Forschungsbericht 2010 - Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht

Die Architektur globaler Herrschaft: Internationale öffentliche Gewalt als Herausforderung für das Völkerrecht

Autoren
Goldmann, Matthias; Venzke, Ingo
Abteilungen
Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg
Zusammenfassung
In fast jedem Politikbereich sind internationale Institutionen zu wichtigen Akteuren erstarkt. Obwohl sie selten über eigene Zwangsmittel verfügen, lassen sich viele ihrer Maßnahmen als Ausübung öffentlicher Gewalt begreifen. Das öffentliche Recht muss Standards für diese neuen Formen öffentlicher Gewalt entwickeln, um sicherzustellen, dass sie fundamentalen Anforderungen von Demokratie und Rechtstaatlichkeit genügen. Darum geht es in einem Projekt des Heidelberger Max-Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht.

Wer regiert uns eigentlich? Für viele Menschen in Deutschland dürfte die Frage mit einem Hinweis auf die Institutionen der Macht in Brüssel und Berlin beantwortet sein. In letzter Zeit mussten sie allerdings erfahren, dass diese Aufzählung nicht mehr ganz vollständig ist. So hatten zwei Damen aus Berlin ihr Haus bereits einem Käufer übergeben, den Kaufpreis erhalten und ausgegeben, durften aber nicht der Eintragung des Käufers in das Grundbuch zustimmen. Der Käufer war nämlich zwischenzeitlich von einem Komitee des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen auf die Liste der Personen gesetzt worden, die er der Zusammenarbeit mit Al-Qaida und den Taliban verdächtigt. Ähnlich wird niemand, der sich mit Bildungspolitik beschäftigt, umhin kommen, sich mit der PISA-Studie der OECD auseinanderzusetzen. Die Einführung von Bildungsstandards ist nicht zuletzt ihr zu verdanken.

Die Schwierigkeiten mancher Banken während der jüngsten globalen Finanzkrise hängen mit der Entscheidung des Basler Komitees für Bankenaufsicht zusammen, die Kapitalausstattung von Banken am Insolvenzrisiko der einzelnen Bank statt an den Risiken für das gesamte Finanzwesen auszurichten. Auch im Bereich der Rechtsprechung treten internationale Gerichte zunehmend neben nationale und europäische Institutionen. So provozierte die Entscheidung der Hansestadt Hamburg, die Nutzungsbedingungen des Elbwassers für ein im Bau befindliches Stromkraftwerk des Energiekonzerns Vattenfall zu verschärfen, eine Klage des ausländischen Investors über 1,4 Milliarden vor dem International Center for the Settlement of Investment Disputes. Und die Berufungsinstanz der Welthandelsorganisation bleibt im langen Streit über europäische Einfuhrbeschränkungen für hormonbehandeltes Fleisch bei ihrer Entscheidung, dass diese das Freihandelsabkommen verletzen.

Die Rolle internationaler Institutionen

Die Aufzählung ließe sich leicht verlängern. In fast jedem Politikbereich sind internationale Institutionen inzwischen zu wichtigen Akteuren erstarkt. Obwohl sie ihre Maßnahmen selten mit eigenen Zwangsmitteln durchsetzen können, lassen diese sich als Ausübung von öffentlicher Gewalt begreifen. Der Begriff der öffentlichen Gewalt umfasst alle Maßnahmen, mit denen ein Kollektiv sein Zusammenleben organisiert. Sie können, müssen aber nicht rechtsverbindlich sein, solange es den Teilnehmern des Kollektivs, also Staaten und Individuen, nur hinreichend schwer gemacht wird, sich diesen Maßnahmen zu entziehen. So kann ein Staat zwar theoretisch die unverbindlichen Richtlinien zur Geldwäschebekämpfung der von der G8 initiierten Financial Action Task Force ignorieren. Faktisch droht ihm dann aber der Ausschluss von den internationalen Kapitalmärkten. Ähnlich gerät eine Regierung, die ihre PISA-Ergebnisse ignoriert, schnell in den Ruf, die langfristige Entwicklung ihres Landes zu gefährden.

In den meisten Fällen gibt es gute Gründe, Hoheitsgewalt auf internationale Institutionen zu verlagern. Angesichts der globalen Dimension vieler Herausforderungen in Wirtschaft und Gesellschaft stoßen staatliche Institutionen schnell an ihre Leistungsgrenzen. Selbst in Bereichen wie der Bildungspolitik, auf die diese Feststellung nicht uneingeschränkt zutrifft, können Maßnahmen internationaler Institutionen neue Einsichten liefern und Reformblockaden lösen. Internationale Gerichte tragen dazu bei, den Frieden zu sichern, Menschenrechte zu stärken, internationale Verbrechen zu verfolgen, wirtschaftliche Zusammenarbeit zu fördern und transnationale Investitionen zu erleichtern.

