Forschungsbericht 2010 - Kunsthistorisches Institut in Florenz - Max-Planck-Institut

Inselstädte

Autoren
Baader, Hannah; Caraffa, Costanza
Abteilungen
Kunsthistorisches Institut in Florenz, Max-Planck-Institut
Zusammenfassung
Inselstädte gibt es sowohl im wörtlichen als auch im metaphorischen Sinn. Ein Forschungsprojekt am Kunsthistorischen Institut in Florenz, MPI, widmet sich historischen und zeitgenössischen Inselstädten wie etwa Venedig, Tenochtitlan/Mexiko-Stadt, Stockholm, Manhattan, Dubai, Tyros, Mahdia, Syrakus, Gallipoli, Taranto, Dejima oder Koper. Parallel wird das Phänomen der Inselstadt auch auf einer abstrakteren Ebene betrachtet, wie etwa im Fall der Vatikanstadt, Westberlins oder verbundener Themen wie Utopia/Atlantis.

Insel und Stadt

Inseln sind geografische Formationen, die aus einer begrenzten Landfläche bestehen und sich aus dem Wasser über den Meeresspiegel erheben. Als Hybride zwischen Land und Meer schwanken sie auch auf kultureller Ebene zwischen Isolation und Interaktion. Die Geschichte der Kolonisation einer Insel ist von wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen durchwoben, die sie mit dem Festland, anderen Inseln oder einer ganzen Inselgruppe verbinden. Sie wird zugleich jedoch durch ihre separierte Lage bestimmt. Aufgrund der Ambivalenz, die auch in der Tier- und Pflanzenwelt ihre Spuren hinterlässt, sind Inseln hervorragende Beispiele für die Erforschung von kulturellen Dynamiken – etwa von Vermittlung und Austausch. Sie stellen zugleich ein starkes Motiv in einer Geografie des Imaginären dar.

Wie Inseln werden auch Städte historisch durch das Vorhandensein einer Grenze bestimmt. Hier sind es rituelle Konturen, befestigte Stadtmauern oder eine unbestimmtere Eingrenzung, welche die städtischen Siedlungen von der sie umgebenden Natur trennen. Die Anlage einer Stadt ist stets mit dem Vorhandensein eines „Innen“ und eines „Außen“ verbunden.

Inselstädte, die durch eine natürliche Grenze umschlossen und gleichzeitig von Menschen befestigt und gestaltet werden, können als eine paradigmatische Form der Stadt angesehen werden, die sich in besonderem Maße dazu eignen, im Hinblick auf die Interaktionen und Scharnierstellen zwischen dem Außen und dem Innen untersucht zu werden. Das Konzept der Inselstadt soll als Möglichkeit verstanden werden, die historischen und aktuellen Dimensionen von Isolation, von Verbindung und Beziehung zum Festland und der Produktion von Wissen in einer Art Laboratorium zu untersuchen, um so neue Instrumente der Interpretation und Analyse zu erproben.

Inseln in der Geografie- und Rechtsgeschichte

Matthew Fontaine Maury war Leiter des Naval Observatory der US-Marine und Leiter des Depots für Seekarten und -instrumente. Sein einflussreichstes Buch The Geography of the Sea, das 1855 veröffentlicht wurde, gilt heute als einer der ersten Versuche eines systematischen Ansatzes zur Meereskunde. Das Buch wurde unmittelbar nach der Veröffentlichung in zahlreiche Sprachen übersetzt und stieß nicht nur bei Seeleuten und Geografen, sondern auch bei Historikern und Künstlern wie Henri Michelet und Victor Hugo auf großes Interesse. Durch die Entwicklung eines neuen Messinstruments war Maury in der Lage, präzise und systematische Informationen über die Tiefe des Atlantischen Ozeans zu geben. Die erste Ausgabe seines Buchs enthält Tabellen mit präzisen Angaben und schematischen Darstellungen zu den neu vermessenen Tiefen des Ozeans. Inseln werden hier als die Gipfel sehr hoher Berge gezeigt, die zwar mitten im Wasser, jedoch auf einem messbaren Grund in der Tiefe des Meeres stehen. Ein strukturell ähnliches, aber ungenaueres Bild der unsichtbaren und unter Wasser liegenden Teile von Inseln wurde von dem frühneuzeitlichen Wissenschaftler Athanasius Kircher in seinem Mundus subterraneus geliefert, das 1678 in Amsterdam publiziert wurde.

