Forschungsbericht 2010 - Max-Planck-Institut für Stoffwechselforschung

Hirnnetzwerke und Neuromodulation – Neue Wege zur Behandlung von Schlaganfall-Patienten

Autoren
Grefkes, Christian
Abteilungen
Forschungsgruppe Neuromodulation und Neurorehabilitation, Max-Planck-Institut für neurologische Forschung, Köln
Zusammenfassung
Der Schlaganfall ist in Europa die häufigste Ursache für eine dauerhafte Behinderung und mit schwerwiegenden Auswirkungen für die Patienten und die Gesellschaft verbunden. Mit Hilfe der funktionellen Bildgebung können neuartige Einblicke in die Funktionsstörung von Hirnarealen nach einem Schlaganfall gewonnen werden. Diese Erkenntnisse haben bereits jetzt die Entwicklung neuer Behandlungsmethoden ermöglicht, welche Störungen in Hirnnetzwerken beheben und somit neurologische Ausfallserscheinungen von Schlaganfall-Patienten vermindern können.

Einleitung

Eine fundamentale Eigenschaft des Gehirns liegt in seiner strukturellen und funktionellen Anpassungsfähigkeit an innere und äußere Einflüsse. Diese dem Gehirn inhärente Eigenschaft ermöglicht es nicht nur, Nervenkontakte zu knüpfen, um neue Gedächtnisinhalte abzuspeichern. Diese neuronale Plastizität ist auch eine Grundvoraussetzung für den Wiedergewinn motorischer, sprachlicher oder kognitiver Fähigkeiten nach einer Hirnschädigung. Die in Deutschland häufigste Ursache für eine permanente Behinderung ist der Schlaganfall. Jährlich erleiden ca. 250.000 Patienten eine relevante Durchblutungsstörung der Hirngefäße, in Folge derer es zu einem Sauerstoffmangel und somit zu einem unwiderruflichen Absterben von Hirngewebe kommt. Ein führendes Symptom bei Schlaganfall-Patienten sind motorische Defizite, welche bei über zwei Drittel aller Patienten nachweisbar sind [1]. Während sich einige Patienten auch von initial schweren Lähmungen gut erholen können, behalten andere Patienten ein permanentes Defizit, welches zu erheblichen Behinderungen bei den Aktivitäten des täglichen Lebens führt. Die Ursache dafür, dass sich nach einer Hirnschädigung einige Patienten besser erholen können als andere, ist jedoch noch unverstanden. Die Mechanismen, die zur Funktionserholung beitragen, können mit dem Verfahren der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) untersucht werden; die fMRT erlaubt die nicht-invasive Darstellung von Hirnaktivität mit einer Auflösung von wenigen Millimetern und stellt somit eine wichtige Brücke dar zur Erforschung struktureller und funktioneller Plastizitätsvorgänge nach Schlaganfall am lebenden menschlichen Gehirn.

Reorganisation von Hirnfunktion nach Schlaganfall

Bereits in den ersten Wochen nach einem Schlaganfall kann es zu einer deutlichen Besserung neurologischer Ausfallssymptome kommen. In einer fMRT-Studie konnte erstmalig gezeigt werden, dass die frühzeitige Erholung von einer Handlähmung mit spezifischen Änderungen der Hirnaktivität in beiden Hemisphären einhergeht [2]. Dabei zeigten insbesondere schwer betroffene Patienten mit zunehmender Erholung eine stetige Aktivitätszunahme motorischer Areale der gesunden Hemisphäre bei Bewegungen der gelähmten Hand (Abb. 1). Da die Aktivitätsänderungen zeitlich mit einem deutlichen Abstand zum Schlaganfall auftraten, muss es sich hierbei um ein Phänomen der synaptischen Plastizität handeln, welches eine Umorganisation von Hirnaktivität unter Einbeziehung der gesunden Hemisphäre ermöglicht [2]. Diese Überaktivität ist jedoch meist nur vorübergehend und klingt bei erfolgreicher Funktionserholung Monate nach dem Schlaganfall wieder ab (Abb. 1).

Die Bedeutung der Überaktivität von Arealen der gesunden Hemisphäre für die Funktion der gelähmten Hand kann jedoch durch eine reine Aktivierungsanalyse nicht geklärt werden, da hier lediglich die Aussage getroffen werden kann, wo im Gehirn Aktivitätsänderungen auftreten, nicht aber, wie sich diese Änderungen auf das gesamte motorische Netzwerk auswirken [3]. Für die Beantwortung derartiger Fragestellungen können neuartige Konnektivitätsanalysen herangezogen werden (Abb. 2A). Der Begriff „Konnektivität“ beschreibt die strukturelle oder funktionelle Vernetzung von Hirnregionen. Hier erlauben insbesondere Modelle der effektiven Konnektivität eine kausale Beschreibung von Wechselwirkungen zwischen Hirnregionen nach Schlaganfall. So konnte mit dieser Analyseform erstmals gezeigt werden, dass unmittelbar nach Auftreten einer Schlaganfall-bedingten Lähmung das Zusammenspiel motorischer Areale auch fernab der Hirnläsion schwer gestört ist (Abb. 2B). Mit zunehmender Erholung der motorischen Funktionen der Patienten erholte sich die Konnektivität sowohl innerhalb als auch zwischen den Hirnhälften [4]. Interessanterweise findet sich nach zwei Wochen ein unterstützender Einfluss der gesunden Hemisphäre bei der Durchführung von Bewegungen der gelähmten Hand (Abb. 2C). Dieser positive Einfluss ist jedoch nur vorübergehend und nach vier Monaten nicht mehr nachweisbar (Abb. 2D), [5]. Insgesamt scheint der vollständige Wiedergewinn motorischer Fähigkeiten weniger auf der Rekrutierung zusätzlicher Hirnregionen als vielmehr auf der Wiederherstellung der ursprünglichen Netzwerkstruktur zu beruhen (Abb. 1 und 2), [4; 5].

