Forschungsbericht 2010 - Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik

Der Sozialstaat in der Europäischen Union

Autoren
Becker, Ulrich
Abteilungen
Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Sozialrecht, München
Zusammenfassung
In seiner Entscheidung zum Lissabonner Vertrag hat das Bundesverfassungsgericht die Rolle des Staates in Zeiten zunehmender internationaler Verflechtung betont und sozialstaatliche Interventionen zu dessen Kernaufgaben gezählt. Inwieweit gefährdet die europäische Integration die Wahrnehmung dieser Aufgabe? Wie viel Spielraum bleibt dem nationalen Gesetzgeber für sozialstaatliche Interventionen? Bei der Beantwortung dieser Fragen geht es nicht mehr nur um einseitige Einflussnahmen, sondern um Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen rechtlichen und politischen Ebenen.

I.

Im politischen Mehrebenensystem der Europäischen Union ist die Verteilung der Kompetenzen Ausdruck der normativen Zuschreibung von Verantwortlichkeit. Nach dem Konzept der Verträge bleibt der soziale Schutz im Verantwortungsbereich der Staaten. Der Sozialstaat ist nicht nur eine nationale Errungenschaft, sondern soll auch weiterhin eine nationale Angelegenheit sein. Daran hat sich insbesondere auch durch den Vertrag von Lissabon nichts geändert.

II.

Das schließt aber faktische Gefährdungen der Sozialstaatlichkeit nicht aus. Denn die in den Gründungsverträgen enthaltenen wirtschaftlichen Freiheiten und wirtschaftspolitischen Grundsätze beziehen sich nicht auf bestimmte Lebensbereiche, sondern gelten umfassend. Dementsprechend können sie auch das Sozialrecht betreffen. Tatsächlich gibt es seit Mitte der 1990er-Jahre immer mehr Berührungspunkte zwischen Wirtschafts- und Sozialrecht. Für den Sozialstaat sind dabei zwei Phänomene von Bedeutung: die Erstreckung sozialer Rechte einerseits und die Öffnung sozial abgeschotteter Märkte andererseits.

III.

Wer angesichts dieser Entwicklungen erwartet hätte, der wachsende Einfluss des europäischen Wirtschaftsrechts würde quasi zwangsläufig zu einer Erosion oder wenigstens einem Umbau der nationalen Sozialleistungssysteme führen, sah sich getäuscht. Die Handlungsspielräume der Mitgliedstaaten bleiben vielmehr weitgehend erhalten. Diese können sich, wenn auch kontrolliert durch die Gerichtsbarkeit der EU, auf Ausnahmen und Rechtfertigungsgründe berufen – man könnte insofern von der negativen Seite der negativen Integration sprechen.

Erster Beleg für diese These ist, dass der Europäische Gerichtshof zwar die Freiheit, Leistungserbringer in der gesamten Europäischen Union in Anspruch zu nehmen, anerkannt, diese Freiheit aber im Falle von Sozialleistungen auch begrenzt hat. Zum einen soll eine Ausnahme für stationäre Krankenbehandlungen gelten. Zum anderen dürfen die Mitgliedstaaten die Freiheiten der Versicherten einschränken, wenn die Funktionsfähigkeit der Sicherungssysteme gefährdet ist.

Noch einen Schritt weiter ist der Europäische Gerichtshof mittlerweile gegangen, soweit es das Verhältnis zwischen europäischem Wettbewerbsrecht und nationalem Sozialrecht betrifft. Die Tätigkeiten von Sozialleistungsträgern werden nämlich nicht als unternehmerische und in diesem Sinne wirtschaftliche, sondern als soziale eingestuft. Diese Charakterisierung einer Leistungsgewährung als soziale Tätigkeit erfasst auch die zur Durchführung notwendigen Beschaffungstätigkeiten, sie schlägt also auf die Ebene der Leistungserbringung durch. Das bedeutet im Ergebnis: Europäisches Recht zwingt nicht zur Öffnung von Märkten, sondern überlässt es dem Staat, zwischen marktförmiger und nicht marktförmiger Organisation der Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen zu wählen.

IV.