Die Besonderheit von Inseln hängt – wie die jüngsten Ereignisse in Japan zeigen – auch mit ihrer geologischen Instabilität zusammen, die von den Bewegungen des Wassers wie auch der Erde abhängt. Der antike Geograf Strabo schrieb: „Wir können annehmen, dass ein großer Teil der Erde einst von Wasser bedeckt war (…) und dass derjenige Teil, der heute herausragt, uneben ist“ und „(…) derjenige Teil der Erde über dem Wasser, auf dem wir leben, ist Veränderungen unterworfen (…) denn der Meeresboden selbst hebt sich und senkt sich manchmal.“ Während dieser geologischen Prozesse, die von den kontinuierlichen Bewegungen des Meeresgrundes herrühren, können, wie die antiken Geografen meinten, kleine und selbst größere Inseln sich vom Grund des Meeres erheben und als neue Inseln aus dem Wasser auftauchen.

Durch Verlust und Zugewinn von Land aus dem Meer ergeben sich unter anderem rechtliche Probleme. Das Thema wurde im römischen Recht ebenso diskutiert wie unter den agrimensores, den römischen Feldvermessern. Das offenkundigste Problem ist die Entstehung neuer Inseln. Die meisten römischen Kommentatoren des Codex Justiniani stimmten überein, dass eine neugeborene Insel im Meer eine res nullius sei, das heißt niemandes Eigentum. Da das Meer aus rechtlicher Perspektive eine res communis, ein gemeinschaftliches Gut ist, gelte dies auch für die neue Insel. Diese rechtliche Dimension ist von nicht zu unterschätzender Relevanz, heute beispielsweise im Falle des sogenannten Fürstentums Sealand vor der englischen Küste oder – besonders im 19. Jahrhundert – bei der urbanistischen Gestaltung Manhattans.

Syrakus/Ortygia: Eine Fallstudie

Eine grundlegende Fallstudie des Forschungsprojekts widmet sich Ortygia, dem ursprünglichen Zentrum des antiken Syrakus auf Sizilien, das 734 v. Chr. von einer Gruppe korinthischer Siedler gegründet wurde. Von diesem kleinen Anhängsel des Kalksteinplateaus, das die südöstliche Küste Siziliens bildet, dehnte sich Syrakus auf das Festland aus und entwickelte sich zu einer Metropole des griechischen Mittelmeerraums, die durchaus in der Lage war, mit Athen zu konkurrieren.

Tatsächlich ist Ortygias geomorphologischer Status in den antiken Quellen nicht eindeutig festgelegt und schwankt zwischen Insel und Halbinsel. Auf jeden Fall bestand Ortygias Verbindung mit dem Festland stets und bis heute an einer einzigen Stelle. Die Grenze ist vielmehr durch die Küste als durch eine Stadtmauer definiert; der Zugang vom Land ist auf den Hauptzugang über die Landenge beschränkt. Das Meer, das die vorgelagerte Insel umgibt, macht sie über zwei Häfen zugänglich. Das Straßennetz war durch eine Brücke oder einen Damm mit den Festlandvierteln der griechischen Stadt und dem darüber hinausreichendem Gebiet verbunden. Ortygias Straßennetz erstreckte sich über das Umland bis zu den angrenzenden Zentren. Aufgrund des Stadtinselcharakters scheinen sich einige entscheidende Aspekte der Stadt in Bezug auf Erreichbarkeit und Ausgrenzung, Innen und Außen, Verbundenheit und Isolation, Abgrenzung und Expansion paradigmatisch in Ortygia zu kristallisieren.

Die Insellage der Stadt wurde in nachantiker Zeit, als sich die Besiedlung von Syrakus zunehmend auf den Bereich innerhalb der Mauern von Ortygia beschränkte, verstärkt. Der Zugang von der Landenge, die bereits von der Festung der Syrakusaner Tyrannen und dem späteren, römischen Prätorium dominiert wurde, wurde im Mittelalter von einer Burg aus verteidigt. Im 16. Jahrhundert begann der Bau imposanter Festungsanlagen, die um 1675 vollendet wurden: Die Landenge wurde abgetrennt und der Zugang durch ein kompliziertes System aus Wällen, Toren und Gängen kontrolliert. Damit war die Isolation der Insel vollständig. Die Befestigung der Stadtmauer und die Militarisierung des Zugangs vom Festland verstärkten die erzwungene Abgeschlossenheit der Insel und lösten damit Konflikte über die Inbesitznahme des Terrains aus. Die letztendliche Reduzierung Ortygias auf eine Insel-Festung war auch im Hinblick auf den Handel, der bis zu dieser Zeit floriert hatte, verhängnisvoll.

