„Die andere Seite der Medaille“

Max-Planck-Direktorin Marie-Claire Foblets über die institutsübergreifende Forschungsinitiative zu Migration, Integration und Exklusion

Vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise im Herbst 2015 hat die Max-Planck-Gesellschaft eine Forschungsinitiative zu Migration und Integration ins Leben gerufen. Die Idee: Verschiedene Institute, die bereits in diesem Feld arbeiten, bündeln ihre Kompetenzen, um neue Erkenntnisse in dem gesellschaftlich bedeutenden Bereich zu sammeln. Die Initiative stellt das Thema Exklusion, also Ausgrenzung, in den Mittelpunkt. Welche Ziele sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler setzen, erklärt Marie-Claire Foblets vom Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung. Zusammen mit Ayelet Shachar vom Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften koordiniert sie das Projekt.

Integration gilt als die größte Herausforderung für die Gesellschaft. Warum forschen Sie in der Initiative nicht in diesem Bereich, Frau Foblets?

Integration ist ein sehr wichtiges Thema! Es wäre naheliegend, sich damit zu beschäftigen. Aber wir haben bewusst erst einmal das wissenschaftliche Feld sondiert und sind dabei auf außerordentlich viele Projekte gestoßen, die sich mit Integration befassen. Dabei gerät meistens aus dem Blick, dass beim Bemühen um Integration auch Menschen ausgegrenzt oder ausgeschlossen werden.

Was interessiert Sie besonders am Thema Exklusion?

Exklusion ist nie ganz vermeidbar. Jede menschliche Gemeinschaft legt fest, wer dazugehört und wer nicht. Allerdings sind Integration und Exklusion zwei Seiten einer Medaille, sie schließen einander nicht aus. Einwanderer von außerhalb der EU haben bei uns zum Beispiel begrenzte politische Rechte – was nicht bedeutet, dass sie in ihrem Umfeld in Deutschland nicht gut vernetzt sein können. Manche sind auch sehr gut ausgebildet, bekommen aber trotzdem nur eine befristete Aufenthaltserlaubnis. Auch die Zeit spielt eine Rolle. Unser Ziel ist, die Mechanismen und Dynamiken von Exklusion besser zu verstehen.

Ist Exklusion vor allem das Ergebnis staatlicher Regelungen?

Der Staat ist ein sehr wichtiger Akteur. Er bestimmt, welche Rechte und Pflichten Einwanderer haben und von welchen sie ausgeschlossen sind. Der rechtliche Status ist daher ein Schwerpunkt unserer Initiative. Wir hinterfragen die Kriterien, nach denen die Entscheidungen über Exklusion oder Integration fallen, und wie diese dann umgesetzt werden oder auch nicht. Entsprechen sie den Menschenrechten? Sind sie klar definiert, oder lassen sie Raum für Abwägung im Einzelfall? Gibt es die Gefahr der Willkür? Aber natürlich spielt auch der sozio-ökonomische Status – also Arbeitsmarktposition, Wohnverhältnisse, Bildung, Vernetzung vor Ort und Vertrautheit mit der deutschen Gesellschaft – eine wesentliche Rolle. Hier in Europa ist der sozioökonomische Status entscheidend für die Anerkennung, die ein Mensch erhält. Gerade diejenigen, die krank oder traumatisiert, also am meisten auf Schutz angewiesen sind, laufen Gefahr, ausgegrenzt zu werden. Aber auch Flüchtlinge, die rechtlich, sozial und wirtschaftlich mit Einheimischen gleichgestellt sind, können sich oftmals gesellschaftlich ausgeschlossen fühlen.

Woran liegt das?

In jeder Gesellschaft gibt es emotionale Gemeinschaften. Das sind Gruppen, denen sich Menschen zugehörig fühlen. Die Zugehörigkeit definiert sich über zahlreiche informelle Kriterien und ungeschriebene Regeln wie Verhalten, Werte, Sprache, Religion und vieles mehr. Wer nicht all das verinnerlicht hat, bleibt außerhalb dieser Kreise. Und gerade für jemanden, der nicht hier aufgewachsen ist, kann es sehr schwer sein hineinzufinden.

Ist es nicht eine Frage der Zeit, bis jemand, der neu kommt, die Regeln lernt?

Zeit spielt eine wichtige Rolle. Exklusion kann allerdings extrem lange anhalten. Ein Teilprojekt des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung greift dazu zwei Beispiele aus der Geschichte auf. In dem einen geht es um die Integration von deutschen Heimatvertriebenen nach 1945. Bis sie als Teil der lokalen Bevölkerung akzeptiert wurden und sich auch zugehörig fühlten, dauerte es länger als eine Generation. Das zweite Beispiel befasst sich mit Flüchtlingen, die 1947 nach der Teilung Indiens gewaltsam aus Pakistan vertrieben wurden. Auch sie brauchten Jahrzehnte, bis sie in Indien, ihrer neuen Heimat, integriert waren.

