Was unsere Güter wertvoll macht

In unserer Wirtschaftsordnung wird die Symbolbedeutung der Waren zunehmend Grundlage für die Nachfrage

19. Juli 2018

Wenn die Wirtschaftsleistung steigen soll, werden an die Politik zwei widersprüchliche Forderungen gerichtet. Verlangt wird entweder, dass Anreize für Investitionen geschaffen werden, durch niedrige Lohnkosten, Absenkung von Steuersätzen oder Subventionen. Oder aber die Löhne sollen umgekehrt gerade steigen und der Staat mehr Geld ausgeben, um die Nachfrage nach Gütern zu erhöhen. „Wachstum ist der Schlüssel zum Ganzen“, erklärt Kanzlerin Angela Merkel. Stillschweigend vorausgesetzt wird dabei allerdings, dass die Konsumenten tatsächlich immer mehr Güter erwerben möchten. Doch ist das überhaupt so selbstverständlich? Und wenn ja, was genau fragen Nachfrager eigentlich nach?

Dieser Beitrag von Jens Beckert stammt aus dem MPG-Jahrbuch 2012

Im Jahr 2010 wurden in Deutschland Waren und Dienstleistungen im Wert von 2,4 Billionen Euro produziert. Darunter fallen Kleidung und Essen, Wohnungen und Autos, Schallplatten und Konzerte, Reisen und Lotterielose. Vieles davon findet Abnehmer, weil es sich um unver­zichtbare Güter handelt. Doch längst nicht alle Nachfrage auf Märkten erklärt sich quasi von selbst. Die Grundbedürfnisse Wohnen, Kleidung und Essen sind für die meisten Menschen in den Industrieländern längst erfüllt. Warum aber kaufen wir immer mehr, anstatt einfach weniger zu arbeiten? In modernen wohlhabenden Ökonomien ist die Nachfrage nach Gütern längst dem Reich der Notwendigkeit entschwunden. Wir könnten auch mit viel weniger Gütern auskommen. Das Wachstum der Wirtschaft beruht jedoch darauf, dass die Wirtschaftssubjekte genau so nicht denken. In einer Ökonomie des Verzichts wäre die Krise permanent. Dass wir Güter als begeh­renswert erachten, die wir eigentlich gar nicht brauchen, liegt an den sozialen Werten, die diese Waren symbolisch verkörpern.

So mancher Bordeaux kostet ein Vermögen – der Wein allein kann‘s nicht sein. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung untersuchen, was den Wert von Gütern eigentlich ausmacht. Dieser definiert sich nicht nur über objektive Eigenschaften, sondern ist eine soziale Konstruktion.

Wer bestimmt den Wert?

So mancher Bordeaux kostet ein Vermögen – der Wein allein kann‘s nicht sein. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung untersuchen, was den Wert von Gütern eigentlich ausmacht. Dieser definiert sich nicht nur über objektive Eigenschaften, sondern ist eine soziale Konstruktion.
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Bei nüchterner Betrachtung muss Verzicht fast selbstverständlich erscheinen. Oder umgekehrt: Verwunderung muss auslösen, dass bestimmte Produkte überhaupt nachgefragt werden. Warum kaufen Menschen teure HiFi­-Anlagen, bei denen sie den Qualitätsunterschied in ihrem Wohnzimmer gar nicht hören? Warum geben Menschen viel Geld für Wein aus, wenn ihnen bei einer Blindverkostung der preiswertere Wein besser schmeckt? Warum kaufen Menschen Lotterielose, wenn sie doch wis­sen, dass sie mit jedem Lottoschein statistisch die Hälfte ihres Einsatzes verlieren? Warum geben Menschen viel Geld für einen alten Holzstuhl aus, nur weil er alt ist und möglicherweise einmal (wenn die Provenienz denn richtig ist!) einer berühmten Familie gehörte? Warum verschulden sich Menschen für ein teures Auto, wenn ein viel preiswerteres sie genauso zuverlässig an ihr Ziel bringen würde?

