Forschungsbericht 2010 - Max-Planck-Institut für Astrophysik

Die Geschichte unserer Milchstraße

The History of the Milky Way

Autoren
Schönrich, Ralph
Abteilungen
Chemische Evolution und Galaxiendynamik
Max-Planck-Institut für Astrophysik, Garching
Zusammenfassung
Neue, am Max-Planck-Institut für Astrophysik entwickelte Modelle verändern unsere Sichtweise auf die Entwicklung der Milchstraße. Wissenschaftler des Instituts bestimmen die Parameter von rund 16.000 Sternen in der Umgebung der Sonne neu. Die Daten bestätigen Vorhersagen des am Institut entwickelten Modells und geben Einblick in die Physik galaktischer Scheiben, in die Vergangenheit unserer Galaxie und die Herkunft unserer Sonne.
Summary
New models developed at the Max Planck Institute for Astrophysics (MPA) change our paradigms about the physics and evolution of the Milky Way Galaxy. Scientists at the MPA determine the parameters of about 16000 stars in the solar neighbourhood. The data confirms predictions of a model developed at the institute and provide insight into the physics of galactic discs, into the history of our Galaxy and the provenance of our Sun.

Blickt man in einer sternenklaren Nacht in den Himmel, so erkennt man deutlich das spektakuläre Band der Milchstraße. Es erstreckt sich über das gesamte Firmament und besteht aus Milliarden von Sternen, die wie unsere Sonne in der galaktischen Scheibe kreisen. Die Milchstraße ist die einzige Spiralgalaxie, bei der wir Zugang zu umfassender Information (Position und Bewegung, physikalische Parameter, chemische Zusammensetzung) über einzelne Sterne erhalten können. Eine Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für Astrophysik (MPA) analysiert diese Daten und interpretiert sie im Rahmen neuer theoretischer Modelle unserer Galaxie. Dadurch wird die Milchstraße zum Schlüssel für das allgemeine Verständnis der Physik und Evolution galaktischer Scheiben. Insbesondere können wir aber auch die Geschichte unserer Galaxie und die Herkunft unserer Sonne ergründen.

Sterne sind zum einen die Triebkräfte für die Evolution von Galaxien, bezeugen aber gleichzeitig deren Vergangenheit. Durch Kernfusion erzeugen sie in ihrem Inneren aus Wasserstoff und Helium die schwereren Elemente, die von Astronomen vereinfachend als Metalle bezeichnet werden. Massereiche Sterne verbrauchen ihren nuklearen Brennstoff dabei sehr rasch – auf kosmischen Zeitskalen: sie brauchen dafür nur Millionen von Jahren im Vergleich zu den etwa 10 Milliarden Jahren, die unsere Milchstraße bereits existiert. Bei ihrem fulminanten Tod in einer gewaltigen Explosion schleudern sie einen Großteil ihrer nuklearen Brennprodukte in ihre Umgebung. Diese vermischen sich mit den ursprünglichen Gaswolken, aus denen beständig neue Sterne entstehen und reichern sie mit Metallen an. In wesentlich größerer Zahl bringen Galaxien jedoch masseärmere Sterne (ähnlich unserer Sonne) hervor. Die äußeren Hüllen dieser Sterne vermischen sich kaum mit dem Material in ihren Kernen, und so spiegeln ihre Atmosphären weitestgehend die Zusammensetzung des Gases wider, aus dem sie einst entstanden sind. Ihre lange Lebenszeit von mehreren Milliarden Jahren macht sie zu Fossilien früherer Zeiten.

Die Anreicherung des sternbildenden interstellaren Gases mit schweren Elementen ist kein plötzlicher Prozess und so wächst dessen Metallgehalt (seine „Metallizität“) mit der Zeit kontinuierlich an. Darüber hinaus ändert sich auch die relative Zusammensetzung an schweren Elementen: Sehr alte Sterne, die während der Jugend unserer galaktischen Scheibe geboren wurden, tragen einen Überschuss an sogenannten „Alpha-Elementen“ im Vergleich zu Eisen in sich. Als Alpha-Elemente werden dabei diejenigen chemischen Elemente bezeichnet, deren Kerne ein Vielfaches des Helium-Kerns sind, wie zum Beispiel Sauerstoff, Magnesium, Silizium und Kalzium. Das Verhältnis der Alpha-Elemente zu Eisen fungiert als natürliche Uhr, die einen Hinweis darauf gibt, wann ein Stern geboren wurde.

