Forschungsbericht 2017 - Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik

Die virtuelle Leber

Autoren
Zerial, Marino; Meyer, Kirstin; Ostrenko, Oleksandr; Bourantas, Georgios; Morales-Navarrete, Hernan; Porat-Shliom, Natalie; Segovia-Miranda, Fabian; Nonaka, Hidenori; Ghaemi,Ali; Verbavatz,  Jean-Marc; Brusch, Lutz;  Sbalzarini, Ivo F.; Kalaidzidis, Yannis;  Weigert, Roberto
Abteilungen
Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik, Dresden
Zusammenfassung
Ein neu entwickeltes 3D-Modell der Leber kann dazu beitragen, Erkrankungen der Leber besser zu verstehen. Das Modell ermöglicht Vorhersagen der Auswirkungen von Medikamenten und damit verbundene Schädigungen des Organs.  Eine wichtige Grundlage hierfür ist die Simulation des Gallenflusses. Dazu wurde der Gallentransport in der Mausleber gemessen. Mit Hilfe von Rechenmodellen wurde ein Mehrskalen-Modell des Gallenflusses erstellt. Die Forscher arbeiten nun an einer Strategie, um das Modell auf die menschliche Leber zu übertragen.

Einleitung

Die Leber ist ein lebenswichtiges Organ, welches eine zentrale Rolle in unserem Stoffwechsel und bei der Entgiftung des Körpers übernimmt. Für die Verdauung von Fetten sowie Ausscheidung von Stoffwechselprodukten und Giftstoffen wird in der Leber Gallenflüssigkeit produziert und anschließend in den Darm transportiert. Damit die Galle in den Darm gelangt, besitzt die Leber ein fein verästeltes Netzwerk an Gallenkanälchen – subzelluläre Strukturen in den Leberläppchen, die nur 0,5-2 Mikrometer klein sind. Dieses weit verzweigte röhrenförmige Netzwerk übernimmt den Transport der Galle innerhalb der Leber (Abb. 1).

Ein genaues Verständnis von der Funktionsweise der Leber ist von zentraler Bedeutung, da beispielsweise Überdosierungen von Arzneimitteln oder ein Stau von Gallenflüssigkeit (cholestatische Lebererkrankung) zu lebensbedrohenden Erkrankungen führen können. Wenn der Gallenfluss beeinträchtigt ist, kann dies zu Schädigungen der Leberzellen durch Gallensäure führen, zu Leberfibrose und längerfristig zu Leberzirrhose. Aktuelle diagnostische Verfahren basieren auf dem Nachweis von Serummarkern und bildgebenden Verfahren wie z.B. der Computertomographie. Diese Verfahren haben jedoch eine relativ niedrige Auflösung und bieten nur einen eingeschränkten Einblick in die zugrundeliegende Krankheitsursache. Daher ist ein quantitatives Verständnis der Dynamik von Gallenflüssigkeit unabdingbar. Trotz der Wichtigkeit von genauen diagnostischen Verfahren sind experimentelle Messungen oder Computersimulationen des Gallenflusses in der Leber aufgrund technischer Herausforderungen derzeit noch nicht verfügbar.

Dreidimensionales Gallenfluss-Modell

Die Max-Planck-Forscher haben  gemeinsam mit Kollegen der Technischen Universität Dresden, der Staatsuniversität Moskau, der Universität Luxemburg und der National Institutes of Health (Bethesda, USA) die Eigenschaften des Gallentransports in Mäusen sowohl mit einem experimentellen als auch theoretischen Ansatz untersucht [1]. Mittels verschiedener hochauflösender Mikroskopietechniken von Rasterelektronenmikroskopie bis Fluoreszenzmikroskopie konnte das Team die Struktur des gesamten Gallennetzwerks auf den verschiedenen Ebenen der Leber analysieren: Beginnend auf der subzellulären Ebene, den Zellmembranen einzelner Leberzellen auf der zellulären Ebene der gesamten Leberzelle, bis hin zum Gewebe, dem gesamten Netzwerk an Gallenkanälchen in den Leberläppchen. Aufgrund dieser Bilddaten wurde ein geometrisches Modell des Gallenkanälchensystems erstellt. Dieses Modell wurde dann mit quantitativen Messungen des Gallenflusses kombiniert. 