Bei manchen Migranten hat man den Eindruck, dass sie gar nicht dazugehören wollen, sondern lieber unter sich bleiben.

Das gibt es auch. Aber das lässt sich zum Teil als Reaktion auf vorangegangene Ausgrenzung erklären. Menschen, die ausgeschlossen werden oder sich so fühlen, entwickeln ein Verhalten, wie sie damit zurechtkommen. Wer in der Gesellschaft keine angemessene soziale Anerkennung findet, kann sich entweder so lange bemühen und engagieren, bis es ihm gelingt. Oder resignieren und sich einer anderen emotionalen Gemeinschaft anschließen. Wer rechtlich nicht als Asylbewerber anerkannt wird, kann vor Gericht gehen. Er kann auch oft gute Gründe anführen, um nicht abgeschoben zu werden. Oder er taucht unter, um sich selbst zu schützen.

Das Letztgenannte ist ja nicht gerade im Sinne des Gesetzes …

… aber eine Konsequenz, der man sich bewusst sein sollte. Auch darauf werden wir in der Forschungsinitiative ein Augenmerk richten. Jede rechtliche Regelung ist dazu da, dass Menschen sie nutzen. Wenn das nicht möglich ist, muss man einsehen, dass für manche die Perspektive, abgeschoben zu werden, so abschreckend ist, dass sie alles daran setzen, das zu verhindern. Wir sollten bedenken, wie wir uns selbst in einer solchen Situation verhalten würden.

Es erstaunt immer wieder, wie unterschiedlich Flüchtlinge in Deutschland behandelt werden. Das geht von der Arbeitserlaubnis bis zur Abschiebung…

Tatsächlich unterscheiden sich die Regelungen und die Anwendung der Gesetze zwischen den Ländern stark. Besonders problematisch kann es sein, wenn Flüchtlinge über lange Zeit in völliger Unsicherheit leben müssen. Dieser Zustand in der Schwebe kann zu einer extremen Belastung werden. Die Menschen wissen nicht, ob es sich lohnt, soziale Kontakte zu knüpfen, die Sprache zu lernen und sich selbst um eine Arbeit zu bemühen, wenn alles, was sie sich hier aufbauen, möglicherweise nur wenige Wochen oder Monate Bestand hat.

Das Thema Migration ist einer der Hauptstreitpunkte bei den Verhandlungen für eine neue Bundesregierung. Können Sie die Politik da nicht unterstützen, zum Beispiel mit dem Entwurf eines Einwanderungsgesetzes?

Wir machen Grundlagenforschung, keine politische Beratung. Das heißt, wir sammeln zuerst Erkenntnisse – konkret eben über die Mechanismen und Zusammenhänge von Exklusion und Migration. Eine Stärke unseres gemeinsamen Projekts ist, dass die einzelnen Teams von Daten, Wissen und Kenntnissen der jeweils anderen profitieren können. Wenn wir aus diesen Ergebnissen ein Gesamtbild formen, werden wir Defizite und Widersprüche im System klar benennen können. Die akademische Freiheit gibt uns die Möglichkeit, unabhängig von politischen Konzepten und wahltaktischen Überlegungen zu denken. Auf dieser Basis haben wir durchaus vor, Alternativen zu den bestehenden Regelungen zu erarbeiten und in die Politik einzubringen. Aber dazu brauchen wir Zeit, die noch notwendigen Daten zu sammeln und zu analysieren.

Interview: Mechthild Zimmermann

Die Herausforderungen von Migration, Integration und Exklusion

In der Forschungsinitiative arbeiten aktuell 15 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an neun Teilprojekten. Das Themenspektrum reicht von der Situation illegaler Migranten in Deutschland bis zu den Rechten von Asylbewerbern auf den griechischen Inseln. Untersucht wird auch die Motivation somalischer Flüchtlinge, aus Europa nach Kenia zurückzukehren, oder die Frage, inwieweit soziale Ausgrenzung Zuwanderer krank macht. Die Initiative ist zunächst auf drei Jahre befristet und wird zu 40 Prozent aus zentralen Mitteln finanziert. Die Leitung haben neben Marie-Claire Foblets vom Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung auch Ayelet Shachar und Steven Vertovec vom Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften. Beteiligt sind zudem die Max-Planck-Institute für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, für demografische Forschung, für Bildungsforschung sowie für Sozialrecht und Sozialpolitik.

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