Bis vor kurzem dachte man, dass an den Sternen in unserer Umgebung die lokale Geschichte der Sternentstehung und die Anreicherung des Gases mit Metallen einfach wie in einem Buch abgelesen werden könnte. Diese Information allein reicht allerdings nicht aus, um die Geschichte der Milchstraße vollständig zu charakterisieren: Forscher am MPA und an der Universität Oxford zeigten, dass umfassende Migrationsbewegungen von Sternen in der Scheibe der Milchstraße stattfinden [1]. Die Sterne kreisen also nicht mit annähernd konstantem Radius um das Zentrum der Milchstraße, sondern können mit der Zeit nach innen oder außen wandern. Das hinterlässt Spuren, denn die Zusammensetzung des Gases, aus dem neue Sterne entstehen, hängt von seinem Ort in der Galaxie ab: In den dichten Bereichen der inneren Scheibe entwickelt es sich schneller und ist metallreicher als im Außenbereich der galaktischen Scheibe und verknüpft so die Metallizität von Sternen auch mit ihrer geographischen Herkunft.

Berücksichtigt man die Migration von Sternen, so ändert dies in hohem Maße die Interpretation der Geschichte unserer Galaxie. Die xenophobe Betrachtungsweise ohne Migration impliziert katastrophale Ereignisse in der Vergangenheit unserer Milchstraße, wie zum Beispiel den Einschlag einer kleineren Galaxie oder im besten Falle eine Periode, in der die Sternentstehung fast völlig zum Erliegen kam. Demgegenüber können die neuen Modelle mit Migration die Beobachtungen mit einer recht ruhigen und einfachen Historie erklären. Die beiden unterschiedlichen Szenarien erfordern sehr unterschiedliche Beziehungen zwischen dem Alter der Sterne und ihrem Metallgehalt: Im klassischen Modell muss sich der lokale Metallgehalt sehr stark mit der Zeit ändern, um die breite Verteilung der Metallizitäten von Sternen in unserer Umgebung zu erklären. Das Migrationsmodell hingegen erreicht die nötige Diversität durch Einwanderung und bleibt damit selbst dann gültig, wenn sich der durchschnittliche Metallgehalt mit dem Alter nicht signifikant ändert. Es sagt aber ein Anwachsen der Metallizitätsunterschiede zwischen den Sternen mit zunehmendem Alter voraus.

Exakt diese Entwicklung konnte nun an Daten gezeigt und vermessen werden. Dazu unternahm die Gruppe am MPA eine Revision der Sternparameter der Geneva-Copenhagen-Studie, des umfassendsten Katalogs der solaren Umgebung mit ca. 16.000 Objekten [2]. Der Metallgehalt von Sternen wird üblicherweise durch einen detaillierten Vergleich des gemessenen Lichtspektrums mit Modellrechnungen bestimmt. Diese Herangehensweise ist jedoch sehr zeitaufwändig und hochauflösende Spektren für den Datensatz liegen nicht vor. Information über die Metallhäufigkeiten kann aber auch aus den Farben der Sterne gewonnen werden: Die Anwesenheit selbst kleiner Mengen an Metallen in der Sternatmosphäre verändert die Farbe eines Sterns, so wie minimale Dosen Farbstoff dem Rotwein seine Farbe geben. Die Forscher am MPA nutzten ein verbessertes Schema, um die physikalischen Eigenschaften eines Sterns aus seinen Farben abzuleiten, und zeigten so, dass der durchschnittliche Metallgehalt von Sternen in der Nachbarschaft der Sonne höher ist als ursprünglich angenommen. Damit wird die Sonne in dieser Hinsicht ein recht durchschnittliches Objekt (Abb. 1).

Die Forscher konnten auch den Zusammenhang zwischen Alter und Metallgehalt der Sterne erneut und genauer bestimmen. Wie aus Abbildung 2 ersichtlich, verschiebt sich das Maximum der Metallizitätsverteilung kaum mit dem Alter der Objekte, die Breite der Verteilung nimmt aber stark zu. Dieses Verhalten widerspricht der klassischen Sichtweise; im Modell der radialen Migration von Sternen ist es dagegen ganz natürlich erklärbar. Um das neue Modell weiter von der klassischen Betrachtungsweise abgrenzen zu können und um den Mischungsprozess in der Scheibe besser zu verstehen, sind zusätzliche Informationen nötig. Wie oben erwähnt, besteht ein Zusammenhang zwischen dem Gehalt an Alpha-Elementen und dem Alter von Sternen. Bei hinreichend großen Sternzahlen kann ein Teil der Information über den Ursprung einer bestimmten Population rekonstruiert werden, selbst wenn die einzelnen Sterne inzwischen in der Scheibe unserer Galaxie verstreut sind. Das am MPA und an der Universität Oxford entwickelte Modell ist das erste analytische Modell, das fähig ist, die chemische Information mit den Bewegungen der Sterne in Beziehung zu setzen. Damit können – im Gegensatz zur klassischen Modellierung, die hier versagt – die bereits beobachteten Zusammenhänge einfach und konsistent erklärt und weitere Vorhersagen getroffen werden.