Gestörte Balance der Hemisphären bei anhaltenden Defiziten

Bei einigen Patienten könnte die Ursache eines anhaltenden motorischen Defizits nicht nur in dem Schlaganfall-bedingten Untergang von Hirngewebe liegen, sondern auch in einer unzureichenden oder sogar fehlgeleiteten Reorganisation fernab der primären Hirnläsion. Dies zeigt sich in der fMRT in einer persistierenden Überaktivität der gesunden Hemisphäre auch Monate und Jahre nach dem Schlaganfall-Ereignis (Abb. 3B und 4C). Diese Fehlentwicklung der Reorganisation bei anhaltenden neurologischen Ausfällen bietet einen neuartigen Ansatzpunkt in der Entwicklung von Rehabilitationsstrategien für Schlaganfall-Patienten.

Neuromodulation durch Medikamente

Neuromodulative Verfahren haben das Ziel, motorische oder kognitive Fähigkeiten durch Manipulation der ihnen zugrunde liegenden funktionellen Hirnnetzwerke zu beeinflussen. Ein neuromodulativer Ansatz zur Verbesserung motorischer oder kognitiver Fähigkeiten besteht in der pharmakologischen Stimulation von Nervenzellen über bestimmte Rezeptormoleküle. Tierexperimentelle Studien haben gezeigt, dass die Stimulation des Noradrenalin-Systems zu einem verbesserten Signal-zu-Rausch-Verhältnis im Entladungsmuster kortikaler Nervenzellen führt und somit die Informationsübertragungseffizienz in einem Hirnnetzwerk erhöht. Bei Patienten mit Hirnläsionen ist die Effizienz kortikaler Netzwerke meist herabgesetzt, sodass hier eine pharmakologische Stimulation zu einer Verbesserung der kortikalen Informationsverarbeitung und somit zu einer Verringerung von neurologischen Ausfallssymptomen führen könnte [6]. Die Erhöhung der Noradrenalin-Konzentrationen durch Gabe des Medikaments Reboxetin führt tatsächlich zu Verbesserungen basalmotorischer Fähigkeiten wie Griffkraft und Fingertipp-Geschwindigkeiten der gelähmten Hand (Abb. 3A). Mithilfe der fMRT und Konnektivitätsanalysen konnte gezeigt werden, dass es unter Reboxetin im Vergleich zu Placebo zu einer Verringerung der pathologischen Hirnaktivität kommt (Abb. 3B). Gleichzeitig wird die Kopplung motorischer Areale in der geschädigten Hemisphäre verstärkt, insbesondere zwischen dem Handareal der geschädigten Hemisphäre (primär motorischer Kortex, M1) und dem supplementär motorischen Areal (SMA) , das an der Steuerung von Willkürbewegungen beteiligt ist (Abb. 3C), [7]. Somit kann eine Stimulation des noradrenergen Systems durch Reboxetin die gestörte funktionelle Netzwerkarchitektur kortikaler Areale korrigieren, woraus eine Normalisierung pathologisch veränderter Hirnaktivität und Verbesserungen motorischer Parameter der gelähmten Hand resultieren.

Neuromodulation durch Magnetstimulation

Ein weiterer Ansatz der nicht-operativen Neuromodulation besteht in der gezielten Stimulation kortikaler Areale. Die repetitive transkranielle Magnetstimulation (rTMS) stellt ein schmerzfreies, nicht-invasives Verfahren dar, mittels dessen ultrakurze Magnetimpulse durch die Schädeldecke auf die Hirnrinde appliziert werden und somit die Erregbarkeit von Nervenzellen beeinflusst werden kann. Ein solches Verfahren kann also eingesetzt werden, um eventuelle hemmende Einflüsse der gesunden Hemisphäre nach Schlaganfall herabzuregulieren. Mithilfe der funktionellen Bildgebung konnte nachgewiesen werden, dass die Anwendung eines hemmenden rTMS-Protokolls über der motorischen Hirnrinde (Motokortex) der gesunden Hemisphäre von Schlaganfall-Patienten in der Tat zu einer Normalisierung krankhafter Überaktivität und einer Verbesserung der Fähigkeiten der gelähmten Hand führt (Abb. 4). Hierbei kam es nicht nur zu einer Reduktion des pathologischen Einflusses des gesunden Hemisphäre auf den Motokortex der geschädigten Hemisphäre (Abb. 4B), sondern auch zu einer Normalisierung zuvor pathologisch reduzierter Kommunikation zwischen Hirnregionen [8]. Die durch rTMS vermittelte höhere Effizienz der motorischen Netzwerkarchitektur könnte die neurobiologische Grundlage für die Funktionsverbesserung der gelähmten Hand darstellen.

