„Solange Frauen in Leitungsfunktionen fehlen, fehlen auch Rollenvorbilder“

„Solange Frauen in Leitungsfunktionen fehlen, fehlen auch Rollenvorbilder“

Natalie Matosin vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München spricht über die Biochemikerin Rosalind Franklin

Ihr Name wird meist mit zwei weiteren in einem Atemzug genannt: mit Francis Crick und James Watson.

Rosalind Franklin, die Übersehene, die Übergangene. „Rosy“ wie James Watson sie abschätzig in seinem Buch „Doppelhelix“ nannte. Die zwei Männer, Francis Crick und James Watson, liefen ihr den Rang ab, wurden 1962 zusammen mit Maurice Wilkins mit dem Nobelpreis für die Strukturaufklärung der DNA geehrt. Sie, die Frau, die einen wesentlichen Anteil an der Entdeckung hatte, ging leer aus.

Dieses Klischee der Wissenschaftlerin, das sich hartnäckig hält, wird Rosalind Franklin nicht gerecht. Denn zu dem Zeitpunkt, als sie die berühmte Aufnahme 51 der DNA machte, die Francis Crick und James Watson auf die richtige Spur brachte, war sie bereits eine angesehene Wissenschaftlerin. Sie hatte die Röntgenstrukturanalyse so weit verfeinert, dass ihr damit die scharfe Aufnahme der Blaupause des Lebens gelang. Ihr Kollege vom King‘s College in London, Maurice Wilkins, zeigte das Bild und weitere unveröffentlichte Daten James Watson und Francis Crick – ohne Rosalind Franklins Wissen.

Selbst nach ihrer wichtigsten Entdeckung gefragt, hätte Rosalind Franklin nie diese legendäre Aufnahme der Desoxyribonukleinsäure erwähnt, sondern auf ihre Errungenschaften in der Kohle-Forschung verwiesen, die während des Zweiten Weltkrieges zur Verbesserungen von Gasmasken beitrugen, oder ihre Fortschritte in der Virenforschung. Sie hatte später am Birkbeck College zahlreiche Artikel zur Struktur des Tabakmosaikvirus publiziert. Zusammen mit ihrem Kollegen, Aaron Klug, der 1982 ebenfalls mit einem Chemie-Nobelpreis ausgezeichnet wurde, trug sie somit ebenfalls zur Strukturaufklärung des Pflanzenvirus bei, der neben Tabak auch Paprika und Tomaten befällt.

Rosalind Franklin, die am 25. Juli 1920 in London geboren wurde, war die Tochter einer jüdischen Bankiersfamilie. Dieser war die Bildung ihrer zwei Mädchen und drei Jungen sehr wichtig. Auch die Töchter wurden deshalb früh gefördert. Mit 17 besteht Rosalind Franklin die Aufnahmeprüfung an angesehenen Newnham-College für Frauen. Diese durften dort zwar studieren, jedoch nicht den gleichen Abschluss machen wie ihre männlichen Kommilitonen in Cambridge. Rosalind Franklin ergriff ihre Chance und überzeugte durch Hartnäckigkeit und Wissensdurst.

Nach Stationen an der British Coal Utilisation Research Association in London, am Laboratoire Central des Services Chimiques de L'Etat in Paris, in dem sie sich auf die Röntgenstrukturanalyse spezialisierte, sowie am King’s und Birkbeck College in London, starb Rosalind Franklin sehr früh im April 1958 an Eierstockkrebs, wohl aufgrund der andauernden Belastung mit Röntgenstrahlung.

In ihrer Nobelpreisrede, vier Jahre nach Franklins Tod, erwähnten Francis Crick, James Watson und Maurice Wilkins die Wissenschaftlerin mit keinem Wort. Anders ihr ehemaliger Kollege Aaron Klug. Er äußerte die Überzeugung, dass sie ebenso mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden wäre, hätte sie nur länger forschen können.

Frau Matosin, aus welchem Grund sind Sie Wissenschaftlerin geworden?

Mein Vater, der eine tiefe Liebe zu Tieren und zur Natur empfand, hat mich dazu inspiriert. Wir waren immer draußen und schauten uns viele Dokumentarfilme an. Er hat mich mit seiner Begeisterung angesteckt, mein Interesse an der Welt geweckt und mich neugierig darauf gemacht, wie die Welt funktioniert.

