Forschungsbericht 2010 - Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht

Gibt es typische kriminelle Karrieren?

Do typical criminal careers exist?

Autoren
Grundies, Volker
Abteilungen
Kriminologische Abteilung (Hans-Jörg Albrecht)
Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, Freiburg
Zusammenfassung
In der Kriminologie versteht man unter age crime curve den Anstieg delinquenten Verhaltens in der Jugend und den anschließenden Rückgang mit dem Alter. Dieser Zusammenhang gilt als unveränderlich, weil er kaum soziokulturell bedingt ist und bei verschiedenen Deliktsformen wenig variiert. Wie sich aber diese Kurve aus individuellen Verläufen zusammensetzt, ist sehr umstritten. Um diese Frage zu beantworten, wurden in einem Projekt am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht Daten aus einer Kohortenstudie mit der Group-based-Trajectory-Methode analysiert.
Summary
In criminological research the strong dependency of criminal behaviour on the age of the offender is generally described as the “age crime curve”. This correlation is considered to be invariant, as it is hardly determined by socio-cultural factors and varies only slightly amongst different offences. However, it is a controversial issue how this curve is composed with regard to the trajectories of individual offenders. Researchers at the Max Planck Institute for Foreign and International Criminal Law analysed data of the Freiburg Cohort Study by applying the group based trajectory model.

Theorien zur Entwicklung krimineller Karrieren

Kriminologische Theorien sagen den Verlauf individueller Karrieren gemäß ihren Grundannahmen ganz unterschiedlich voraus. Persönlichkeitszentrierte Theorien [2] erklären den Verlauf individueller Karrieren als genauso invariant wie die Age-Crime-Kurve (ein bestimmter, allgemeingültiger Zusammenhang von Alter und Kriminalität) selbst und lassen nur eine Änderung der individuellen Intensität der Ausprägung zu, die von der spätestens im Kindesalter endgültig entwickelten Selbstkontrolle abhängt. Entwicklungstheorien dagegen [3, 4, 5] gehen davon aus, dass Verhaltensänderungen in jedem Alter aufgrund der Interaktion zwischen den Individuen und der Gesellschaft stattfinden, wenngleich diese Verhaltensänderungen sich in bestimmten Altersstufen häufen und das Verhalten auch unter dem Gesichtspunkt der sozialen Rolle ein großes Beharrungsvermögen aufweist. Gruppen-Taxonomien [6, 7] unterscheiden zwischen der kleinen Gruppe chronischer Straftäter (life-course-persistent offenders) und der großen Gruppe der episodenhaften Jugendstraftäter (adolescent-limited offenders) mit entsprechenden Karrieren.

In Abbildung 2 ist in der ersten Abbildung zum einen eine empirische age crime curve (justizielle Registrierungen deutscher Männer in Baden-Württemberg) zu sehen. Zum anderen wurde versucht, die nach den erwähnten Theorien erwartbaren individuellen Verläufe delinquenten Handelns typisiert darzustellen. Abgesehen von den Vereinfachungen, die mit jeder Typisierung verbunden sind, ist dies besonders bei Theorien schwierig, die sich gerade dadurch Prognosen entgegenstellen, dass sie die Vielfalt betonen. Dennoch zeigt die Abbildung, welche unterschiedlichen Verläufe auf individuellem Niveau nach den Theorien zu erwarten sind.

Das Group-based-Trajectory-Modell in der Anwendung

Um nun auf der Basis von Längsschnittdaten mögliche unterschiedliche Verläufe (trajectories) extrahieren zu können, bietet sich das Group-based-Trajectory-Modell von Nagin und Land an [8, 9]. Diese Methode prüft eine Struktur, die aus den Gruppengrößen und den zugehörigen Verläufen besteht, auf ihre Gesamtanpassung an die Daten (das heißt den individuellen Verläufen) hin und variiert sie sukzessive, bis diese Anpassung optimal wird. Ergebnis ist ein Gefüge aus Gruppen(-größen) und den zugehörigen Verläufen, die die in den Daten enthaltenen Strukturen so gut wie möglich erfassen. Hier ist kritisch zu fragen, ob nicht eine Methode, die a priori davon ausgeht, dass Gruppen existieren, diese zwangsläufig erzeugt, obwohl es sie tatsächlich gar nicht gibt. Diese Kritik trifft dann zu, wenn die untersuchte Verteilung, so komplex sie auch sei, keine Häufungen von bestimmten Verläufen enthält, sondern ein mehr oder weniger kontinuierliches Spektrum dieser Verläufe umfasst. In diesem Fall dienen die dann fiktiven Gruppen dazu, diese – möglicherweise komplexe – kontinuierliche Verteilung zu approximieren. Die Differenzen zwischen den Gruppen sind dann meist nicht mehr inhaltlich begründbar, sondern werden „nur“ durch die Bedingungen der Optimierung der Anpassung bestimmt, die statistischen Gesichtspunkten folgt.