Legitimation und rechtliche Grundlagen

Diese Vorteile gehen einher mit Veränderungen in der Architektur und Kultur des Regierens, die Fragen aufwerfen. Die Distanz zwischen den Bürgern und den Entscheidungszentren in Brüssel, Washington oder New York vergrößert sich. Dazu gesellt sich eine verstärkte, undurchsichtige Bürokratisierung der Entscheidungsmechanismen. Die eigentliche Arbeit an den Programmen internationaler Organisationen übernehmen in vielen Fällen Gremien, die in den Händen internationaler Expertenzirkel liegen und sich aus Regierungsmitarbeitern, Beamten internationaler Organisationen, Wissenschaftlern sowie Vertretern von Interessengruppen rekrutieren. Ihre überlegene Sachkompetenz erschwert die Kontrolle durch politisch verantwortliche Entscheidungsträger auf nationaler wie internationaler Ebene.

Drastischer noch sind die Einschränkungen im Rechtsschutz für jene, die von den Maßnahmen des Sicherheitsrats zur Bekämpfung des Terrorismus betroffen sind. Anfangs wurden einfach ihre Konten eingefroren, ohne dass die Betroffenen die Gründe in Erfahrung bringen konnten, die sie zum Ziel solcher Maßnahmen gemacht hatten. Die rechtliche Grundlage, auf der internationale Gerichte entscheiden, ist häufig Produkt ihres eigenen Wirkens. Die Schutzstandards für ausländische Investitionen sind zum Beispiel maßgeblich durch die Rechtsprechungspraxis selbst entwickelt worden. Einen funktionalen internationalen Gesetzgeber, der auf diese Rechtsprechung adäquat reagieren könnte, gibt es nicht. Im Ergebnis wird das Recht zunehmend von der politischen Legislative, dem wichtigsten Ort demokratischer Legitimation, abgekoppelt. Dies alles geschieht in einer Zeit, in der die Bürger sogar die Entscheidungen demokratisch gewählter Instanzen zunehmend infrage stellen und für sich in Anspruch nehmen, selbst die Entscheidung in Sachfragen zu treffen.

Damit stellt sich die Frage, ob die Zwecke der internationalisierten öffentlichen Gewalt wirklich jedes Mittel rechtfertigen können. Wenngleich die meisten Aktivitäten internationaler Institutionen nach dem geltenden Recht an und für sich unbedenklich sind, drängt sich die Frage auf, ob sie immer ausreichend legitimiert sind. Trägt die ursprüngliche Zustimmung eines Staats zum Gründungsstatut einer internationalen Institution die unbegrenzte Weiterentwicklung dieses Statuts in der Praxis seiner Exekutiv- und Judikativorgane? Welchen materiellen und prozeduralen Anforderungen sollten internationale Institutionen genügen, damit die von ihnen ausgeübte öffentliche Gewalt als legitim erachtet werden kann? Wie ist mit der Hoheitsgewalt internationaler Gerichte umzugehen, insbesondere mit ihrer Rechtschöpfung?

Herausforderungen für die Wissenschaft

Mit diesen Fragen beschäftigt sich seit 2007 ein Projekt am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg. Neue Formen öffentlicher Gewalt stellen immer auch eine Herausforderung für das öffentliche Recht dar. Seit dem Zeitalter der Aufklärung sehen Denker in der abendländischen Tradition die Aufgabe des öffentlichen Rechts in der Begründung und Begrenzung von öffentlicher Gewalt. Nur das Medium des öffentlichen Rechts erlaubt es, die Autonomie des Individuums mit den freiheitsbeschränkenden Maßnahmen in Einklang zu bringen, die für die Organisation der Gesellschaft erforderlich sind. Schon Immanuel Kant konzipierte das Völkerrecht als das öffentliche Recht einer zwischenstaatlichen „Föderalität“, einer Friedensordnung zwischen unabhängigen Staaten. Im 19. Jahrhundert begannen diese Ideen eine konkrete rechtliche Gestalt anzunehmen, mit geschriebenen Verfassungen und einem Verwaltungsrecht, das die wachsende wohlfahrtsstaatliche Bürokratie regelte. Im 20. Jahrhundert führte die Ausbreitung von Verfassungsgerichten und internationalen Gerichten zu weiteren Quantensprüngen in der rechtlichen Einhegung öffentlicher Gewalt. Auch neu geschaffene Institutionen wie die Europäische Union konnten sich diesem Trend nicht entziehen und entwickelten demokratische Strukturen auf rechtsstaatlicher Grundlage. Das öffentliche Recht ist damit ein höchst dynamischer Bereich des Rechts, der sich parallel zu den Institutionen der Macht verändert hat.