Ausnahmen zugunsten des Sozialrechts werden nicht mehr nur durch die Rechtsprechung zum Primärrecht konkretisiert, sondern finden sich zunehmend auch im Sekundärrecht der EG. Sie haben also ihre alleinige Verbindung zur negativen Integration verloren und die positive Integration erreicht. Sie werden damit von der Anwendungs- auf die Rechtsetzungsebene transportiert und gewinnen abstrakt-generelle Bedeutung. Die wichtigsten Beispiele dafür lassen sich in der Entsenderichtlinie und in der Dienstleistungsrichtlinie finden, ebenso im Europäischen Vergaberecht, dessen Anwendbarkeit auf das Handeln der Krankenkassen der Europäische Gerichtshof klargestellt hat.

V.

Das Europäische Unionsrecht hat damit schrittweise eine sozialrechtliche Anreicherung gerade auch auf dem Feld seiner eigentlichen Domäne, des Wirtschaftsrechts, erfahren. Aber ist diese Entwicklung grundsätzlicher Art? Und ist sie stabil und hängt nicht nur mit kurzfristigeren europapolitischen Schwankungen zusammen? Dafür spricht, und das geht über die zitierten Entscheidungen des Gerichtshofs und des Gesetzgebers einen wichtigen Schritt hinaus, die zunehmende normative Fundierung des Sozialen auf europäischer Ebene. Die Europäische Union ist nicht mehr nur auf rechtliche Leitbilder in den Mitgliedstaaten angewiesen. In ihren Rechtsvorschriften kommen immer mehr eigene und an Gewicht gewinnende soziale Ziele zum Ausdruck. Der Vorgang der normativen Anreicherung und Überwölbung an sich ist keineswegs neu. Erinnert sei an die vertragliche Bestimmung zur Lohngleichheit zwischen Mann und Frau. Diese Vorschrift diente ursprünglich dazu, Wettbewerbsgleichheit herzustellen. Sie ist seit den 1970er-Jahren durch mehrere Richtlinien zum Teil präzisiert, zum Teil erweitert worden, womit die Gleichstellung der Geschlechter auch zu einem eigenständigen Ziel der europäischen Politik mutierte. Dieses Ziel wurde mittlerweile wiederum primärrechtlich verstärkt und zum Bestandteil einer gefestigten europäischen Antidiskriminierungspolitik. Die europäische normative Verankerung gewinnt aber an Breite und Tiefe. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang darauf, dass im Vertrag von Lissabon erstmals ausdrücklich von einer „sozialen Marktwirtschaft“ die Rede ist. Und die Europäische Grundrechtecharta, die mit Inkrafttreten dieses Vertrags rechtlich verbindlich geworden ist, dokumentiert als Stand des in Europa erreichten Grundrechtsschutzes, dass soziale Rechte dessen integrativer Bestandteil sind.

VI.

Die Europäische Union hat zugleich ihre eigene sozialpolitische Rolle gestärkt. Sie hat die in den 1980er-Jahren begonnene Konvergenzstrategie weitergeführt, und zwar durch eine Strategie, die unter dem Namen der offenen Methode der Koordinierung (OMK) firmiert und im Rahmen der Beschäftigungspolitik eine eigene vertragliche Grundlage erhalten hat. Diese Strategie zeichnet sich durch ihren Prozesscharakter aus. So werden gemeinsame Ziele festgelegt, Indikatoren bestimmt, die die Zielerreichung messen, und nationale Maßnahmen betrachtet, um dann sowohl über weitere Maßnahmen als auch über die Ziele und Indikatoren erneut nachzudenken. Im gesamten Prozess geht es nicht darum, verbindliche Vorgaben zu setzen. Dennoch sind gerade in den von der OMK erfassten Bereichen Konvergenzen im Sinne gemeinsamer Reformstrategien nicht zu übersehen. In vielerlei Hinsicht werden klare Richtungsanweisungen gesetzt, ein eigenes Profil einer gemeinsamen Sozialpolitik ist über die Jahre erkennbar geworden. Es setzt auf die Integration von Wirtschafts- und Sozialpolitik, auf das Verbot von Diskriminierungen, auf den gleichen Zugang zu Sozialleistungen und auf die Unterstützung besonders bedürftiger Personengruppen.