Wenn man solche Fragen stellt, geht es nicht darum, Konsumenten oberlehrerhaft daran zu erin­nern, dass sie ihr Geld verschwenden. Vielmehr geht es darum zu verstehen, warum es Nachfrage nach Gütern gibt, auf die scheinbar so leicht zu verzichten wäre. Nur wenn man dies versteht, kann man erfassen, worauf Wirtschaftswachstum heute in wesentlichen Teilen basiert. Alle Kaufentscheidungen setzen voraus, dass die Käufer den Produkten einen Wert beimessen. Täten sie dies nicht, wären sie nicht bereit, dafür zu bezahlen. Sie würden ihr Geld entweder sparen oder aber schlicht weniger arbeiten und dafür mehr Freizeit genießen. Worin aber besteht dieser Wert?

Funktionaler, positionaler und imaginativer Wert

Unterscheiden lassen sich drei unterschiedliche Arten von Wert. Die erste lässt sich als funktionaler Wert bezeichnen, manchmal wird auch von Gebrauchswert gesprochen. Gemeint ist damit ein unmittelbarer physischer Nutzen. Das Haus schützt vor Regen und Kälte, Kleidung hält warm und das Auto bringt uns von Ort A zu Ort B. Investitionen, einschließlich Finanzinvestitionen, lassen sich ebenfalls dieser Kategorie zuordnen. Sie werden getätigt, um zu einem späteren Zeitpunkt über mehr Geld zu verfügen.

Eine zweite Kategorie von Wert lässt sich als positionaler Wert bezeichnen. Der Besitz von Gütern positioniert den Besitzer innerhalb einer sozialen Statusordnung: „Mein Haus, mein Auto, mein Boot.“ Hier geht es nicht darum, dass der Eigentümer des Bootes damit von Hafen A zu Hafen B segeln möchte, sondern der Wert des Bootes besteht für ihn darin, seine soziale Stellung anzu­zeigen. Der amerikanische Ökonom Thorstein Veblen hat vor einhundert Jahren das Beispiel livrierter Diener angeführt, die bei großen Empfängen der New Yorker Oberschicht quasi als Dekoration am Eingang stehen. Ihr Zweck besteht nur darin anzuzeigen, dass man über so viel Vermögen verfügt, dass man dieses verschwenden kann. Positionaler Wert ist für das Wachstum von Ökonomien so wichtig, weil er keine eingebaute Grenze hat. Es besteht ein prinzipiell unbe­grenzter Überbietungswettbewerb. „Keeping up with the Joneses“ heißt dieser Wettbewerb in Amerika. Das Boot kann immer noch einen Meter länger sein. Einzelne Firmen der deutschen Schiffbauindustrie verdanken ihren Fortbestand dieser Logik positionalen Werts.

Schließlich gibt es eine dritte Kategorie: imaginativer Wert. Gemeint ist damit, dass Güter dafür begehrt werden, dass sie Vorstellungen einer Nähe zu ansonsten unerreichbaren Orten, Personen oder auch Idealen evozieren. Lotterielose sind hierfür ein gutes Beispiel. Da man mit ihnen statistisch Geld verliert, haben sie keinen funktionalen Wert. Auch der positionale Wert von Lotterielosen ist gering. Man gewinnt ja kaum an gesellschaftlichem Ansehen, wenn man mitteilt, dass man auch diese Woche wieder fünfzig Euro für Lottolose ausgegeben hat. Zwei Drittel aller Lottospieler malen sich jedoch vor der Ziehung der Zahlen plastisch aus, was sie denn mit dem Gewinn machen werden, wenn ihre Zahlen am Samstagabend gezogen werden. Der Wert des Lottoloses besteht darin, solche als angenehm empfundenen Tagträume zu evozieren. Der Besitz des Loses erlaubt die mentale Teilhabe an dem Ideal großen Reichtums, von dem man ansonsten ausgeschlossen ist.