Eine der zentralen Herausforderungen für das öffentliche Recht unserer Zeit besteht darin, rechtliche Grundlagen und Grenzen für die vielfältigen Formen internationaler öffentlicher Gewalt zu konzipieren. Denn die Aufgaben und Tätigkeitsfelder internationaler Institutionen entwickeln sich inkrementell und spontan. Es gibt oft keine brauchbaren Standards, an denen sich neue Formen der öffentlichen Gewalt orientieren könnten. Wie weit reichen ihre satzungsmäßigen Kompetenzen? Welche Möglichkeiten der Beteiligung sollten sie den Betroffenen einräumen? Welche Informationen sollten sie offenlegen müssen? Welche Rechtsschutzgarantien müssen sie einräumen? Wer sollte an Verfahren vor internationalen Gerichten oder Schiedsgerichten teilnehmen dürfen? Und was ist die Rolle nationaler Verfassungsorgane im Umgang mit internationaler öffentlicher Gewalt?

Die Entwicklung eines sorgfältig austarierten öffentlichen Rechts, das die Legitimität und zugleich die Effektivität von internationaler öffentlicher Gewalt garantiert, ist eine wichtige Aufgabe der Rechtswissenschaft. Die Anforderungen an die wissenschaftliche Arbeit sind dabei denkbar hoch. Sie muss empirische und multidisziplinäre Elemente umfassen, um die konkreten politischen Probleme zu verstehen, deren Lösung internationale Institutionen erstreben. Sie muss philosophisch sattelfest sein, um glaubwürdige Prinzipien hervorzubringen. Sie muss international anschlussfähig sein. Und sie erfordert die Bildung gemeinsamer Begriffe, damit Vergleiche und gebiets- sowie institutionenübergreifende Vorschläge möglich werden. Dies alles erfordert einen Prozess des gegenseitigen Lernens, der sich über einen längeren Zeitraum erstreckt.

Das Projekt des Heidelberger Instituts ist in dieser langfristigen Perspektive konzipiert. Es umfasst mehrere Phasen von jeweils zwei- bis dreijähriger Dauer. Fallstudien ermöglichen vielschichtige Analysen internationaler Institutionen, Querschnittsanalysen steuern interdisziplinäre Perspektiven bei und treiben die konzeptionelle Entwicklung voran. Die Einbindung in einen internationalen Forschungskontext mit Beiträgen aus den USA, Europa und Israel fördert schließlich kritische Distanz und Anschlussfähigkeit. Ein erstes Ergebnis dieser Arbeit ist der Band zur Ausübung öffentlicher Gewalt durch internationale Institutionen [1], dem ein zweiter Band zu internationalen Gerichten folgt [2]. Weitere Instituts- und Dissertationsprojekte, zum Beispiel zum Recht der Entwicklungszusammenarbeit, sind in den Kontext des Projekts eingebunden.

Werden wir in zwanzig oder dreißig Jahren in internationalen Institutionen transparentere, demokratischere, verantwortlichere Strukturen vorfinden? Ohne äußeren Druck dürfte es kaum zu substanziellen Verbesserungen kommen. Wenn er nicht von den nationalen Regierungen ausgeht, könnte er von den staatlichen und supranationalen Gerichten kommen, die internationalen Institutionen die Gefolgschaft verweigern, sofern sie nicht gewissen Mindeststandards genügen. Wie das funktionieren kann, zeigt das eingangs erwähnte Beispiel der Liste terrorismusverdächtiger Personen: Der Sicherheitsrat besserte, wenngleich zaghaft, beim Rechtsschutz für die Betroffenen nach und reagierte damit auf Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs sowie nationaler Gerichte. So mühsam dieser Prozess ist, so unverzichtbar ist er für die Herausbildung rechtsstaatlicher und demokratischer Herrschaftsstrukturen auf internationaler Ebene. Seine Begleitung und Förderung muss daher ein Kernanliegen der Rechtswissenschaft unserer Zeit sein.

A. von Bogdandy, R. Wolfrum, J. von Bernstorff, P. Dann, M. Goldmann (Eds.):
The Exercise of Public Authority by International Institutions: Advancing International Institutional Law.
Springer, Heidelberg 2010.
A. von Bogdandy, I. Venzke (Eds.):
Beyond Dispute? International Judicial Institutions as Lawmakers.
German Law Journal 12, 3 (2011).
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