Was fasziniert Sie an Rosalind Franklin? Gibt es Aspekte in ihrem Leben und in ihrer Arbeit, die Sie für besonders bemerkenswert halten?

Auch Rosalind Franklin wurde durch ihren Vater angeregt, Wissenschaftlerin zu werden, allerdings mit dem Unterschied, dass ihr Vater später ihre Karriere nicht unterstützt hat.

Mich hat an Franklin besonders fasziniert, dass sie eine solche Stärke bewiesen hat und trotz des Widerstands ihres Vaters daran festhielt, Wissenschaftlerin zu werden – und das in einer Zeit, in der es für Frauen noch extrem schwierig war, sich in der Welt der Wissenschaft beruflich zu behaupten. Sie hat Ausdauer bewiesen und wichtige Entdeckungen in der Wissenschaftsgeschichte gemacht.

Wie muss man sich die vorherrschenden Geschlechterrollen zu Zeiten Rosalind Franklins vorstellen?

Frauen hatten es damals wirklich schwer, sich in der Welt der Wissenschaft zu behaupten. Der Bildungszugang war begrenzt, ein Aufstieg in die akademische Welt so gut wie unmöglich. Ihre Leistungen wurden oft nicht anerkannt – oder sogar von anderen Wissenschaftlern unter eigenem Namen benutzt.

Franklin wurde während ihrer Forschungszeit in den 1950er-Jahren als Frau an den Rand gedrängt, von männlichen Kollegen geächtet und letztendlich von der Wissenschaftsgemeinschaft mit Nichtbeachtung gestraft, ganz zu schweigen von der geringeren Bezahlung.

Exemplarisch dafür steht die Tatsache, dass Forschungsdaten von ihr ohne ihre Zustimmung verwendet wurden. Ihr wissenschaftlicher Beitrag hat erst spät eine gebührende Anerkennung erfahren.

Wie wichtig sind die Beiträge Rosalind Franklins für die Chemie, Kristallographie und Virenforschung?

Franklins berühmt-berüchtigte ‘Beugungsaufnahme Nr. 51’ war wohl ihr bekanntester Forschungsbeitrag, der angeblich ohne ihr Einverständnis weitergegeben und später von Watson und Crick zur Entwicklung des DNA-Modells verwendet wurde, ohne dass Franklins Leistung jemals anerkannt wurde.

Franklin war bereits eine hochqualifizierte Röntgen-Kristallographin, als sie 1951 am King’s College London von ihrem Direktor den Auftrag erhielt, im College-Labor DNA-Forschung zu betreiben, und machte weitere wichtige Entdeckungen, die die Forschungsbereiche Kristallographie und Virologie maßgeblich mitgeprägt haben.

Nun hat sich seit den 1950er-Jahren offensichtlich die Situation für Frauen in der Wissenschaft verbessert. Was hat sich aus Ihrer Sicht verändert?

Die deutlichste Veränderung gegenüber den 1950er-Jahren besteht sicherlich darin, dass wir heute weniger Sexismus und Diskriminierung von Frauen erleben. Dies hängt größtenteils mit der Frauenbewegung zusammen, die in den 1960er-Jahren einsetzte. Sie hat die Öffentlichkeit für dieses Thema sensibilisiert und Diskussionen darüber in Gang gesetzt, wie Frauen und Männer Sexismus besser erkennen und bekämpfen können.

Parallel dazu bieten inzwischen Gesprächskreise in wissenschaftlichen Einrichtungen Frauen den Raum, sich gegenseitig zu unterstützen und Ideen zu entwickeln, wie die Arbeitsbedingungen für Frauen sicherer werden. Die Einrichtungen selbst achten jetzt auch mehr auf Gleichstellungsmaßnahmen, die darauf abzielen, dass Frauen und Männer gleichberechtigt vertreten sind. Die meisten Stipendien- und Förderprogramme akzeptieren inzwischen auch Kindererziehungszeiten als Berufsunterbrechung.

Dennoch ist die unbewusste geschlechtsspezifische Diskriminierung noch immer ein tückisches Problem, das Frauen in der Wissenschaft erheblich benachteiligt.

Trotz vieler positiver Entwicklungen ist die Anzahl der Frauen in MINT-Fächern immer noch geringer als die der Männer. Was sind Ihrer Meinung nach Ursachen für diese Diskrepanz?