Zum Beispiel zeigt Abbildung 3 die Erwartungen für die durchschnittliche Rotationsgeschwindigkeit in der Umgebung der Sonne. Entsprechend ihrer Anreicherung in Alpha-Elementen befinden sich die alten Sterne oben in der Abbildung und die jungen Sterne unten. Diesem überlagert sich die Information aus den Geschwindigkeiten: Die Sterne aus der inneren Scheibe sind metallreicher (liegen damit auf der rechten Seite der Abbildung), haben einen geringeren Drehimpuls und rotieren daher in unserer Umgebung im Durchschnitt langsamer (blaue Farben) als die Sterne aus den Randbereichen der Scheibe. Diese Erwartung aus dem Modell sollte prinzipiell für die jungen Sterne beobachtbar sein (die älteren Sterne haben eine komplexere Struktur, siehe das blaue Band am oberen Rand der Graphik) und wurde in der Tat durch neueste Beobachtungsdaten bestätigt. Die internationale, vom MPA angeführte Forschergruppe konnte zeigen, dass diese Korrelation zwischen Metallizität und Rotationsgeschwindigkeit der Sterne zu einem erheblichen systematischen Fehler in der Standardmethode zur Bestimmung der Bewegung der Sonne durch unsere Galaxie führt [3,4]. Der revidierte Wert reduziert auch die Spannung mit anderen Beobachtungsdaten unserer Galaxie.

Den Forschern am MPA gelang es nun erstmalig, den relativen Gehalt an Alpha-Elementen aus der Farbinformation zu gewinnen [2]. Somit können sie die subtilen Beziehungen zwischen der detaillierten chemischen Information und den Bewegungen der Sterne in der Galaxie mit einem Datensatz bislang unerreichter Größe untersuchen. Besonders spannend ist, dass das neue Migrationsmodell auch eine natürliche Erklärung für die Herkunft der sogenannten „dicken“ Scheibe (eine Scheibenpopulation, deren Orbits im Schnitt weiter aus der Scheibenebene herausragen als üblich) [5]. Statt eine kosmische Kollision zwischen der Milchstraße und einer anderen Galaxie zu benötigen, kann ihre Existenz einfach durch die Immigration von relativ alten Sternen aus dem Innenbereich der galaktischen Scheibe erklärt werden. Diese dicke Scheibe dominiert die Sterne mit langsamer Rotation. Im Gegensatz zu klassischen Erwartungen konnte die Forschergruppe zeigen, dass diese langsam rotierenden Sterne im Schnitt metallreicher sind als die schnell rotierenden Objekte – im Einklang mit dem Migrationsmodell, aber in scharfem Kontrast zur klassischen Sichtweise.

Die umfassende Analyse der neuen Daten wird nicht nur besseren Aufschluss geben über die Stärke des wichtigen Migrationsprozesses, sondern ermöglicht den Forschern auch eine bessere Eingrenzung des Ursprungsorts unserer Sonne.

R. Schönrich, J. Binney:
Origin and Structure of the Galactic disc(s).
Monthly Notices of the Royal Astronomical Society 399, 1145-1156 (2009).
L. Casagrande et al.:
New constraints on the chemical evolution of the solar neighbourhood and Galactic disc(s).
Astronomy and Astrophysics; DOI: 10.1051/0004-6361/201016276; arXiv:1103.4651 (2011).
R. Schönrich, J. Binney, W. Dehnen:
Local kinematics and the local standard of rest.
Monthly Notices of the Royal Astronomical Society 403, 1829-1833 (2010).
R. Schönrich:
Unruhe im Ruhestandard
Sterne und Weltraum, August 2010. www.astronomie-heute.de/artikel/1038254
R. Schönrich, J. Binney:
Chemical evolution with radial mixing.
Monthly Notices of the Royal Astronomical Society 396, 203-222 (2009).
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