Der Traum von der Toskana

Dieses Phänomen ist nun keinesfalls auf Lotterielose beschränkt. Das Begehren der Produkte einer bestimmten Kaffeemarke kann sich etwa daraus speisen, durch den Konsum des Produktes imaginativ an der Welt eines berühmten Hollywoodschauspielers teilzuhaben. Auch das Begehren der Produkte von Modelabels kann sich aus einer solchen symbolischen Nähe von Produkt und Prominenz speisen. Eine weitere Dimension imaginativen Werts besteht in der symboli­schen Verbindung zu zeitlich oder geografisch entfernten Orten. Wein wird unter einer kon­kreten Herkunftsbezeichnung vermarktet. Der Chianti enthält dann symbolisch all das, was der Konsument mit der Toskana assoziiert, und der Genuss des Weins ermöglicht ihm, in diese Vorstellungswelt einzutauchen.

Ein besonders eindrückliches Beispiel für die Ermöglichung historischer Transzendenz durch Produkte entstammt ebenfalls der Weinwelt. Ein Connaisseur beschrieb seine Begeisterung für einen edlen Wein mit den Worten: „Der älteste Wein, den ich je getrunken habe, war ein Chambertin von 1811. Stellen Sie sich vor, was dies evoziert: Sie sind auf der Höhe der Napoleonischen Zeit, dies ist ein starkes Symbol; und außerdem ist das das Jahr des Kometen Halley. Einen Kometen in seinem Glas zu haben, das ist eine direkte Verbindung zu den Geschichtsbüchern.“

Sehr eindringlich wird die symbolische Konstruktion von Wert auch im jüngsten Kunstfälschungsskandal erkennbar. Das als „Campendonk“ von der Kölner Auktionsfirma Lempertz 2006 für 2,9 Millionen Euro versteigerte Bild „Rotes Bild mit Pferden“ galt Kunstexperten als ein künstlerisch besonders wertvolles Bild des deutsch­niederländischen Malers Heinrich Campendonk. Nachdem das Bild als Fälschung entlarvt wurde, ist es quasi wertlos. Doch warum eigentlich? Das Bild ist noch genauso schön wie vorher. Auch ist es nicht so, dass es plötzlich zehn Exemplare dieses Bildes geben würde, sich das Angebot also vergrößert hätte. Das Bild hat lediglich seine Verbindung zur Genialität des Künstlers Heinrich Campendonk verloren. Es kann daher nicht mehr mit der Aura dieses Künstlers und der Zeit des Beginns des Ersten Weltkriegs assoziiert werden. Der Wert von Kunst beruht größtenteils aber auf genau solchen Evokationen.

Nun mag man diese Beispiele für die Evokation von Vorstellungswelten durch Produkte für kuriose Ausnahmen halten. Doch sie sind es nicht, und imaginativer Wert spielt für die Frage, wie Wert in der Wirtschaft entsteht, eine insgesamt bedeutende Rolle. Warum verschulden sich Menschen über alle Maßen, wenn sie sich „den Traum“ vom eigenen Haus erfüllen? Die Hypothekenpolitik der amerikanischen Regierung führte erst zum Immobilienboom und dann zur Immobilienkrise. Sie hatte einen ideologischen Hintergrund in dem angenommenen Recht, dass jeder Amerikaner einen Anspruch auf Wohneigentum als Teil des „amerikanischen Traums“ habe. Häuser, Mode, Autos, Nahrungsmittel, Kosmetikartikel haben sämtlich starke Attraktion durch die Vorstellungs­welten, die durch die Herstellung von symbolischen Verbindungen zwischen Produkt und ansons­ten unerreichbaren Personen, Orten oder Idealen entstehen.

Vorstellungswelten spielen nicht nur bei der Nachfrage auf Konsumgütermärkten eine Rolle. Investitionen von Unternehmern, sei es in der Realwirtschaft oder auf Finanzmärkten, weisen möglicherweisse diese Verbindung ebenfalls auf. Investitionen sind häufig mit unkalkulierbaren Risiken verknüpft. Warum gehen Unternehmer diese Risiken ein? Der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter sah unternehmerische Investitionsentscheidungen nicht allein durch rationale Kalkulation motiviert, sondern auch durch den Wunsch des Unternehmers, „eine eigene Dynastie zu begründen“. Auch bei Investitionen sind Vorstellungswelten zukünftigen Reichtums von Belang und können dabei helfen, das Risiko so zu werten, dass es eingegangen wird.