Es gibt inzwischen mehr Wissenschaftlerinnen, aber diese Tatsache schlägt sich nicht in der Anzahl der Frauen nieder, die Abteilungen oder Forschungsprojekte leiten. Und dieses Problem erweist sich als Teufelskreis: Solange Frauen in Leitungsfunktionen fehlen, fehlen auch die dringend benötigten Rollenvorbilder. Was man nicht sieht, strebt man nicht an. Jungen Frauen fällt es deshalb wirklich schwer, an die langfristige Möglichkeit einer erfolgreichen Karriere in der Wissenschaft zu glauben.

Trotz einiger Fortschritte werden Wissenschaftlerinnen immer noch schlechter bezahlt, weniger oft befördert, erhalten weniger Forschungsgelder und verlassen die Forschung mit größerer Wahrscheinlichkeit als vergleichbar qualifizierte Männer. Im Vergleich zu Männern werden sie nicht so oft nach ihrer Meinung gefragt, als Referenten eingeladen oder als „Expertinnen” anerkannt. Und für Frauen in der Wissenschaft ist es immer noch nichts Ungewöhnliches, die einzige Frau im Raum zu sein.

Was muss Ihrer Meinung nach passieren, damit sich mehr Mädchen für MINT-Fächer interessieren und in der Folge mehr Frauen MINT-Berufe ergreifen und behalten?

Wenn es darum geht, das Problem der Unterrepräsentation von Frauen in der Wissenschaft zu lösen, reichen Empörung, Vernetzung und Veranstaltungen nicht aus. Auch die strukturellen Probleme einer Arbeitswelt innerhalb von Systemen, die Ungleichheit verstärken und es Frauen erschweren, in der Wissenschaft zu bleiben, müssen angegangen werden.

Der stärkste Rückgang von Frauen in der Wissenschaft ist in der Postdoktorandenphase zu beobachten. Die Einführung existenzsichernder Gehälter und bezahlter Elternurlaube für Postdoktoranden würden beispielsweise dazu beitragen, die Kindererziehung geschlechtergerechter zu gestalten. Zu den weiteren Faktoren zählen eine finanziell unterstützte Kinderbetreuung, Stillzeiten für Mütter in wissenschaftlichen Einrichtungen sowie Stipendien und Förderungen, die Auszeiten bei Schwangerschaft zulassen.

Hinsichtlich der Frage der Geschlechterrepräsentation in der Wissenschaft sollten die Frauen auch ihre Institutionen stärker zur Verantwortung ziehen, etwa durch die Veröffentlichung von Statistiken über Ausfallraten in jeder einzelnen Phase der wissenschaftlichen Ausbildung, Einstellung und Beförderung. Solche konkreten Maßnahmen, die Frauen auf ihrem Karriereweg unterstützen, würden langfristig auf allen Ebenen zu einer größeren Geschlechterparität und einem höheren Frauenanteil in Führungspositionen führen und zudem Mädchen inspirieren, ein MINT-Fach zu wählen.

Halten Sie Mentoren-Programme für sinnvoll?

Mentoren-Programme eignen sich hervorragend als Unterstützung für junge Mädchen und Frauen, die an Naturwissenschaften interessiert sind und ohne diese Hilfe die Herausforderungen, mit denen sie konfrontiert werden, nicht bewältigen können. Programme wie die New York Academy of Sciences 1000 Girls 1000 Futures, ein weltweites Mentoren-Programm für Mädchen zwischen 15 und 18 Jahren, die von einer aktiven Wissenschaftlerin begleitet werden, oder das Mentoring-Programm FemmeNet der Max-Planck-Gesellschaft sind phantastisch.

Welche Rollenvorbilder sehen Sie für Frauen in der Wissenschaft?

Heute ist es viel einfacher, alltagstaugliche Rollenvorbilder für Wissenschaftlerinnen zu finden, weil die Wissenschaftsgemeinschaft Dienste wie Twitter oder Instagram nutzen kann. Wir müssen von solchen Möglichkeiten Gebrauch machen, bis Wissenschaftlerinnen zur Selbstverständlichkeit geworden sind. Ein phantastischer Instagram-Account, der Frauen in MINT-Berufen präsentiert, ist @nina.draws.scientists – “illustrations of trailblazing scientists (that happen to be women)”.

Was würden Sie jungen Frauen mit auf den Weg geben, die eine wissenschaftliche Karriere in Erwägung ziehen?

Frauen gehören in die Wissenschaft. Ihr seid erwünscht. Ihr werdet gebraucht und Ihr seid wertvoll.

Von Barbara Abrell

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