kontrolliert. Heute ist ihre Aushandlung eine Sache zwischen Verbraucher und Versorgungsunternehmen. Die Konsequenz ist: Wenn kommunale Verbraucherorganisationen, etwa die „Gaspreisrebellen“, die Höhe der Rechnungen überprüfen lassen wollen, wenden sie sich nicht mehr als Bittsteller an Behörden oder auf dem Klageweg an Verwaltungsgerichte. Sie rufen vielmehr Zivilgerichte an, die die vertraglich vereinbarten Gaspreise überprüfen sollen. Die Deregulierung hat also eine institutionelle Verschiebung mit sich gebracht: Es ist nicht mehr das öffentlich-rechtliche Verhältnis zwischen Staat und Bürger, sondern es ist ein Verfahren zwischen formal gleichgestellten Parteien vor einem ordentlichen Gericht. Dieser institutionelle und verfahrensrechtliche Wandel kann als eine „Wende zum Privatrecht beschrieben werden“. Diese Wende ist Gegenstand eines Forschungsprojekts am Max-Planck-Institut für Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht in München.

Deregulierung und Public-Private-Partnerships: Der Staat regiert anders

Seit 2003 hat sich der Bundesgerichtshof in fast zwanzig Entscheidungen mit Fragen der vertragsrechtlichen Energiepreiskontrolle befasst – eine enorme Zahl, die die Bedeutung dieses neuartigen Konflikts in der aktuellen Rechtsprechung veranschaulicht. Das Phänomen ist längst nicht auf die „Gaspreisrebellen“ beschränkt, sondern betrifft zahlreiche Verfahren in deregulierten Märkten. Immer öfter greift die öffentliche Verwaltung auch ohne eine Marktliberalisierung auf das Privatrecht als Instrument zurück, um Regelungen zu treffen, statt das ihr eigene, hoheitliche Befugnisinstrumentarium des öffentlichen Rechts auszuschöpfen. Die Maut-Erhebung auf Autobahnen ist dafür das bekannteste Beispiel. Statt selbst in hoheitlicher Form tätig zu werden, hat der Staat einen Vertrag mit einem privaten Konsortium geschlossen, das diese Tätigkeit übernimmt. Solche sogenannten Public-Private-Partnerships sind für viele öffentliche Aufgaben inzwischen das Mittel der Wahl. Deregulierungs- und Privatisierungsmaßnahmen haben in den vergangenen Jahren dramatisch zugenommen. Der Staat zieht sich so aus der direkten Steuerung der Wirtschaft immer stärker zurück, teilweise getrieben von fiskalischen Überlegungen, aber auch mit dem Versprechen, einen freieren Wettbewerb durchzusetzen. Rechtlich lässt sich dies am Übergang vom klassischen Wirtschaftsverwaltungsrecht zum Privatrecht ablesen. Damit rückt ein Akteur ins Zentrum der Wirtschaftsordnung, dessen ordnungspolitische Funktion bislang nicht ausreichend berücksichtigt wurde: Die Zivilgerichte, von den Landgerichten bis zum Bundesgerichtshof, müssen sich immer häufiger mit Konflikten befassen, die früher gar nicht auftreten konnten oder von Verwaltungsbehörden und -gerichten gelöst wurden. Privatrecht und Verwaltungsrecht sind zwei für Juristen ganz unterschiedliche Domänen mit ihren je eigenen Wertungen. Die Verschiebung eines Sachverhalts vom öffentlichen ins private Recht kann sowohl für den Fall selbst als auch für die Rechtstheorie große Auswirkungen haben.

Von Post bis Maut: Die Zivilgerichte sind gefragt

In dem Projekt des Münchner Max-Planck-Instituts für Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht wird diese „Wende zum Privatrecht“ erstmals einer systematischen Bewertung unterzogen. Die öffentlichen Institutionen haben sich über die Folgen dieser Wende in der Regel keine Gedanken gemacht. Ein „Privatisierungsfolgerecht“ für die Frage, wie neuartige Konflikte zwischen den Betroffenen zu lösen sind, existiert nicht. Auch die wissenschaftliche Diskussion war bislang von Staats- und Verwaltungsrechtlern dominiert. Sie nehmen zwar die Folgen für die staatliche Aufgabenerfüllung in den Blick, betrachten aber nur selten die Auswirkungen für die betroffenen Unternehmen und Verbraucher, den Wettbewerb auf den Märkten und das Privatrechtssystem. Dieses wurde lange Zeit in Deutschland als Ausdruck eines bestimmten Freiheitsverständnisses interpretiert.

Im Münchner Forschungsprojekt werden diese Folgen anhand von fünf Konflikten analysiert, die vor Zivilgerichten ausgetragen werden. Neben die Auseinandersetzungen um das Preisbestimmungsrecht bei Gaspreisen treten zwei weitere Konflikte, die ehemals staatlich organisierte Branchen betreffen:

  • Neue Postunternehmen und die Deutsche Post AG streiten um die Nutzung des Begriffs „Post“ als Marke. Seit mehreren Jahren zieht sich der Konflikt hin, und der Platzhirsch mahnt neue Konkurrenten regelmäßig ab. Rechtlich stellt sich die Frage, inwieweit in einem immaterialgüterrechtlichen System auch wettbewerbliche Wirkungen zu berücksichtigen sind, und wie der Gefahr, dass Gerichtsverfahren zu reinen Wettbewerbszwecken missbraucht werden, begegnet werden kann.
  • In der Frühphase des mobilen Telefonierens mussten sich neue Telefonunternehmen den Zugang zum Kunden gegen die Deutsche Telekom AG erkämpfen. Welche Werbung ist erlaubt? Wie muss die Telekom Aufträge auf Betreiberwechsel ausführen? Die Konstellation erinnert an den Markenrechts-Streit bei der Post, spielt aber in einer ganz anderen Arena: dem Recht des unlauteren Wettbewerbs, das durch rasche Verfahren und eine starke Wettbewerbsorientierung geprägt ist.

