„Ein mentales Training, um toleranter Weltbürger zu werden“

Tania Singer, Direktorin am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, über mentale Mitgefühlsübungen, den inneren Richter und Perspektiven für ein friedliches Miteinander

In einer großangelegten Untersuchung, dem ReSource-Projekt, untersucht das Team um Tania Singer am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften seit zehn Jahren die Wirkung von Meditation auf das Verhalten und die damit verbundenen Veränderungen im Gehirn. Dabei gewinnt die Studie nicht nur immer neue Erkenntnisse über klassische Meditationstechniken, sondern ergänzt diese auch um neue mentale Trainingstechniken.

Frau Singer, warum haben Sie neue Formen der Meditation entwickelt?

Ich habe nach einer Möglichkeit gesucht, mit Studienteilnehmern gezielt soziale Fähigkeiten wie Mitgefühl, Empathie und die sogenannte „Theory of Mind“ zu trainieren. Theory of Mind heißt, kurz gesagt, dass ein Mensch in der Lage ist, die Gedanken, Glaubenssätze und Meinungen anderer zu verstehen.

Um Mitgefühl zu steigern, gibt es zwar auch Ansätze in der klassischen Meditation wie die „Meditation der liebevollen Güte“. Hier lenkt der Einzelne in seiner Meditation mitfühlende Gedanken auf andere. Aber er stellt sich sein Gegenüber nur vor, das macht es schwierig. Daher war meine Überlegung, dass es besser wäre, auch Partnerübungen wie in manchen Therapien einzusetzen. Wir haben die Übungen kontemplative Dyaden genannt, weil sie wie laute Meditationen zu zweit sind.

Wie kann man sich so eine Dyade vorstellen?

Das ist sozusagen eine Meditation mit Zeuge: Einer spricht, der andere hört zu, ohne etwas zu sagen, und fühlt empathisch mit oder versetzt sich in die Gedanken des anderen hinein, je nach Typ der Dyade. Dann tauschen die beiden ihre Rollen.

Wir haben zwei unterschiedliche Formen entwickelt. Im ersten, eher affektiv ausgerichteten Modul berichten die Teilnehmer von einer schwierigen Situation, die sie an dem Tag erlebt haben, und wie sich das körperlich für sie angefühlt hat, etwa, dass sie feuchte Hände oder Herzklopfen bekommen haben. Dann als Kontrast dazu beschreiben sie eine Situation, in der sie Dankbarkeit erlebt haben, und die Reaktion ihres Körpers darauf, etwa ruhigerer Atem oder entspanntere Muskeln. Danach ist der Partner, der zugehört hat, mit dem Erzählen dran.

Drei Monate lang haben die Partner jeden Tag zehn Minuten lang diese dyadischen Übungen gemacht – von zu Hause aus am Telefon mit Hilfe einer App, damit sie es besser in ihren Alltag einbauen konnten. Jede Woche wechselten die Partner in der Versuchsgruppe. Es ging ja nicht darum, Beziehungen aufzubauen, sondern darum, zu erleben, dass jeder Stress und Dankbarkeit empfinden kann und wir uns darin alle gleichen.

Wie unterscheidet sich die zweite Partnermeditation davon?

Das zweite Modul ist eher kognitiv ausgerichtet. Es geht um das Erlernen des Perspektivenwechsels, entweder auf sich selbst oder andere. Grundlage für die sogenannte Persktiven-Dyade, die tägliche Partnerübung in diesem Modul, ist das Modell des „Inneren Familiensystems“ von Dick Schwartz: Wir alle haben gewisse Persönlichkeitsanteile wie das innere Kind, den Beschützer oder den inneren Richter. Der Richter ist zum Beispiel der, der uns Stress macht, der uns sagt, da warst du nicht gut genug.

Bei den Dyaden in diesem Modul geht es darum, eine Situation, die ein Versuchsteilnehmer gerade erlebt hat, aus der Perspektive eines dieser Persönlichkeitsanteile zu erzählen. Welche Perspektive das ist, bestimmt der Computer. Der zuhörende Partner in der Übung weiß nicht, welcher Anteil gerade spricht. Er versucht, sich beim Zuhören in die Gedankenwelt des anderen hineinzuversetzen, um am Ende der Übung zu erraten, welcher Anteil gesprochen hat.

Diese zehn Minuten Dyaden waren allerdings nur ein Teil der zwei sozialen Module „Affekt und Perspektive". In beiden Modulen sollten die Teilnehmer zusätzlich jeweils 20 Minuten lang täglich eine klassische Kernmeditation alleine praktizieren. Und in den wöchentlichen Sitzungen mit den Lehrern wurden auch noch andere Arten der Meditation eingeführt, die inhaltlich zu den jeweiligen Modulen passten.

Konnten Sie einen Trainingseffekt feststellen?

Mehr als einen! Wenn Sie von einem Sportwissenschaftler wissen wollen, ob Sport einen Trainingseffekt hat, wird er Sie auch als erstes fragen: Welche Sportart meinen Sie? Meinen Sie Schwimmen, Fußball oder Schach? Meditation ist ein wenig wie Muskeltraining für den Geist: Die Wirkung hängt jeweils davon ab, welche Art der mentalen Übungen man täglich praktiziert. Deshalb haben wir ja die drei verschiedenen Trainingsmodule entwickelt. Jedes Modul hatte, wie erwartet, sehr spezifische Effekte zum Beispiel, dass sich die Struktur bestimmter Gehirnnetzwerke veränderte, die jeweils Aufmerksamkeit, Mitgefühl oder Perspektivenübernahme verarbeiten.

