Forschungsbericht 2017 - Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme, Standort Stuttgart

Intelligente Mikroroboter: Eine Revolution im Bereich der minimalinvasiven Medizin bahnt sich an

Autoren
Hakan Ceylan; Metin Sitti
Abteilungen
Physische Intelligenz
Zusammenfassung
Mikroroboter, die einem Patienten zur Hilfe eilen – eine durchaus realistische Vision. Künftig könnten Roboter der Größe einer einzelnen Zelle zuvor unzugängliche Körperbereiche erreichen. Jedoch ist deren Herstellung herausfordernd: Ist es möglich, solch ein autonomes, intelligentes System zu konstruieren, das selbst entscheidet, wann es wo im Körper aktiv wird, und dabei kleiner als ein Millimeter ist? Ein medizinischer Eingriff mittels eines Mikroroboters wäre der Inbegriff einer minimalinvasiven Behandlung. Er wäre, ohne dem Patienten zu schaden, beliebig wiederholbar – eine Revolution.

Minimalinvasive Therapien wie Endoskopie oder Roboter-assistierte Eingriffe sind bereits Standard in der Medizin. Der Fortschritt geht weiter und heutzutage kann am Patienten operiert werden, indem ein nur wenige Millimeter kleines Loch geschnitten wird. Das reduziert das Risiko von Komplikationen nach einer Operation und verkürzt die Genesungszeit des Patienten. Die chirurgischen Instrumente benötigen jedoch eine Kabelverbindung mit der Außenwelt, über die sie gesteuert werden, was die Einsatzmöglichkeiten stark einschränkt.

Nicht-kabelgebundene, mobile Roboter könnten eine weitere Revolution in der Forschung im Bereich der minimalinvasiven Chirurgie einläuten. Mittels solcher Mikroroboter hätte ein Chirurg direkten Zugang und die genaue Kontrolle in schwer zugänglichen Bereichen des Körpers, zum Beispiel im zentralen Nervensystem, in der Blutbahn oder im Auge. Allerdings ist die Herstellung eines solchen Mikroroboters eine Herausforderung. Das System erfordert ein hochkomplexes Design hinsichtlich Struktur, Material, Energieversorgung, Funktionen und zudem biologische Abbaubarkeit. 

Die Abteilung Physische Intelligenz forscht an neuen Designs und Technologien nicht-kabelgebundener Mikroroboter. Diese sollen eines Tages dazu fähig sein, sicher und selbstständig durch einen menschlichen Körper zu navigieren und auf veränderte physiologische Bedingungen zu reagieren. Sie sollen die Medizin, die sie transportieren, automatisch und autonom dort abliefern, wo sie am meisten gebraucht wird (Abbildung 1, oben) [2, 3]. 

Die Wissenschaftler müssen herausfinden, wie man ein solch intelligentes System konstruieren kann, und das im Mikrometerbereich. Sie definieren ein System als intelligent, wenn es wahrnimmt, handelt und lernt – in einem stetigen Kreislauf – mittels seiner eingebauten Sensoren. So kann es sich einer neuen Situation anpassen. Doch wie kann man solch eine Intelligenz erreichen bei einem künstlichen System, das kleiner ist als der Durchmesser eines menschlichen Haares? Denn bei dieser Größe lässt sich keine Rechenkapazität wie bei einem Computer einbauen.

Die Antwort hierzu zeigt die Natur: Mikroorganismen wie zum Beispiel Bakterien nutzen grundlegende biologische, chemische und physikalische Mechanismen, um Entscheidungen zu treffen und sich ihrer komplexen Umwelt anpassen zu können. Bakterien verhalten sich also nicht deshalb intelligent, weil Neuronen aktiv sind und sie denken können. Bakterien haben eine andere Form der Intelligenz, und zwar eingebaut in ihre Struktur und in ihren Aufbau: Wir nennen das die Physische Intelligenz. Kurz gesagt, auch die Hardware ist schlau, nicht nur die Software in einem Gehirn. Die eingebaute Intelligenz signalisiert dem Bakterium zum Beispiel, wann es auf Glukose trifft – eine chemische Verbindung, die es zum Wachsen braucht.

Die physische Struktur eines Bakteriums bietet ein breites Spektrum an Inspiration für die Erschaffung künstlicher Systeme. Die Forscher wollen ein Konstrukt nachbauen, das ähnlich gestaltet ist, ähnliche Mechanismen nutzt, sich anpasst, verändert, selbst organisiert und kontrolliert. Dabei schauen sie sich nicht nur die physikalischen,sondern auch die chemischen Eigenschaften eines Bakteriums an. 

