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Ein computergestütztes Netzwerk zeigt, wie die Ionenkanäle in der Membran von Nervenzellen so verschiedenartige Fähigkeiten wie Kurzzeitgedächtnis und Hirnwellen steuern können

Nervenzellen, die auch dann aktiv sind, wenn der auslösende Reiz verstummt ist, sind die Grundlage für ein Kurzzeitgedächtnis. Durch rhythmisch aktive Nervenzellen kann das Gehirn größere Populationen von Nervenzellen zu funktionellen Einheiten zusammenführen. Bislang haben Neurowissenschaftler oft diese und andere Eigenschaften nur mit Netzwerkmodellen untersucht, die jeweils nur eine davon nachstellen können. Wissenschaftlerinnen des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung in Frankfurt haben nun gezeigt, wie sich mit einem dieser Modelle mehrere Eigenschaften parallel untersuchen lassen. Ihren Berechnungen zufolge haben sie eine gemeinsame Basis: die Ionenkanäle in der Zellmembran, die die elektrische Erregbarkeit von Nervenzellen steuern. Synaptische Plastizität ist dagegen für die Ausbildung dieser Eigenschaften nicht erforderlich. Mit dieser Erkenntnis lässt sich beispielsweise erklären, warum manche Psychopharmaka weitreichende Nebenwirkungen haben können.

„Nur was ich nachbauen kann, verstehe ich.“ Getreu dieser Feststellung des US-amerikanischen Physikers Richard Feynman versuchen Neurowissenschaftler, das menschliche Gehirn im Computer virtuell nachzubauen. Der Großhirnrinde gilt dabei die besondere Aufmerksamkeit der Forscher, da sie für die die meisten höheren geistigen Fähigkeiten verantwortlich ist.

Eines der in den letzten Jahren entwickelten Computermodelle der Großhirnrinde ist das sogenannte Stabilisierte Supralineare Netzwerkmodell (SSN). Es beruht unter anderem auf der Annahme, dass sich Eingangs- und Ausgangssignale nicht linear zueinander verhalten. Die virtuellen Nervenzellen des Modells sind also so ausgelegt, dass eine leichte Zunahme des Inputs einen drastisch stärkeren Output hervorrufen kann. Das SSN besteht aus Elementen, die sich gegenseitig aktivieren oder hemmen, so wie auch das Gehirn aus erregenden und hemmenden Nervenzellen besteht. Die Verbindungen zwischen den Elementen – die virtuellen Synapsen – sind dagegen unveränderlich. Im Gegensatz zu den Synapsen der Großhirnrinde können die Verknüpfungen im SSN folglich nicht verstärkt oder abgeschwächt werden.

Aus früheren Studien ist bekannt, dass das SSN wichtige Eigenschaften für die Verarbeitung von Eingangssignalen mitbringt, wie sie zum Beispiel die Zentren der Großhirnrinde besitzen, die Sehinformationen verarbeiten. Dazu gehören beispielsweise die Normierung unterschiedlich starker Sehreize, die Verstärkung der Aktivität für schwache Kontraste sowie die Unterdrückung benachbarter Reize. Könnte ein solches Netzwerk aber auch anderen Eigenschaften der Großhirnrinde zugrunde liegen?

Den Analysen der Wissenschaftlerinnen am Max-Planck-Institut für Hirnforschung zufolge ist das tatsächlich der Fall: So können die virtuellen Neuronen des SSN dauerhaft aktiv bleiben – auch nachdem das ursprüngliche Aktivierungssignal verstummt ist. „Dies ist eine Voraussetzung für die kurzzeitige Speicherung von Sinnesinformationen – also für das Arbeitsgedächtnis des Gehirns“, erklärt Nataliya Kraynyukova vom Max-Planck-Institut für Hirnforschung. Darüber hinaus ist das Netzwerkmodell in der Lage, rhythmische Aktivität zu erzeugen. Solche an- und abschwellende Signale sind ein typisches Merkmal der Großhirnrinde und erscheinen beispielsweise im Elektroenzephalogramm als wellenförmige Aktivitätsmuster.

Kurzzeitgedächtnis ohne synaptische Plastizität

Die Ergebnisse zeigen, dass so verschiedenartige Fähigkeiten wie Kurzzeitgedächtnis und die Normierung von Kontrastverhältnissen eine gemeinsame neuronale Basis haben können: die Ionenkanäle in der Zellmembran. Synaptische Plastizität ist dafür nicht erforderlich. „Dies hat uns völlig überrascht, denn synaptische Plastizität gilt seit einigen Jahren als zentraler Mechanismus für die Speicherung von Information im Gehirn. Aber offenbar gilt dies zumindest nicht für das Kurzzeitgedächtnis“, sagt Tatjana Tchumatchenko.

Dank der neuen Erkenntnisse lässt sich darüber hinaus erklären, warum manche Psychopharmaka neben der erwünschten Wirkung auch unerwünschte Effekte haben: Viele Wirkstoffe verändern die Aktivität bestimmter Ionenkanäle im Gehirn. „Mehrere Epilepsie- und Migräne-Medikamente Carbamazepin oder Topiramat blockieren beispielsweise die Aktivität spannungsabhängiger Natriumkanäle. Wie wir nun wissen, kann sich dies auf wichtige Fähigkeiten des Gehirns auswirken und beispielsweise das Kurzzeitgedächtnis beeinträchtigen“, erklärt Tchumatchenko.

HR

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