Der Übergang von einer geschlossenen zu einer offenen Stadt, eines der wichtigsten Phänomene der neuzeitlichen Urbanistik, wurde in Syrakus durch die italienische Einheit (1861) ausgelöst: Die spanischen Grenzanlagen zwischen Ortygia und dem Festland wurden bis um 1900 abgerissen. Die Wälle und Kasernen machten den neuen gleichmäßig angelegten Vierteln der bourgeoisen Stadt Platz, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf die Landenge und auf das Festland auszuweiten begannen. Der verschlungene Zugangsweg durch die Wälle wurde durch eine weite, geradlinige Brücke ersetzt. Dennoch bewahrten die Eingriffe den Inselcharakter Ortygias, der Teil der Identität der Stadt war. Auch unter symbolischen Gesichtspunkten konnte Syrakus seine Beziehung zum Meer zurückerlangen. So führten etwa die wichtigsten Prozessionen, die zuvor auf der Piazza del Duomo kulminierten, nun auch über die neue Promenade am Meer führten. Die Inselstadt baute ihre Fundamente neu und fand ihre identitätsstiftende Grundlage im Meer.

Ein Teilprojekt zielt darauf, die Stadtgeschichte von Syrakus/Ortygia zwischen etwa 1500 und 1940 neu zu überdenken. Das Konzept der Inselstadt sieht keine statische Definition vor: Die insulare Dimension bietet vielmehr einen produktiven Ausgangspunkt für eine Stadtgeschichte, die über die spezifische Fallstudie hinausgeht. In diesem Sinne stellt Syrakus ein Laboratorium dar, in dem einige Kategorien der Stadtgeschichte erfolgreich angewendet werden können, die für Stadtinseln besonders relevant sind. Das sich herausbildende Wesen des insularen Status und die Interaktion zwischen menschlichen und geomorphologischen Faktoren sind dabei vielleicht die wichtigsten.

Die durch Natur und Menschen verursachten Veränderungen – etwa die Versandung des Meerarmes zwischen der Insel und dem Festland oder die Abtrennung der Landenge – sind nicht nur an sich von Bedeutung, sondern auch aufgrund der Art und Weise, wie sie historisch wahrgenommen wurden. Die Schwierigkeiten bei der Interpretation der antiken Quellen zu Ortygia ließen die gebildeten Syrakuser des 16. und 17. Jahrhunderts mutmaßen, dass mit der Zeit eine Transformation von einer Insel zu einer Halbinsel stattgefunden habe, und ließ sie dadurch auch über die dynamische Natur des Status einer Stadtinsel reflektieren. Unter den Auswirkungen der interaktiven Prozesse sollte neben den Eingriffen an der Landenge die Änderung der Beziehung zwischen Land und Meer erwähnt werden. Der natürlich voranschreitenden Erosion der Küste ist das Bemühen um eine Vergrößerung der Inselfläche und eine Erhöhung der Küstenlinie mit Dämmen und Schutzwällen entgegengesetzt.

Die Frage nach Ressourcen ist besonders bedeutsam für Stadtinseln – vor allem, wenn man an Trinkwasser denkt, aber auch im Hinblick auf die Verfügbarkeit von Arbeitskräften. Die Ambivalenz zwischen Isolation und Interaktion, die die Stadtinseln charakterisiert, erlaubt es, neben der „Autarkie“ die Dynamiken des Austauschs auch und gerade im kulturellen Kontext zu untersuchen. Die zentrale Lage im Mittelmeer machte Syrakus zu einem Knotenpunkt von Reisen und der Verbreitung von Wissen: Wissen über den Bau von Verteidigungsanlagen (Archimedes), von Befestigungs- und Hafenanlagen bis zum Wissen über die Navigation. Trotz ihres heute provinziellen Status brachte Syrakus in der Neuzeit einerseits eine große Gruppe von Antiquaren und Wissenschaftlern hervor, die mit den modernsten Zentren wie Palermo und Rom in Kontakt standen. Andererseits konzentrierten sich hier antiquarische Studien zur glorreichen, griechischen Vergangenheit der Stadt. Der Gegensatz zwischen der Begeisterung für die vormalige Macht und dem Bewusstsein, dass diese unwiederbringlich verloren ist, wurde zum Kennzeichen rhetorischer Diskurse, die in und um Syrakus geführt wurden, sowie zu einem wesentlichen Faktor, der die urbanen Neugestaltungen in Ortygia beeinflusste.

Das Forschungsprojekt gründet auf einer Zusammenarbeit des Kunsthistorischen Instituts in Florenz – MPI (KHI) mit dem Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin (MPIWG).

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