Eine Alternativstrategie zur Verbesserung der Netzwerkstruktur von Schlaganfall-Patienten besteht in der Behandlung der geschädigten Hemisphäre [9]. Hier zeigte die Analyse der motorischen Verhaltensparameter, dass nach einer hochfrequenten, die Erregbarkeit steigernde rTMS über dem Motokortex der geschädigten Hemisphäre die Fähigkeiten der gelähmten Hand verbessert werden können. Jedoch nicht alle Patienten profitieren von der rTMS-Behandlung. Bei Patienten mit direkter Schädigung der motorischen Hirnrinde bewirkt eine solche Stimulation sogar eine vorübergehende Verschlechterung der gelähmten Hand. Auf neuraler Ebene zeigte sich bei diesen Patienten nach der rTMS-Behandlung eine deutliche Zunahme der pathologisch gesteigerten Aktivität beider Hemisphären. Dies könnte bedeuten, dass durch die Stimulation die bereits gestörte Funktion des Motokortex weiter kompromittiert wurde und so eine Gegenregulation in Arealen beider Hirnhälften hervorgerufen haben könnte. Mit anderen Worten: Wenn die Eintrittspforte der rTMS in das zu stärkende System gestört ist, können die rTMS-Effekte „verpuffen“ oder sich sogar ins Gegenteil verkehren, also zu einer weiteren Verschlechterung der funktionellen Netzwerkarchitektur führen.

Schlussfolgerungen und Ausblick

Der Einsatz funktionell bildgebender Verfahren ermöglicht in Kombination mit Konnektivitätsanalysen ein besseres Verständnis der physiologischen und pathologischen Zustände des motorischen Systems. Kortikale Reorganisationsmuster nach Schlaganfall können sich erheblich zwischen Patienten unterscheiden und stehen in engem Zusammenhang mit dem neurologischen Defizit in der Akutphase und dem funktionellen Outcome in der chronischen Phase. Eine individuelle Beurteilung der Konnektivität in Hirnnetzwerken von Patienten und eine entsprechende Interpretation klinisch beobachtbarer Symptome könnten zukünftig eine sensitivere Diagnostik, eine gezieltere Pharmakotherapie oder technische Neuromodulation sowie eine verbesserte Kontrolle des Therapieerfolges bei Schlaganfallpatienten ermöglichen.

G. Kwakkel, B. J. Kollen, and R. C. Wagenaar:
Long term effects of intensity of upper and lower limb training after stroke: a randomised trial.
Journal of Neurology, Neurosurgery, and Psychiatry 72(4), 473 (2002).
A. K. Rehme, G. R. Fink, D. Y. Cramon, and C. Grefkes:
The role of the contralesional motor cortex for motor recovery in the early days after stroke assessed with longitudinal fMRI.
Cerebral Cortex (epub) (2010). doi: 10.1093/cercor/bhq140.
K. Friston:
Beyond phrenology: what can neuroimaging tell us about distributed circuitry?
Annual Review of Neuroscience 25, 221 (2002).
A. K. Rehme, S. B. Eickhoff, L. E. Wang, G. R. Fink, C. Grefkes:
Dynamic causal modeling of cortical activity from the acute to the chronic stage after stroke.
Neuroimage (epub) doi:10.1016/j.neuroimage.2011.01.014 (2011).
C. Grefkes, D. A. Nowak, S. B. Eickhoff, M. Dafotakis, J. Kust, H. Karbe, and G. R. Fink:
Cortical connectivity after subcortical stroke assessed with functional magnetic resonance imaging.
Annals of Neurology 63(2), 236 (2008).
C. Grefkes, G. R. Fink:
Reorganization of cerebral networks after stroke: New insights from neuroimaging using connectivity approaches.
Brain (epub) (2011). doi:10.1093/brain/awr033
L. E. Wang,G. R. Fink, S. Diekhoff, A. K. Rehme, S. B. Eickhoff, C. Grefkes:
Noradrenergic enhancement improves motor network connectivity in stroke patients.
Annals of Neurology (epub) (2010). doi: 10.1002/ana.22237
C. Grefkes, D. A. Nowak, L. E. Wang, M. Dafotakis, S. B. Eickhoff, and G. R. Fink:
Modulating cortical connectivity in stroke patients by rTMS assessed with fMRI and dynamic causal modeling.
Neuroimage 50, 234 (2010).
M. Ameli, C. Grefkes, F. Kemper, F. P. Riegg, A. K. Rehme, H. Karbe, G. R. Fink, and D. A. Nowak:
Differential effects of high-frequency repetitive transcranial magnetic stimulation over ipsilesional primary motor cortex in cortical and subcortical middle cerebral artery stroke.
Annals of Neurology 66(3), 298 (2009).
Zur Redakteursansicht