Bilder mit Bedeutung

Olivier Morin untersucht, wie Verständigung über Raum und Zeit hinweg funktioniert

22. Mai 2018

Weltweit haben Menschen im Laufe der Geschichte Mittel und Wege gefunden, festzuhalten, was sie sich merken oder anderen mitteilen wollen: in Bildern, mit Zeichen oder Symbolen oder mithilfe von Schrift. Am Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena erforschen Olivier Morin und sein Team die Entstehung und Entwicklung solcher grafischer Kommunikationsformen. Das Spektrum ihrer Arbeit reicht von der Untersuchung von Wappen aus aller Welt über die Analyse von Buchstabenformen bis hin zur Entwicklung künstlicher grafischer Codes. Im Interview gibt Morin einen Einblick in bisherige Erkenntnisse und in die Fragestellung, die seine Forschungsgruppe dazu veranlasst hat, die Spiele-App "Color Game" zu entwickeln.

Was ist das Besondere an grafischen Codes?

Ich verstehe grafischen Codes als Möglichkeit, mittels festgelegter Bilder oder Symbole zu kommunizieren. Schrift ist ein Beispiel dafür, aber auch Flaggen oder Bilder, wie man sie auf Wappenschildern findet. Weltweit nutzen Kulturen eine Vielzahl bildlicher Hoheitszeichen als Symbol für die eigene Identität oder die der Familie. Manchmal werden auch piktografische Darstellungen genutzt, um Gebete oder Gesänge zu notieren. All das sind grafische Codes.

Enthält nicht jedes Bild eine Botschaft, sodass man es als grafischer Code deuten könnte?

Nein, um Teil eines Codes zu sein, müssen die Bilder mit einer genauen Bedeutung in Verbindung gebracht werden, und zwar in vereinbarter Form. Ich würde zum Beispiel sagen, dass die meisten Kunstwerke in diesem Sinne nicht Teil eines Codes sind. Grafische Codes sind wichtig, weil sie etwas können, was in gesprochener Sprache nicht möglich ist – oder zumindest die längste Zeit der Geschichte nicht möglich war, bevor es Anrufbeantworter gab: Die Codes können Information dauerhaft aufbewahren, sogar über Raum und Zeit hinweg transportieren – eine einzigartige Möglichkeit.

Vieles aus der Vergangenheit ist ja durch Schriftstücke überliefert.

Schriften oder Schriftsysteme sind ein Spezialfall grafischer Codes – einer, der die menschliche Sprache verschlüsselt. Sogar beim chinesischen oder altägyptischen Zeichensystem braucht man aber ein gewisses Verständnis von der Sprache, um den Sinn zu verstehen.

Was wissen wir über die Entstehung der Schrift?

Für den Anfang wissen wir, dass die meisten menschlichen Kulturen keine besaßen. Sie entstand einige Male in Mittelamerika, Mesopotamien, Ägypten und China. In jedem dieser Fälle wurden sie unter anderem in Zusammenhang mit der staatlichen Verwaltung genutzt. Es gibt also sicher eine Verbindung zwischen Staatenbildung und der Erfindung der Schrift. Gleichzeitig wissen wir, dass viele Staaten sich problemlos ohne jegliche Schrift organisieren. Man kann ein ganzes Reich mit Zahlen und anderen Zeichensystemen zusammenhalten, die nichts mit einer natürlichen Sprache zu tun haben.

Was sind aus Ihrer Sicht die spannendsten Fragen in Bezug auf Schrift- und Bildsprache?

Da fallen mir zwei ein. Erstens, „warum so spät?“ Als Schrift das erste Mal auftauchte, gab es uns Menschen schon eine halbe Ewigkeit, ohne dass wir das Schreiben gebraucht hätten. Wir nutzten grafische Codes, wie sie viele Kulturen ohne eigenen Staat verwenden: Diese Codes basieren nicht auf sprachlichen Laute und sie sind tendenziell auf einen bestimmten Zweck spezialisiert. Aus meiner Sicht ist die Frage, warum sich die Dinge dann so weiterentwickelt haben, noch lange nicht geklärt. Kulturen, die sich nicht als Staat organisieren, waren einfallsreich, clever. Es gab keine auffällige technische oder mentale Einschränkung, die sie davon abgehalten hätte, zu schreiben. Warum also ist das Schreiben erst so spät entstanden?

Und die zweite wesentliche Frage?

„Warum ist es so schwierig?” Lesen und schreiben zu können ist inzwischen beinahe so wichtig wie das Sprechen. In manchen Gesellschaftsschichten texten die Leute fast so viel wie sie sprechen. Trotzdem gibt es einen ganz wesentlichen kognitiven Unterschied zwischen den beiden Fähigkeiten: Sprechen ist einfach und spontan. Schreiben muss man Kindern explizit beibringen und man braucht dazu intensive pädagogische Arbeit. Viele plagen sich in einer Art und Weise mit dem Lesen- und Schreibenlernen, wie es fürs Sprechen nie nötig wäre. Warum?

Haben die verschiedenen Schriften rund um die Welt etwas gemeinsam?

Es gibt sehr viele Gemeinsamkeiten. Ein Teil davon ist rein zufällig: Viele Schriften schauen ähnlich aus, weil sie schlicht und einfach dieselben Vorläufer hatten. Das ist eine der Herausforderungen, wenn man Schriften studiert, zufällige Ähnlichkeiten von den Gemeinsamkeiten zu unterscheiden, die sich unabhängig voneinander entwickelt haben. Mit den richtigen Mitteln kann man einige wichtige Übereinstimmungen genauer betrachten.

Welche beispielsweise?

Die Form der Buchstaben folgt zum Beispiel den allgemeinen Einschränkungen, die der menschliche Sehapparat vorgibt. Unsere Gehirne bevorzugen senkrechte oder waagerechte Linien, wie man sie in den Buchstaben E, H, T und so weiter findet, im Gegensatz zu geneigten Linien, die in weit weniger Buchstaben wie W oder X vorkommen. Die Tendenz für diese Ausrichtung kommt also nicht von irgendwelchen gemeinsamen Vorläufern, sondern wir können beobachten, wie sie immer wieder in der geschichtlichen Entwicklung in auftreten.

Sie haben mit Ihrem Team die App "Color Game" entwickelt, um grafische Codes zu erforschen. Was versprechen Sie sich davon?

Eine der großen Fragen rund um grafische Kommunikation ist: Wie unabhängig kann sie von der gesprochenen Sprache sein? Eine naheliegende Möglichkeit, darauf eine Antwort zu finden, sind Experimente. Also Leute ins Labor holen und sie auffordern, miteinander zu kommunizieren. Allerdings gibt es kaum Untersuchungen, wie sich Leute mit Bildern verständigen können, wenn sie keine gemeinsame Sprache sprechen. Ein Grund dafür ist, dass es recht schwierig ist, Menschen unterschiedlicher Kulturen und Sprachen zusammenzubringen, wenn sie nicht ein gemeinsames Kommunikationsmittel haben. Das Internet ändert das. Meine Forschungsgruppe hat eine App veröffentlicht, die man nutzen kann, um mit Leuten aus aller Welt ins Gespräch zu kommen. Bei Color Game nutzt man für die Kommunikation ganz einfache Bilder – die natürliche Sprache kommt gar nie ins Spiel. Wir haben Mitspieler aus mehr als 40 Ländern und viele sind fasziniert davon, dass sie sich ganz ohne Wörter verständigen können.

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