Die Verbindung des Begehrs von Gütern mit deren symbolischer Aufladung durch die Assoziation mit ansonsten unerreichbaren Personen, Orten oder Idealen verweist auf eine interessante Übereinstimmung: „Wert“ im Sinne von ökonomischem Wert und „Wert“ im Sinne von norma­tiven Überzeugungen, zu denen sich Menschen hingezogen fühlen, ist ja das gleiche Wort. Diese semantische Übereinstimmung ist kein Zufall. Sie zeigt die Verbindung zwischen Begehr nach bestimmten ökonomischen Gütern und Wertvorstellungen.

Besonders offensichtlich ist dies in den schnell wachsenden Märkten „fair“ gehandelter Produkte. Hier wird der Preisaufschlag nicht für ein besseres Produkt bezahlt, sondern dafür, dass die Produzenten in den Herkunftsländern ein besseres Leben haben. Aber auch der Wunsch nach dem eigenen Haus lässt sich nur durch die normativen Werte wie die des Schutzes oder des Komforts der Familie oder eben des Werts Eigentum zu besitzen verstehen. Wert ist damit nicht allein eine ökonomische Kategorie, sondern zuallererst eine soziale. Wirtschaft und Gesellschaft gehören zusammen.

Wert entsteht in der Gesellschaft

Die Beschäftigung mit der sozialen Konstruktion von Wert in der Wirtschaft ist ein Kernthema der soziologischen Erforschung der Wirtschaft. Es geht darum, die Mechanismen zu identifizieren, die in der Bewertung von Gütern wirken. Qualität, so die Ausgangsüberlegung, ist nichts den Gütern Innewohnendes, sondern entsteht in der Gesellschaft – also in der Kommunikation über die Objekte und Dienstleistungen und in den Bedeutungen, die sie hierbei erlangen.

Damit imaginativer Wert entstehen kann, bedarf es nicht in ers­ter Linie besonders guter Fabriken. Vielmehr sind es ausgefeilte soziale Strukturen wie anerkannte Experten, Rankings, Zertifikate, Marken, Diskussionsforen, Standards und soziale Netzwerke, mit­hilfe derer Unterscheidungen zwischen ansonsten bedeutungs­losen und ununterscheidbaren Objekten getroffen werden. Die durch Beurteilungsinstrumente geschaffenen Würdigungen erlau­ben Orientierung. Wie sonst sollte man zwischen Tausenden von verschiedenen Weinen unterscheiden können oder zwischen den vielen Dutzend verschiedener Aufnahmen von Beethovens Neunter Symphonie. Warum sollte man sich dafür überhaupt interessieren? Nicht technische Qualitätsunterschiede bestimmen den Wert von symbolisch aufgeladenen Gütern, sondern im Marktfeld geteilte Bedeutungen.

Die Beschäftigung mit der sozialen Konstruktion von Wert schärft zugleich den Blick für die Verwundbarkeit einer Wirtschaftsordnung, deren Grundlage für die Nachfrage nach Gütern immer stärker in der Symbolbedeutung der Waren besteht. Das Interesse, das Menschen eine Nacht vor einem Geschäft zubringen lässt, nur um als Erste das neueste Produkt eines kaliforni­schen Computerherstellers zu erstehen, kann auch erlöschen. Und was geschähe mit der deutschen Automobilindustrie, wenn Menschen zukünftig im Auto nichts anderes als ein Transportmittel sähen? Für das Wachstum der Wirtschaft wäre dies der Garaus. Für Wirtschaft und Politik wäre es der ultimative Alptraum. Es besteht keine ernsthafte Gefahr, dass es dazu kommt. Doch mög­lich ist es. Die hypothetische Vorstellung sollte das Bewusstsein schärfen, dass Ökonomie in der Gesellschaft stattfindet und ökonomischer Wert aus den in der Gesellschaft vorherrschenden Werten entsteht. Die symbolische Verbindung von Werten und Waren ist eine vornehmliche Herausforderung der Warenproduktion.

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