Die Freiburger Forscher haben die justiziellen Registrierungsdaten der Geburtskohorte 1970 über eine Altersspanne von 14 bis 32 Jahren analysiert. Dabei wurden jeweils die jährliche Anzahl an Registrierungen bezüglich Verstößen gegen das Strafgesetzbuch (StGB) wie auch schwerer Verkehrsdelikte als gleichgewichtete Indikatoren delinquenten Verhaltens angesehen, unabhängig davon, welche Sanktion ausgesprochen wurde. Eine andere Analyse ohne Verkehrsdelikte und Einstellungen nach dem Jugendgerichtsgesetz (JGG) hat im Wesentlichen zu gleichen Ergebnissen geführt. Insofern ist es zumindest in diesem ersten Schritt der Analyse nicht notwendig, nach Art der Delikte zu differenzieren. Insgesamt beruht die Analyse auf Verläufen (Registrierungskarrieren) von circa 21.000 Personen, die jeweils mindestens einmal registriert wurden.

Am besten beschreibt ein Modell mit sieben Gruppen die Daten, wobei die Anzahl der Gruppen selbst anhand eines statistischen Kriteriums (Bayesian Information Criterion, BIC) bestimmt wurde. Das BIC wägt die Güte der Übereinstimmung zwischen Modell und Daten und die sparsame Formulierung des Modells, das heißt hier: die Anzahl der Gruppen, gegeneinander ab. Die Age-Crime-Kurve der untersuchten Population wird mit diesem Modell exakt beschrieben. Allerdings zeigen die Gütewerte des Modells, dass die in den Daten enthaltenen Strukturen nur bedingt erfasst werden und die Varianz der Daten nur zu einem Teil aufgeklärt wird. Darüber hinaus ist die Zuordnung der Einzelnen zu den Gruppen, die bei dieser Methode a posteriori berechnet wird, keinesfalls so trennscharf, wie man das wünschen könnte. Im Mittel beträgt die Zuordnungswahrscheinlichkeit der Einzelnen zu einer bestimmten Gruppe 68 Prozent. Dies bedeutet, dass die Einzelnen häufig mehr als einer Gruppe zugehören. Die Charakteristika der einzelnen Gruppen schließen sich also teilweise nicht aus und die Gruppen „überlappen“ sich. Möglicherweise handelt es sich aber auch hier nur um fiktive Gruppen.

Erkenntnisse aus der statistischen Analyse

Die Gruppen unterscheiden sich im Wesentlichen in zwei Punkten: der Häufigkeit, mit der die Registrierten erfasst wurden, und den Altersbereichen, in denen diese hauptsächlich auftreten. Es gibt drei große Gruppen, deren Mitglieder nur wenige Registrierungen aufweisen und die zusammen insgesamt 87 Prozent der Registrierten umfassen. Die restlichen 13 Prozent der Registrierten verteilen sich auf vier Gruppen, die hohe Registrierungsraten aufweisen. In den Abbildungen 3 und 4 sind die mittleren Anzahlen an Registrierungen, die für typische Gruppenmitglieder erwartet werden, nach Alter dargestellt.

Die Mitglieder der Gruppe 1 haben beispielsweise mit einer Wahrscheinlichkeit von 25 Prozent eine Registrierung im Alter von 16 Jahren. Summiert man über die Jahre 15 bis 19 auf, so ist die mittlere Anzahl der Registrierung minimal größer als 1, das heißt, fast alle Mitglieder der Gruppe 1 haben in dieser Alterspanne eine Registrierung. Einige Mitglieder der Gruppe 1 (circa 40 Prozent) haben zusätzlich eine oder in seltenen Fällen auch mehrere (< 5) weitere Registrierungen, die dann auch in eine andere Alterspanne fallen können. Der aufgezeigte Gruppenverlauf gibt folglich nur die Wahrscheinlichkeit wieder, mit der es im Allgemeinen an einem bestimmten Zeitpunkt im Lebenslauf zu einer, meist einmaligen, justiziellen Reaktion kommt. Er kann nicht als individueller Verlauf gesehen werden, da sich ein solcher (bei einer Registrierung) nur als flache Nulllinie darstellen ließe, die im Registrierungsjahr durch eine kurze Zacke unterbrochen würde. Dies gilt entsprechend auch für die Gruppen 2 und 3, deren Mitglieder, wie die der Gruppe 1, im Mittel 1,8 Registrierungen in der betrachteten Alterspanne haben, wobei etwa 60 Prozent nur eine Registrierung aufweisen. Vereinfacht betrachtet handelt es sich damit bei allen drei Gruppen um Einmal-Registrierte.

