"Wer seine Zukunft gestalten will, sollte die Wurzeln kennen."
Peter Gruss über das Erbe, das die Max-Planck-Gesellschaft als Nachfolgeorganisation der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft angetreten hat
Peter Gruss, ist seit 2002 Präsident der Max-Planck-Gesellschaft – der siebte seit ihrer Gründung vor 62 Jahren und Nachfolger von bedeutenden Wissenschaftlern, die schon zu Zeiten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft dieses Amt bekleideten. Zuvor war der renommierte Biologe Direktor am Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen – dem Gründungsort der Max-Planck-Gesellschaft. Das MaxPlanckJournal sprach mit ihm über sein Verhältnis zur Geschichte beider Forschungsorganisationen.
Welche Bedeutung hat für Sie das Jubiläum?
Peter Gruss: Es ist für die Max-Planck-Gesellschaft wichtig, sich ihrer Wurzeln bewusst zu werden und sich an die Gründung ihrer Vorgängerorganisation zu erinnern. Wichtig, weil die KWG Teil unserer Identität ist. Ihre wissenschaftlichen Organisationsprinzipien und ihr Renommee waren Basis für unsere erfolgreiche Entwicklung; gleichzeitig übernehmen wir für die ethischen Verfehlungen unserer Vorgänger Verantwortung. Insgesamt aber ist unser Verhältnis zur Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft heute von deutlichen Brüchen geprägt. Ich würde daher auch konstatieren: Nach über sechzig Jahren haben wir uns von der KWG emanzipiert.
Wie und mit welchen Schwerpunkten begeht die MPG das Jubiläum?
Peter Gruss: Wir werden am 11. Januar, also am Gründungstag und am Gründungsort mit einem Festakt an die Gründung der KWG von 1911 erinnern. Dieses Datum ist der Startschuss für hundert Jahre Grundlagenforschung auf Weltniveau. Gleichzeitig ist es Anlass zur Standortbestimmung. Für unsere erfolgreiche Entwicklung war zentral, dass die Alliierten 1945 auf der Auflösung der KWG bestanden. Man wollte bewusst die Neugründung einer Forschungsorganisation, die demokratischen Prinzipien verpflichtet war. Inzwischen blickt die MPG auf über sechzig erfolgreiche Jahre zurück und existiert damit länger als die KWG. Mit dem Festakt wollen wir Verbindendes und Trennendes beider Gesellschaften betonen. Es freut mich sehr, dass Altbundeskanzler Helmut Schmidt über „Freiheit und Verantwortung der Wissenschaft“ spricht und Rogers Hollingsworth den Wandel als Erfolgsmodell beider Einrichtungen beschreibt. Für die Öffentlichkeit werden wir in Städten mit mehreren Max-Planck-Instituten Podiumsdiskussionen und Vorträge veranstalten, um aktuelle Forschungsfragen unter ethischem Blickwinkel zu betrachten. Außerdem haben wir eine Podcast-Serie über die Nobelpreisträger der Max-Planck-Gesellschaft in Vorbereitung.
Welches Verhältnis hat die MPG zu ihrer Vorgängerorganisation?
Peter Gruss: Nur noch ein Viertel der Institute wurzeln in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Ein Drittel unserer Direktoren kommt aus dem Ausland. Damit ist die Erinnerung an die KWG an vielen Instituten nicht mehr sehr lebendig. Ich persönlich habe einerseits großen Respekt vor den vielen KWG-Wissenschaftlern, deren Forschungsleistungen das damalige Weltbild revolutionierten. Insgesamt wurden ja 15 Wissenschaftler mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Andererseits zeigt die KWG auch, dass Wissenschaft korrumpiert werden kann. So habe ich das Verhalten mehrerer Forscher im Dritten Reich vor Augen, die ethische Grenzen weit überschritten. Es hat für die Angehörigen und Opfer der Zwillingsforschung und Euthanasiemorde schmerzlich lange gedauert, bis die Max-Planck-Gesellschaft sich von der Vorstellung verabschieden konnte, in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft sei "reine" und damit vom verbrecherischen NS-Regime unabhängige Grundlagenforschung betrieben worden. Es ist mir deshalb ein besonderes Anliegen, dass die heutige Forschung ethische Fragen mitdenkt. Und hier hilft nicht nur der Blick zurück, man muss aus der Geschichte lernen, sich die Gefahr immer wieder vergegenwärtigen – auch wenn wir heute in ganz anderen politischen Umständen leben – und schließlich Maßnahmen im Sinne einer Selbstkontrolle entwickeln.
Wie versucht die MPG möglichem Forschungsmissbrauch vorzubeugen?
Peter Gruss: Der Blick für möglichen Forschungsmissbrauch ist in der MPG nicht erst geschärft, seit die Präsidentenkommission die Rolle der KWG im Dritten Reich untersucht hat. Wer Grundlagenforschung an den Grenzen des Wissens betreibt, sollte sich immer der ethischen Grenzen bewusst sein. Wir haben aber ein Gremium und Regelungen eingeführt, die sich ganz speziell dieser Problematik widmen. Der Ethikrat unter Vorsitz von Rüdiger Wolfrum nimmt darum in der Max-Planck-Gesellschaft zu aktuellen Fragen der Forschungsethik Stellung. Derzeit stehen die EU-Tierschutzrichtlinie, die synthetische Biologie und die Nanotechnologie auf der Agenda. Außerdem haben wir unsere „Regeln zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis“ vor einem Jahr nochmal überarbeitet. Im März 2010 hat unser Senat die „Hinweise und Regeln der Max-Planck-Gesellschaft zum verantwortlichen Umgang mit Forschungsfreiheit und Forschungsrisiken“ verabschiedet. Ganz besonders wichtig sind sie für die so genannten Fälle von "Dual Use": Ergebnisse aus der Materialforschung und Nanotechnologie können zur Entwicklung von Angriffswaffen führen; Forschung an Stammzellen kann zur Schaffung von Hybriden missbraucht werden und aus psychologischer Forschung könnten neue Foltermethoden oder aggressive Vernehmungstechniken erwachsen.