VII.

Wie ist die Bilanz dieser Entwicklungen? Nicht zu übersehen ist eine ganze Reihe möglicher Kritikpunkte: Sie betreffen zunächst die immer noch erkennbare Ausrichtung an wirtschaftspolitischen Grundentscheidungen. Ferner ist die europäische Sozialpolitik, wie der gesamte Integrationsprozess, in höchstem Maße pragmatisch. Ein eigener normativer Diskurs auf europäischer Ebene fehlt. Verfassungstheoretische Anleitungen, die eine gerechte Ordnung des Verhältnisses zwischen Gemeinschaft und Individuum konkretisieren, sucht man vergebens – wenn man auch von deren Prägekraft, betrachtet man die Entwicklungen der nationalen Sozialstaaten, nicht unbedingt überzeugt sein muss. Und vor allem, womit zum Ausgangspunkt zurückzukehren ist: Wird der Sozialstaat nicht im Ergebnis zugleich durch die europäische Sozialpolitik entscheidend geschwächt?

Erstens ist schon faktisch keine einseitige Einflussnahme der Europäischen Union zu erkennen. Ganz offensichtlich werden sozialpolitische Reformmaßnahmen durch Diskurse auf nationaler und auf europäischer Ebene angetrieben. Vielfach lässt sich aber nicht ermitteln, welche Akteure dabei entscheidend sind. Manchmal wirkt der europäische Abstimmungsprozess beschleunigend, manchmal entfaltet er Anstöße, aber nie ist er alleine bestimmend. Zweitens überlässt der weiche Abstimmungsprozess, mit dem die europäischen Organe gemeinsame Zielsetzungen in der Sozialpolitik voranzutreiben trachten, den Mitgliedstaaten auch rechtlich die Spielräume zur Umsetzung. Was die Mitgliedstaaten übernehmen, ist ihre Sache. Sie folgen in den institutionellen Arrangements zur Ordnung der Solidarität erkennbar eigenen Anschauungen und den einmal eingeschlagenen Entwicklungspfaden. Drittens verstärkt die Europäische Union zwar bestimmte Reformtendenzen: mit der Forderung nach Finanzierbarkeit von Sozialleistungen die Betonung der Eigenverantwortung des Einzelnen, die Konzentration der Unterstützung auf besonders Bedürftige sowie den Vorrang von beitragsabhängiger Vorsorge und Prävention. Aber die normativen Grundvorstellungen der Sozialpolitik in Europa, die sich auf diese Weise herausbilden, stehen offensichtlich im Einklang mit denen, die in den Mitgliedstaaten entwickelt werden.

Wer also immer noch glaubt, von Brüssel her wehe der kalte Wind des Marktes und treibe ein neoliberales Mahlwerk an, in dem sozialstaatliche Errungenschaften zermalmt zu werden drohen, muss sein Bild korrigieren. Sozialstaatlichkeit in der Europäischen Union ist durch Wechselwirkungen zwischen den politischen Ebenen gekennzeichnet. Es findet ein Prozess gegenseitigen Lernens statt – um die Herausforderungen zu bewältigen, vor denen der Sozialstaat angesichts der demografischen Entwicklungen und der Internationalisierung steht. In diesem Zusammenhang kann der europäische Integrationsprozess helfen, Globalisierungsfolgen gemeinsam besser zu bewältigen.

Europäisches Wirtschaftsrecht wird somit, wenn auch moderat und mit immer neuen Abstimmungsschwierigkeiten, durch nationales Sozialrecht angereichert. Gleichzeitig ist das Bemühen erkennbar, das durch Vergleich zu ermittelnde Substrat nationaler Sozialstaatlichkeit in gemeinsame Zielvorstellungen umzuformulieren. Auch in diesem Sinne baut die EU auf nationalen Errungenschaften auf. Sie filtert zwar das Wahrgenommene, verändert es und setzt neue Akzente. Sie gibt aber keine Vorgaben, sondern schafft eine neue Wertebasis.

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