Auf dieser Grundlage konnten sie erstmalig einen magnetischen Mikroroboter aus Hydrogel konstruieren, dessen Aufgabe es ist, eine Krebszelle zu zerstören. Er löst sich mit der Zeit auf und schüttet währenddessen ein Medikament sowie ein Kontrastmittel aus (Abbildung 1, unten). So kann er Medikamente zielgerichtet dort verabreichen, wo sie am meisten benötigt werden, nämlich direkt am Tumor. Zudem enthält der Mikroroboter ein Kontrastmittel, das von der Krebszelle aufgesogen wird. Bei späteren Untersuchungen zum Fortgang der Krankheit sollte das Kontrastmittel nicht mehr im MRT zu sehen sein – schließlich hoffen Arzt und Patient darauf, dass die Krebszelle durch den Roboter zerstört wurde. Sollte die Krebszelle noch zu sehen sein, schickt der Arzt die Mikroroboter erneut los, um dem Tumor den Garaus zu machen.

Doch wie weiß der Mikroroboter, wann er auf eine Krebszelle und nicht auf eine normale Zelle trifft? Wie unterscheidet er bösartig von gutartig? Eine Krebszelle ist von besonders vielen Enzymen umgeben, was sie von einer gesunden Zelle unterscheidbar macht. Am Rand des Mikroroboters sitzen Antikörper, die erkennen, wenn mehr Enzyme vorhanden sind als normal. Dieses Enzym heißt Matrix Metalloproteinase oder MMP – ein besonderes Enzym, das der Krebszelle hilft sich fortzubewegen. Das Enzym funktioniert wie ein Buschmesser, das den Weg durchs Dickicht freimacht. Es arbeitet sich durch gesundes Gewebe, sodass die Krebszelle freie Fahrt hat. Die Metastasen verbreiten dann den Krebs im ganzen Körper. 

Eine Häufung dieser sogenannten MMPs geht mit allen Krebsarten einher. Das heißt die Menge an Enzymen ist für den Mikroroboter ein guter Indikator dafür, ob er auf eine Krebszelle trifft. Er dockt dann mittels Antikörper an einen Rezeptor der Krebszelle an. Nun beginnt der Zersetzungsprozess des Roboters, bei dem er Medikament und Kontrastmittel freisetzt (Abbildung 2a). Als Kontrastmittel verwenden die Forscher Eisenoxid-Nanopartikel (Abbildung 2b oben). Nach der Freisetzung wird das Kontrastmittel von der Krebszelle aufgenommen. In Versuchen absorbierten 39,3 Prozent aller Krebszellen das Kontrastmittel (Abbildung 2b unten). Später konnten die Forscher im MRT diese Krebszellen wiedererkennen und dabei den Tumor lokalisieren.

Die biologische Abbaubarkeit des Mikroroboters ist für medizinische Anwendungen entscheidend. Dieser Ansatz schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe: indem sich der Roboter vollständig zersetzt, entlädt er alle eingelagerten Medikamente. Ohne Zersetzung würde schätzungsweise die Hälfte der Medikamente im Roboter verbleiben. Zusätzlich löst sich dadurch das Problem, wie man den Roboter wieder aus dem Körper entfernen könnte – auf diese Weise die sicherste aller möglichen Optionen.

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Hauptziel unserer Grundlagenforschung ist es, neue Möglichkeiten zu erforschen, mittels Mikroroboter Therapeutika und Kontrastmittel gezielt dort einzusetzen, wo sie gebraucht werden. Mikroroboter könnten die Medizin der Zukunft grundlegend verändern. Medizinische Mikroroboter könnten eines Tages Chirurgen bei ihrer Arbeit unterstützen, um sicherzustellen, dass alle Tumorzellen bei einer Behandlung zerstört werden. Der Kampf gegen Krebszellen „auf Augenhöhe“ im Mikrometerbereich wäre erst der Anfang für eine Revolution der minimalinvasiven Medizin. 

Literaturhinweise

Sitti, M.; Ceylan H.; Hu W.; Giltinan J.; Turan M.; Yim S.; Diller E.
Biomedical Applications of Untethered Mobile Milli/Microrobots
Proceedings of the IEEE 103, 205-224 (2015)
Sitti M.
Mobile Microrobotics
MIT Press, ed. 1 (2017)
Ceylan C.; Giltinan J.; Kozielski K.; Sitti M.
Mobile microrobots for bioengineering applications
Lab on a chip 17, 1705-1724 (2017)
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