Gemessen wurde der Gallenfluss dabei mit Intravitalmikroskopie, einem leistungsfähigen Werkzeug, das die Abbildung dynamischer biologischer Prozesse in lebenden Organismen ermöglicht. Es zeigte sich, dass die zwei Gradienten der Gallengeschwindigkeit und des Gallendrucks in den Leberläppchen in umgekehrten Verhältnis zueinanderstehen. Die Gallengeschwindigkeit nimmt dabei vom Läppchenzentrum in die Richtung des Gallenganges allmählich zu, während der Druck der Galle entgegengesetzt dazu abnimmt.

Eine weitere Erkenntnis der Forscher zeigt, dass der Gallenfluss durch die osmotischen Effekte der Gallensekretion (Ausscheidung von Gallenflüssigkeit aus der Leberzelle in die Gallenkanälchen) und der Kontraktionskraft der Gallenkanälchen gesteuert wird. Neu dabei ist, dass der osmotische Druck allein nicht ausreicht, um den Gallenfluss in dem Modell eindeutig zu erklären, sondern die gerichteten Kontraktionen in den Gallenkanälchen einen zusätzlichen Schlüsselfaktor darstellen. 

Von größter Bedeutung für die Wissenschaftler war die Entwicklung von Algorithmen für die Bildanalyse, um das Verhalten der Gallenflüssigkeit präzise und hochaufgelöst quantifizieren und simulieren zu können. Herausgekommen ist ein dreidimensionales Mehrskalen-Modell des Gallenflusses, welches das Verhalten der Gallenflüssigkeit in den Gallenwegen der Leber simuliert und damit helfen kann, Erkrankungen der Leber besser zu verstehen. Besonders interessant ist, das mit diesem Modell Vorhersagen möglich sind, wie sich etwa Medikamente auf das Verhalten des Gallentransports und damit auf die Funktion der Leber auswirken.

Menschliche Lebererkrankungen besser verstehen

Bisher wurden die Ergebnisse nur in Studien mit Mäusen erbracht. Die Max-Planck-Forscher sind jedoch zuversichtlich, dieses Modell auch auf die menschliche Leber übertragen zu können. Dies kann es ermöglichen, Lebererkrankungen generell besser zu verstehen und sogar die Auswirkungen von bestimmten Medikamenten auf die Leber zu berechnen. Die Genauigkeit des Modells lässt sich am Beispiel von Paracetamol zeigen: Anhand der Netzwerkstruktur konnte die Simulation den Effekt von Paracetamol auf den Gallenfluss und somit die Funktion der Leber korrekt vorhersagen. Für die Entwicklung neuer Medikamente könnte dieses neue Modell somit hilfreich sein, um mögliche Schäden der Leber vorherzusagen.

Zurzeit ist die tierexperimentelle Forschung eine gesetzliche Anforderung, um die Lebertoxizität neuer Medikamente nachzuweisen. Dabei werden Tierversuche leider weiterhin notwendig sein. Da jedoch das Modell wesentlich empfindlicher ist als die derzeitigen toxikologischen Tests, bietet es die Möglichkeit, weitere Informationen zu erhalten. Damit könnte es in Zukunft dazu beitragen, die Zahl der Tierversuche in der Arzneimittelentwicklung zu reduzieren.

Meyer, K.; Ostrenko, O.; Bourantas, G.; Morales-Navarrete, H.;  Porat-Shliom, N.; Segovia-Miranda, F.; Nonaka, H.; Ghaemi, A.; Verbavatz, J.-M.; Brusch, L;. Sbalzarini, I.F.; Kalaidzidis, Y.; Weigert, R.; Zerial, M.
A Predictive 3D Multi-Scale Model of Biliary Fluid Dynamics in the Liver Lobule
Cell Systems 22, (2017) 277–290

 

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