Die Gruppe der einmal oder nur selten Registrierten wird durch die Group-based-Trajectory-Analyse je nach Alter bei der Registrierung Gruppen zerlegt. Allerdings erscheint dies aus kriminologischer Perspektive angesichts der kontinuierlichen Übergänge (Überlappungen) zwischen diesen drei Altersgruppen (Abb. 3) als sinnlos und willkürlich. Hier bestätigt sich die von Kritikern geäußerte Vermutung, dass durch die Methode eine an sich kontinuierliche Verteilung durch eine Anzahl von Gruppen approximiert wird, die in wichtigen Aspekten als beliebig zu bezeichnen ist.

Eine ähnliche Aufteilung des Altersbereichs wie bei den einmal oder selten Registrierten ist auch bei den Gruppen 4, 5 und 7 der häufiger Registrierten zu beobachten. Die Mitglieder dieser Gruppen weisen im Durchschnitt circa 7 bis 8 Registrierungen auf, die sich auf einen bestimmten Altersabschnitt konzentrieren. Daraus lässt sich schließen, dass auch bei einer Mehrheit der häufiger Registrierten die Karrieren nur mittelfristig andauern, sonst könnte es nicht zu solchen auf bestimmte Altersbereiche beschränkten Verläufen kommen. Andererseits macht gerade die relativ gleichmäßige Aufteilung des gesamten Bereichs, wie schon bei den „Einmal-Registrierten“, stutzig. Vermutlich sind auch hier eher fiktive Gruppen, die eine kontinuierliche Verteilung wiedergeben, als kriminologisch unterscheidbare Gruppen zu sehen.

Die Gruppe 6 ist die einzige, deren Verlauf mit fast gleichbleibender Registrierungshäufigkeit den gesamten beobachteten Altersbereich überspannt. Sie erfasst mit durchschnittlich 14 Registrierungen pro Person die kleine Gruppe der chronisch Delinquenten (circa 2 Prozent), wobei es aber fließende Übergänge zu den Gruppen 4, 5 und 7 gibt. Möglicherweise entspricht diese Gruppe den von Moffitt postulierten life course persistent offenders [6, 7], die aber hier nur als extreme Fälle aller möglichen kriminellen Karrieren auftauchen.

Fazit

Die erfassten kriminellen Karrieren zeichnen sich durch große, aber gleichmäßig verteilte Vielfalt an einzelnen Verläufen aus. Sie unterscheiden sich in ihren drei Kenngrößen Einstiegsalter, Häufigkeit der Registrierungen und Dauer der Karriere. Aus diesem breiten Spektrum an möglichen Ausprägungen lassen sich keine typischen Verläufe extrahieren. Die mit der Group-based-Trajectory-Methode gefundenen Gruppen erweisen sich als fiktive Approximationspunkte einer kontinuierlichen Verteilung.

Damit werden die Taxonomien von Moffitt und anderen infrage gestellt, müssten doch gerade die beiden von der Taxonomie postulierten Gruppen in einer solchen Analyse als reale, unterscheidbare Gruppen erkennbar sein.

Auch an der Persönlichkeitstheorie werden Zweifel laut. Zwar sind nach dieser Theorie auch nur fiktive Gruppen zu erwarten, doch müssten sich die einzelnen Verläufe der Gruppen (Abb. 2) jeweils über den gesamten Altersbereich erstrecken. Damit zeigt sich einmal mehr die Vielfältigkeit individuellen delinquenten Verhaltens, das sich auch komplexen theoretischen Einordnungen weitgehend entzieht.

V. Grundies (Leitung)
Kohortenstudie zur Entwicklung polizeilich registrierter Kriminalität und strafrechtlicher Sanktionierung.
Freiburg, Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht.
M. Gottfredson, T. Hirschi
A General Theory of Crime.
Stanford University Press, Stanford 1990.
J. H. Laub, R. J. Sampson
Shared Beginnings, Divergent Lives: Delinquent Boys to Age 70.
Harvard University Press, Cambridge 2003.
R. J. Sampson, J. H. Laub
Crime in the Making: Pathways and Turning Points through Life.
Harvard University Press, Cambridge 1993.
R. L. Akers
Social Learning and Social Structure: A General Theory of Crime and Deviance.
Northeastern, Boston 1998.
T. E. Moffitt
Adolescence-limited and Life-course-persistent Antisocial Behavior: A Developmental Taxonomy.
Psychological Review 100, 4, 674–701 (1993).
G. Patterson, K. Yoerger
Developmental Models for Delinquent Behavior.
In: Mental Disorder and Crime. (Ed.) S. Hodgins. Sage, Newbury Park 1993, 140–172.
D. S. Nagin, K. C. Land
Age, Criminal Careers, and Population Heterogenity: Specification and Estimation of a Nonparametric, Mixed Poisson Model.
Criminology 31, 3, 327–362 (1993).
D. S. Nagin
Group-Based Modeling of Development.
Harvard University Press, Cambridge 2005.

Weitere interessante Beiträge

Zur Redakteursansicht