All diese Konflikte konnten vor der Deregulierung nicht oder nicht in dieser Form entstehen und Gerichte daher mit neuartigen, komplexen wirtschaftlichen Fragen konfrontieren.

Schließlich werden neben diesen typischen post-deregulativen Streitigkeiten zwei Bereiche untersucht, in denen sich die öffentliche Hand des Privatrechts bedient, um ihre Interessen durchzusetzen:

  • Bei der Mauterhebung wird die Eintreibung einer staatlich festgesetzten Gebühr einem Privaten – dem Toll-Collect-Konsortium – übertragen. Das hat die rechtlich merkwürdige Folge, dass Streitigkeiten über Mautfragen eher zufällig mal vor dem Zivil-, mal vor dem Verwaltungs- und mal vor dem Strafgericht landen. Obwohl der Sachverhalt in jedem Verfahren eigentlich derselbe ist, unterscheiden sich die offenen und verdeckten Maßstäbe, die die Gerichte anlegen.
  • Kommunen versuchen, mit sogenannten Einheimischen-Modellen die Bebauung ihrer Gebiete zu steuern. Hierzu verwenden sie aber nicht mehr die hergebrachten Instrumente des öffentlichen Baurechts, sondern schließen privatrechtliche Verträge mit Bauherren, um Ziele ihres öffentlichen Wirkens zu erreichen. Bei Konflikten entscheiden Zivilgerichte dann über Verträge zwischen ungleichen Parteien.

Defizite der Konfliktlösung: Das Privatrechtsmodell braucht Veränderungen

Erste Herausforderung für die Grundlagenforscher des Max-Planck-Instituts für Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht ist die Frage, nach welchem Maßstab die Konfliktlösung beurteilt werden soll. Was macht eine gute Konfliktlösung aus – abgesehen davon, dass Verfahren und Urteil in Einklang mit der Rechtslage stehen müssen? In der Rechtswissenschaft ist dies wenig beachtet worden. Grundfragen nach den Zielen des Privatrechts und des Verfahrensrechts werden aufgeworfen, die umstrittene Frage nach dem Verhältnis von Recht und Ökonomie muss beantwortet werden.

Die Auswertung der zahlreichen Verfahren zeigt gravierende Defizite der Konfliktlösung: Gerichte neigen dazu, das von der Parteiautonomie bestimmte Privatrecht mit öffentlichen Wertungen aufzuladen, zu „publifizieren“. Wenn die öffentliche Hand das Privatrecht bemüht, um ihre Interessen durchzusetzen, wird das diesem immanente Gleichheitsgebot in Mitleidenschaft gezogen. Wirtschaftlich komplexe Fragen scheinen die Gerichte gelegentlich zu überfordern. Es gelingt nicht, den Missbrauch der Justiz zu Wettbewerbszwecken einzudämmen.

Aufgrund der Unsicherheiten, die die Zivilgerichte zeigen, werden Branchen in einer vom Gesetzgeber nicht beabsichtigten Weise geprägt. Damit hilft die Justiz in vielen Fällen einseitig dem früheren staatlichen Monopolisten oder der öffentlichen Hand. Die negativen ordnungspolitischen Effekte werden durch die überlange Verfahrensdauer verstärkt. Im Ergebnis werden so die Kernaufgaben des Zivilprozesses, nämlich Parteiinteressen zu koordinieren, den eigentlichen Konflikt zu befrieden und die Grundlagen der Privatrechtsgesellschaft zu erhalten, nur mangelhaft erledigt.

Hinter der Wende zum Privatrecht, die in den empirisch untersuchten Konstellationen praktisch sichtbar wird, steckt möglicherweise eine ganze Philosophie der Wirtschaftsordnung: Sie ist Ausdruck eines Rückzugs des Staates, der erkannt hat, dass er mit den hergebrachten Instrumenten nicht mehr regieren kann. Er gibt zwar seine Ziele nicht auf, verlagert deren Durchsetzung aber zunehmend auf private Träger. Dieses Modell der Wirtschaftsordnung durch Privatrecht statt durch Wirtschaftsverwaltungsrecht setzt sich stetig durch und wird auch auf europäischer Ebene, etwa bei der privaten Kartellrechtsdurchsetzung, gefördert. Die Münchner Forschungen zeigen, dass es dadurch zu Verschiebungen kommt, bei denen zweifelhaft ist, ob sie politisch wünschenswert sind. Ist das nicht der Fall, müssen begleitende institutionelle und verfahrensrechtliche Veränderungen erfolgen. Andernfalls wird die Verheißung einer offeneren Wirtschaft mit mehr Wettbewerb heiße Luft bleiben – und es wird dem Verbraucher weiter frösteln, wenn er seine Gasrechnung liest.

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