Wie hält die Max-Planck-Gesellschaft das Bewusstsein für die KWG wach? Interessieren sich internationale Wissenschaftler und Nachwuchswissenschaftler überhaupt noch für sie?
Peter Gruss: Das Traditionsbewusstsein ist in den einzelnen Instituten unterschiedlich und hängt davon ab, ob die Institute einen historischen Bezug zur Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft haben und sich mit ihrer eigenen Geschichte auseinandersetzen. Ein gutes Beispiel ist das Fritz-Haber-Institut, das gerade seine wechselvolle Historie zum Jubiläum des Instituts aufarbeitet. Der neue Internetauftritt der Max-Planck-Gesellschaft wird die Geschichte beider Organisationen interaktiv erzählen, auch der zum Jubiläum erscheinende Fotoessayband Denkorte bietet viele Ansätze. Außerdem wollen wir zur Jahresversammlung ein Sonderheft herausgeben, das die Festaktreden, die Geschichte, aber auch Aufarbeitung und Forschungshighlights zum Nachlesen enthält.
Was ist das Erfolgsgeheimnis der Max-Planck-Gesellschaft heute?
Peter Gruss: Die Max-Planck-Gesellschaft konnte auf Erfolgen der KWG aufbauen. Beide Organisationen haben ihren Wissenschaftlern weltweit beneidete Freiheiten eingeräumt. Die Max-Planck-Gesellschaft ist ein Ort gelebter Kreativität, was sich u.a. auch an 17 Nobelpreisträgern zeigt. Als kreative Einheit funktionieren unsere Institute - groß genug, um ausreichend kritische Masse zu versammeln, klein genug, um wendige „Schnellboote“ zu bleiben. Denn ein Geheimnis ist unsere Dynamik, Flexibilität und Bereitschaft, sich ständig zu verändern. Wenn ein Direktor geht, schließen wir seine Abteilung. Wenn wir weltweit keinen Spitzenforscher oder -forscherin in dem gewünschten Feld finden oder sich ein Fachgebiet wandelt, schließen wir auch ein Institut. Gleichzeitig vergewissern wir uns ständig der hohen Qualität, indem wir unsere Institute von über 700 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus der ganzen Welt alle zwei Jahre evaluieren lassen. Das gab es in der KWG nicht. Und: Freiheit des Denkens braucht finanzielle Rahmenbedingungen. Das Königsteiner Abkommen von 1949 sichert uns die Finanzierung durch Bund und Länder zu. Daneben ermöglichen es uns zunehmend auch Spenden – in jüngster Zeit insbesondere mithilfe der Max-Planck-Förderstiftung – Forschung flexibel zu unterstützen und unser Portfolio unbürokratisch auszubauen. Die Max-Planck-Gesellschaft betreibt keine Auftragsforschung, aber natürlich ist uns sehr wichtig, dass unsere Ergebnisse aus der Grundlagenforschung praktische Anwendung finden. Denn wir forschen an brennenden Menschheitsfragen wie der Seuchenbekämpfung, der Klimaforschung oder der Depressionsbehandlung. Wir arbeiten daher mit der Industrie zusammen und in letzter Zeit haben wir auch in der anwendungsorientierten Fraunhofer-Gesellschaft einen guten Partner gefunden. Derzeit kooperieren wir beispielsweise bei 17 Projekten.
Was waren Ihrer Meinung nach die größten Herausforderungen der MPG?
Peter Gruss: Die 1960er-Jahre bescherten der MPG ein enormes Wachstum, das sich in den Siebzigern fortsetzte. In Göttingen entstand beispielsweise 1972 das Institutszentrum auf dem Nikolausberg, in Martinsried bei München ein hochmodernes Biochemiezentrum. Die Wiedervereinigung stellte die MPG erneut vor eine spannende Aufgabe: Innerhalb weniger Jahre gründete die Max-Planck-Gesellschaft 18 neue Institute, ein Teilinstitut und ein Forschungsstelle. Zu den Herausforderungen gehört für mich auch, dass sich die Max-Planck-Gesellschaft nach Jahrzehnten eigenständiger und erfolgreicher Geschichte von der KWG emanzipiert hat, ohne die bestehenden Kontinuitäten und Brüche leugnen zu müssen. Die Aufarbeitung der Geschichte der KWG war dafür die maßgebliche Grundlage. Von ganz entscheidender Bedeutung wird sein, wie es uns in den kommenden Jahren gelingt, die Besonderheiten der Max-Planck-Gesellschaft in einem sich wandelnden nationalen, aber vor allem auch internationalen Umfeld zu bewahren. Denn wir alle wollen unsere erfolgreiche Grundlagenforschung auch nach 100 Jahren weiterführen.