Forschungsbericht 2017 - Max-Planck-Institute für experimentelle Medizin

Das Gehirn vernetzt sich von allein

Autoren
Brose, Nils; Sigler, Albrecht; Imig, Cordelia; Altas, Bekir; Kawabe, Hiroshi; Cooper, Benjamin; Kwon, Hyung-Bae; Rhee, Jeong-Seop
Abteilungen
Molekulare Neurobiologie
Zusammenfassung
Nach der gängigen Lehrmeinung müssen Nervenzellen im Gehirn aktiv miteinander kommunizieren, um funktionsfähige Netzwerke zu etablieren. Neue Ergebnisse zeigen nun, dass sich Nervenzellen in einer für Lern- und Gedächtnisprozesse wichtigen Gehirnregion auch ganz ohne aktive Signalübertragung an ihren synaptischen Kontaktstellen zu normal strukturierten Netzwerken verknüpfen können.

Einleitung

Das menschliche Gehirn verarbeitet Informationen in einem gigantischen Netzwerk von 100 Milliarden Nervenzellen (Neuronen), die über 100 Billionen Kontaktstellen, sogenannte Synapsen, miteinander verbunden sind. An diesen Synapsen führen elektrische Impulse einer sendenden Nervenzelle zur Freisetzung von Botenstoffen in der Präsynapse, die von nachgeschalteten Nervenzellen an der Postsynapse empfangen und wieder in elektrische Signale umgewandelt werden. Auf diesem Prinzip der chemischen Signalübertragung basiert die Kommunikation aller Nervenzellen, die in Form von Netzwerken für die Steuerung aller Körperfunktionen verantwortlich sind.

Glutamat lässt "Dornen" im Gehirn wachsen

Der wichtigste Botenstoff im Gehirn, Glutamat, wird unter anderem an sogenannten postsynaptischen Dornen-Synapsen übertragen. Bei den "Dornen" (spines) handelt es sich, ähnlich wie bei einer Rose, um kleine Ausstülpungen der Zellmembran von Neuronenfortsätzen (Abb. 1). Der spanische Anatom Santiago Ramón y Cajal (1852-1934) beschrieb die mikroskopisch kleinen Fortsätze zuerst und vermutete, dass diese bei der Informationsspeicherung im Gehirn eine besondere Rolle spielen könnten. Wie wir inzwischen wissen, lag er damit richtig: die spines tragen Rezeptoren, die registrieren, wenn eine Synapse aktiv wird, indem sie das von der Präsynapse freigesetzte Glutamat binden und eine Antwort in der nachgeschalteten Zelle auslösen. Auf diese Weise fungieren Dornen-Synapsen als winzige neuronale Schalteinheiten. Sie sind einerseits für die normale Signalübertragung verantwortlich, andererseits können sie sich dynamisch verändern, um komplexe Hirnfunktionen, z. B. Lernprozesse, zu unterstützen. Ist eine Synapse zum Beispiel besonders aktiv und setzt dementsprechend viel Glutamat frei, wachsen die Dornen der nachgeschalteten Nervenzelle, oder es entstehen sogar zusätzliche Dornen-Synapsen - man spricht von synaptischer Plastizität. Auf Grund dieser und vieler ähnlicher Beobachtungen gilt in der Hirnforschung seit Jahrzehnten das Dogma, dass die Entstehung von Dornen-Synapsen sowohl während der Hirnentwicklung als auch im reifen Gehirn von einer aktiven Glutamat-Freisetzung durch die sendende Nervenzelle abhängig ist.

Ein genetischer Trick widerlegt ein Dogma der Neurowissenschaften

Dieses Dogma wurde nun von Forschern am Max-Planck-Institut für Experimentelle Medizin zusammen mit Wissenschaftlern am Max Planck Florida Institute for Neuroscience widerlegt [1]. Um den Effekt einer aktiven synaptischen Glutamat-Freisetzung auf die Entstehung von Dornen-Synapsen zu analysieren, verwendeten die Wissenschaftler ein genetisch verändertes Mausmodell (Munc13-DKO), in dem die synaptische Botenstoff-Ausschüttung schon sehr früh in der Entwicklung spezifisch und gänzlich ausgeschaltet ist, während alle anderen Zellfunktionen, die für die Entwicklung und das Überleben der Zelle wichtig sind, erhalten blieben [2]. Für die Versuche wurden zunächst Schnitte aus dem Hippocampus, einer für das Gedächtnis wichtigen Hirnregion, von normalen und Munc13-DKO-Tieren kultiviert. Nach drei verschiedenen Zeitintervallen in Kultur wurden einzelne Nervenzellen in diesen Schnitten zunächst elektrophysiologisch analysiert, um die erwartete Blockade der synaptischen Signalübertragung in Munc13-DKO-Schnitten nachzuweisen, mit einem Fluoreszenzfarbstoff gefärbt und vollständig mit Hilfe eines Mikroskops rekonstruiert. Überraschenderweise zeigte sich, dass sich Nervenzellen der Munc13-DKO-Mausmutante auch ohne jegliche Glutamat-Freisetzung ganz normal entwickeln können und sie - wie bei gesunden Synapsen – weiterhin Dornen-Synapsen ausbilden. Tatsächlich unterschieden sich die Dornen in den "stillgelegten" Munc13DKO-Hirnpräparaten weder in Form und Größe noch ihrer Verteilung von denen der Kontrollpräparate. Auch waren diese Synapsen trotz der fehlenden Botenstofffreisetzung teilweise funktionsfähig, denn die Dornen der nachgeschalteten Zelle reagierten weiterhin auf künstlich freigesetztes Glutamat (glutamate uncaging).

 Auch stille Nervenzellen finden sich zu funktionalen Netzwerken zusammen

Wie die Ergebnisse zeigen, besitzen Nervenzellen des Hippocampus ein zelluläres Programm, das ihre synaptische Verschaltung steuert und bei dem synaptische Glutamat-Signale keine Rolle spielen. Stattdessen nehmen sehr wahrscheinlich sogenannte Adhäsionsmoleküle eine wichtige Funktion wahr: Sie werden von der Prä- und Postsynapse ausgebildet, interagieren miteinander außerhalb der Zellen, um die beiden Kompartimente zusammenzuführen, und induzieren so die Ausbildung von Dornen-Synapsen. Zusätzlich sind bestimmte Wachstumsfaktoren und Signalmoleküle für die korrekte Verschaltung der Nervenzellen während der Entwicklung wichtig. Erst das so entstehende Netzwerk bildet dann die Basis für durch Hirnaktivität ausgelöste Veränderungen der Synapsen-Verschaltung - während der initialen Netzwerk-Entwicklung ist die synaptische Aktivität offenbar nicht notwendig.

Literaturhinweise

Sigler, A.; Oh, W.C.; Imig, C.; Altas, B.; Kawabe, H.; Cooper, B.H.; Kwon, H.-B., Rhee, J.-S., Brose, N.
Formation and maintenance of functional spines in the absence of presynaptic glutamate release
Neuron 94, 304-311 (2017)
Varoqueaux, F; Sigler, A; Rhee, J.-S.; Brose, N.; Enk, C.; Reim, K.; Rosenmund, C.
Total arrest of spontaneous and evoked synaptic transmission but normal synaptogenesis in the absence of Munc13-mediated vesicle priming
Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 99 (13), 9037-9042 (2002)
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