Forschungsbericht 2017 - Max-Planck-Institut für Festkörperforschung
Higgs-Spektroskopie in Supraleitern im Nichtgleichgewicht
Einleitung
Supraleiter sind Materialien, deren Gleichstromwiderstand unterhalb einer kritischen Temperatur verschwindet und die ein Magnetfeld aus ihrem Inneren verdrängen (Meissner-Effekt). Die mikroskopische Ursache dieses Phänomens ist die Verbindung zweier Elektronen zu Cooper-Paaren, die zu einem kohärenten Quantenzustand kondensieren.
Zum Aufbrechen eines Cooper-Paares wird eine Mindestenergie benötigt, die dem Doppelten des Ordnungsparameters Δ der Supraleitung entspricht. Diese Energielücke trennt somit den supraleitenden Zustand vom normalleitenden Zustand und bestimmt damit maßgeblich die supraleitenden Eigenschaften. Bei konventionellen Supraleitern ist diese isotrop und winkelunabhängig (isotrope s-Wellen Symmetrie). In vielen unkonventionellen oder Hochtemperatur Supraleitern hängt die Energielücke jedoch vom Winkel ab und weicht daher von der isotropen s-Wellen Symmetrie ab. In beiden Fällen können Nichtgleichgewichts Higgs-Oszillationen dazu verwendet werden, Informationen über die Energielücke zu erhalten.
Higgs-Mode im Supraleiter
Cooper-Paare lassen sich als Kollektiv anregen, was aus der spontanen U(1)-Symmetriebrechung des supraleitenden Grundzustandes folgt. Eine solche kollektive Anregung ist die Higgs-Mode, welche als radiale Anregung des Systems im Mexican Hat-Potenzial der freien Energie eines Supraleiters verstanden werden kann (Abb. 1).
Experimentell lässt sich die Higgs-Mode nur schwer anregen, da diese kein Dipolmoment besitzt und damit nicht linear an Licht koppelt. Indirekt lässt sich die Higgs-Mode nachweisen, falls zusätzlich zur Supraleitung eine weitere Phase im Material existiert, die mit der supraleitenden Phase wechselwirkt und mit Licht angeregt werden kann. Dies ist zum Beispiel im Supraleiter Niobdiselenid (2H-NbSe2) der Fall, welcher eine langreichweitige Ladungsdichtewellen-Phase ausbildet. In inelastischen Raman-Streuexperimenten zeigt sich die Higgs-Mode hier als Peak innerhalb der Energielücke 2Δ [1].
Eine weitere Möglichkeit, die Higgs-Mode zu beobachten, liefert die nichtlineare Optik mittels Third-Harmonic-Generation (THG) [2]. Hierbei wird der Supraleiter mit einem Laser dauerhaft periodisch angeregt. Dabei wird der Ordnungsparameter durch nichtlineare Kopplung an das Licht gezwungen, mit dem Zweifachen der Laserfrequenz zu schwingen. Entspricht nun das Zweifache der Laserfrequenz gerade jener Frequenz der Higgs-Mode, so kommt es zur Resonanz zwischen treibender Laserfrequenz und Higgs-Mode. Diese Resonanz ist durch eine THG-Messung deutlich sichtbar, da sie ein starkes Signal bei der Resonanzbedingung liefert.
Direkt anregen lässt sich die Higgs-Mode im Nichtgleichgewicht durch Pump-Probe-Experimente [3]. Solche Experimente sind erst seit kurzer Zeit möglich, da sich die dafür notwendigen Terahertz-Laserpulse erst seit wenigen Jahren erzeugen lassen. Bei einem solchen Experiment bricht ein kurzer Laser-Pump-Puls hoher Intensität eine kleine Menge an Cooper-Paaren auf, so dass das Mexican Hat-Potenzial schrumpft (Abb. 1). Da diese Änderung sehr schnell erfolgt, hat das System keine Zeit, dieser Änderung adiabatisch zu folgen, man spricht von einem Quantum Quench. Im Bild der freien Energie entspricht dies dem direkten Übergang vom anfänglichen in den verkleinerten Mexican Hat. Das System tritt in einen Nichtgleichgewichtszustand über und beginnt radial um die neue Gleichgewichtslage zu oszillieren. Um diese Higgs- Oszillationen zu messen, folgt ein zweiter schwächerer Probe-Puls, der auf diesen angeregten Zustand trifft. Durch eine Variation der Zeit zwischen den beiden Pulsen lässt sich diese Oszillation abtasten und nachweisen.
Higgs-Oszillationen zur Untersuchung der Energielücke
Eine genauere Analyse der Higgs-Oszillationen zeigt, dass diese einiges über die Energielücke des zugrunde liegenden Materials aussagen. Für einen konventionellen isotropen Supraleiter mit s-Wellen-Symmetrie besitzen die Oszillationen eine Frequenz von 2Δ∞ [4]. Hierbei ist Δ∞ der Wert der verkleinerten Energielücke, der durch den Quench entsteht. Dieser Wert wird nach Abklingen der Oszillationen nach langer Zeit (t→∞) erreicht und hängt von der Intensität des Pump-Pulses ab. Je höher die Intensität, desto kleiner wird Δ∞, da mehr Cooper-Paare aufbrechen. Es lässt sich also dank der Frequenz-Energielücken-Beziehung eine Aussage über die Energielücke im Gleichgewicht treffen, obwohl sich das System nicht im Gleichgewicht befindet.
Eine andere Klasse von Supraleitern sind Mehrband-Supraleiter, wie Magnesiumdiborid (MgB2), das zwei verschiedene Energielücken besitzt. Darin lassen sich für jede Energielücke Higgs-Oszillationen mit einer Frequenz, welche dem Zweifachen der jeweiligen Lücke entspricht, anregen, wobei sich beide Higgs-Oszillationen überlagern [5]. Zusätzlich können im Nichtgleichgewicht die Phasen der Ordnungsparameter miteinander koppeln; das erlaubt eine zusätzliche Leggett-Moden-Anregung.
Werden Higgs-Oszillationen in unkonventionellen Supraleitern mit nicht-trivialer Energielücken-Symmetrie angeregt, so findet man zusätzlich zur symmetrischen Higgs-Oszillation der Frequenz 2Δ∞ weitere Higgs-Moden mit niedrigerer Energie. Diese zusätzlichen Moden folgen aus der Winkelabhängigkeit der Energielücke und reflektieren die Gittersymmetrie des Materials. Je nach Einstrahlwinkel und Phase des Pump-Pulses lassen sich unterschiedliche Moden anregen In Analogie zur Phononenspektroskopie zur Klassifizierung der Gittersymmetrie lässt sich so die Energielücken-Symmetrie durch systematische Spektroskopie der Higgs-Oszillationen klassifizieren.