Lesen formt das Gehirn

Für die Forschung ist Lesen und Schreiben ein faszinierendes Phänomen. Denn die ersten Schriftsysteme haben sich erst vor weniger als 6000 Jahren entwickelt – ein Wimpernschlag in Relation zur menschlichen Evolution. Eine zentrale Frage lautet daher, wie das menschliche Gehirn trotzdem diese komplexe Aufgabe bewältigen kann. Aktuell befassen sich Wissenschaftler beispielsweise mit den Unterschieden zwischen geübten Lesern und Analphabeten – und was daraus für Menschen mit Leseschwäche folgt – sowie mit den Auswirkungen mangelnder Lese- und Schreibkenntnisse für die Demokratie weltweit.

Lesen und Schreiben sind alltäglich für uns. Wir machen uns kaum Gedanken, wenn wir zum Stift greifen, um etwas zu notieren oder zum Smartphone, um eine Nachricht zu lesen oder zu beantworten. Dabei sind Lesen und Schreiben erstaunlich komplexe Fähigkeiten. Das beschreibt Falk Huettig vom Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nijmegen gemeinsam mit seinen Kollegen Régine Kolinsky und Thomas Lachmann im Vorwort zur Sonderausgabe „The effects of literacy on cognition and brain functioning“ von der Fachzeitschrift Language, Cognition and Neuroscience. Demnach muss das Gehirn zum Lesen und Schreiben zahlreiche Wahrnehmungs- und Denkfunktionen genau abstimmen. Dazu gehören etwa grundlegende visuelle Fähigkeiten, die phonologische Wahrnehmung, Langzeit- und Arbeitsgedächtnis und vieles mehr. Aus diesem Grund müssen wir jahrelang trainieren, bis sich Lesen und Schreiben so tief einprägt, dass wir beides mühelos beherrschen. Dadurch ändern sich wiederum auch Struktur und Funktion des menschlichen Gehirns. In diesem Kontext befasst sich die Forschung mit zwei grundlegenden Fragen: Welche Voraussetzungen braucht es, damit wir Lesen und Schreiben überhaupt erlernen können? Und wie beeinflusst diese komplexe Fähigkeit unsere Wahrnehmung und unser Denken? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, sind Vergleiche besonders aufschlussreich: zum einen die Unterschiede zwischen guten Lesern im Erwachsenenalter und Menschen gleichen Alters, die nie lesen gelernt haben; zum anderen die Differenzen zwischen Kindern, die leicht lesen lernen, und denen, die sich schwertun und möglicherweise eine Leseschwäche haben.

Schlechtes Lesen führt zu kognitiven Defiziten

Gerade bei Lese-Rechtschreib-Störungen (LRS) ist es oft schwierig zu unterscheiden, ob damit verbundene Defizite eine Ursache dafür darstellen oder ob sie deswegen auftreten, weil bessere Leser gleichen Alterns diese kognitiven Fähigkeiten mit dem Lesen trainiert haben. So hat José Morais von der Universität Brüssel schon vor vielen Jahren festgestellt, dass Lesen die phonologische Bewusstheit deutlich verbessert, also die Fähigkeit, bestimmte Lautstrukturen der Sprache zu erkennen. Menschen mit LRS fällt es dagegen oft schwer, diese Strukturen zu unterscheiden. John F. Stein von der Universität Oxford argumentiert, dass dies nicht die Ursache für die Schwäche, sondern lediglich ein Nebeneffekt ist.

Falk Huettig selbst hat mit Kollegen aus Kaiserlautern und dem portugiesischen Faro weitere Effekte gefunden, die kennzeichnend für eine Lese-Rechtschreibschwäche sind, aber sich auch bei Analphabeten beobachten lassen. Dazu gehören die Wahrnehmung von Kategorien, das verbale Kurzzeitgedächtnis, die Fähigkeit, Pseudowörter zu wiederholen, Bilder, Farben und Symbole schnell zu benennen, oder vorherzusagen, wie ein gesprochener Satz weitergehen könnte. Auch hier interpretieren die Forscher die Defizite als Folge mangelnder oder suboptimaler Leseerfahrung und nicht als deren Ursache.

Analphabeten analysieren Bilder anders

Der Vergleich zwischen Analphabeten und erwachsenen Lesern zeigt immer wieder, wie sehr Lesenlernen unser Gehirn verändert. So haben Menschen, die nicht oder kaum lesen können, nicht nur größere Schwierigkeiten, Buchstabenfolgen zu analysieren, sondern auch Bildstrecken aufzugliedern. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie spanischer und französischer Forscher. Wie eine weitere Untersuchung in Portugal ergab, fällt es Analphabeten außerdem schwerer, zu unterscheiden, wie ein Objekt ausgerichtet ist – etwa ein Hammer, der diagonal liegend abgebildet ist und dessen Kopf und Stiel in verschiedene Richtungen weisen können.

Welche Nachteile Menschen in Kauf nehmen müssen, die nie die Chance hatten, lesen und schreiben zu lernen, kann man als geübter Leser nur erahnen. Ein Bereich, der bisher kaum beachtet wurde, sind Kognitionstests, mit denen Ärzte ältere Menschen auf eine beginnende Demenz hin untersuchen. Die griechische Forscherin Mary H. Kosmidis weist darauf hin, dass diese Tests auf Menschen zugeschnitten sind, die alphabetisiert sind. Die darin abgefragten Fähigkeiten werden oft durch Lesen und Schreiben trainiert, weswegen die Ergebnisse für Analphabeten entsprechend verzerrt sein dürften. Gerade unter der älteren Bevölkerung in Europa gibt es noch einige, die de facto nicht lesen und schreiben können.

Lesen ist Basis für demokratische Entscheidungen

Weltweit sind nach Angaben der UNESCO nach wie vor 15 Prozent der Menschen Analphabeten. Das schränkt nicht nur sie selbst ein, sondern die Menschheit als Ganzes, wie José Morais von der Universität Brüssel darlegt. Er argumentiert, dass Alphabetisierung nicht endet, wenn Kinder und Jugendliche Lesen gelernt haben, sondern dass das dauerhafte und tiefgehende Auswirkungen auf ihr Denken und Wissen hat. Die Fähigkeit zum Lesen und Schreiben ist die Voraussetzung für die Analyse von komplexen Problemen und für einen Strom von Ideen und kritischem Denken. Sie ermöglicht eine sachlich fundierte öffentliche Debatte und eine sinnvolle kollektive Entscheidungsfindung. Je besser Individuen im Lesen geschult sind, umso besser können sie öffentliche Angelegenheiten kontrollieren und zu einer wirklich demokratischen Regierung beitragen.

MEZ

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