Lässt sich der Trainingseffekt bei Meditation überhaupt so leicht messen?

Leicht ist diese Art der Forschung nicht. Aber wir haben Messmethoden entwickelt, die uns beispielsweise erlauben, im Scanner und auf Verhaltensebene, Veränderungen der Empathie, des Mitgefühls und der "Theory of Mind" zu erfassen. Mit diesen Tests konnten wir tatsächlich nachweisen, dass sich die Kompetenzen der Teilnehmer entsprechend ihrem jeweiligen Trainingsmodul nach den drei Monaten verbessert hatten. Und das ging einher mit struktureller Gehirnplastizität in den spezifischen neuronalen Netzwerken.

So hat das erste Präsenzmodul zur Achtsamkeit und Aufmerksamkeit in der Tat bewirkt, dass die Konzentrationsfähigkeit der Teilnehmer gestiegen ist. Das sozio-affektive Modul hat, wie vermutet, die Fähigkeit zum Mitgefühl mit anderen verbessert. Und das sozio-kognitive Modul hat die Fähigkeit gesteigert, sich gedanklich in die Perspektive eines anderen zu versetzen.

Zusätzlich haben wir mittels Magnetresonanztomografie bei den Teilnehmern Strukturveränderungen in den Gehirnen vor und nach den drei Trainingsmodulen gemessen. Auch da konnten wir zeigen, dass die jeweiligen Module zu spezifischen strukturellen Veränderungen im Gehirn geführt haben, die eben der Verarbeitung von Aufmerksamkeit, Mitgefühl oder Perspektivübernahme zugrundliegen. Wir konnten also zum ersten Mal wirklich nachweisen, dass das soziale Gehirn von erwachsenen Menschen, die im Mittel über 40 Jahre alt waren, noch plastisch ist.

Laut Ihren Messungen helfen Ihre Trainingsmethoden auch, Stress zu reduzieren. Wie kommt das?

Stress ist ein komplexes Phänomen. In unseren westlichen Gesellschaften ist vor allem der soziale Stress zu einem enormen Problem geworden, also der Stress, der ausgelöst wird, wenn wir Angst haben, von anderen negativ beurteilt zu werden und ihren Erwartungen nicht zu genügen. Wir haben nun zeigen können, dass dieser soziale Stress, also die Antwort des Stresshormons Cortisol auf einen sozialen Stressor, vor allem durch die zwei sozialen Trainingsmodule, Affekt und Perspektive, um fast die Hälfte reduziert werden konnte, jedoch nicht durch das Achtsamkeits-basierte Präsenzmodul.

Das macht für uns Sinn, denn bei den erwähnten Partnerübungen, den kontemplativen zehnminütigen täglichen Dyaden, erfahre ich jeden Tag, dass mir jemand zuhört, ohne über mich zu urteilen. Das heißt, ich übe jeden Tag, die Angst vor dem strengen Urteil anderer abzubauen. Unsere Hypothese ist, dass deswegen die beiden sozialen Trainingsmodule so effektiv sind.

Was manche überraschen wird: Die klassischen Achtsamkeits-basierten Meditationen wie der Body Scan oder die klassische Atemmeditation im Präsenzmodul, die ja Grundbestandteil von vielen klassischen „Achtsamkeitsbasierten Stressreduktionsprogrammen" sind, beeinflusst, anders als bisher angenommen, sozialen Stress nach drei Monaten Übung nicht auf der Hormonebene. Solche Basispraktiken werden jedoch heutzutage vielfach per App oder über Kurzprogramme propagiert und viele Kliniken bieten solche Praktiken an, um Stresssymptome bei Patienten zu lindern.

Tatsächlich – das kam auch in unserer Studie heraus – fühlen sich die Teilnehmer, wenn man sie mit Fragebögen befragt, nach allen drei Modulen subjektiv weniger gestresst, das heißt auch nach dem achtsamkeitsbasierten Präsenzmodul. Wir haben jedoch nachgewiesen, dass die Cortisolantwort auf einen sozialen Stressor durch diese Art der aufmerksamkeitsbezogenen Basismeditationen alleine nicht reduziert wird. Wer daher wirklich weniger anfällig für sozialen Stress werden möchte, sollte lieber seine intersubjektiven Fähigkeiten trainieren.

Dann haben die Teilnehmer Ihrer Studie ja sehr profitiert.

Diese Rückmeldung haben wir auch bekommen. Die Hälfte der Teilnehmer aus unserer Studie hat sogar, nachdem das Training beendet war, selbst organisiert weitergemacht. Ich weiß von einer Gruppe, die jetzt, nach zweieinhalb Jahren, immer noch jeden Tag Dyaden praktiziert. Das ist für mich mindestens genauso bedeutend wie die vielen Daten, die wir gewonnen haben.

Ihr Ansatz, Empathie und Mitgefühl zu trainieren, kommt ja gerade zur richtigen Zeit, wenn man sieht, wie sich im Moment Hass und Hetze immer mehr ausbreiten. Könnten Ihre Methoden dem entgegenwirken?

Sicher lassen sich damit nicht grundlegende gesellschaftliche Probleme lösen. Aber solches mentales Mitgefühlstraining kann den Kreis derer, für die ich Mitgefühl und Verständnis empfinde, schon deutlich ausweiten. Es schult sozusagen die Basiskompetenzen, die jeder braucht, um ein verantwortlicher, toleranter Weltbürger zu werden.

Ich würde das Training vor allem präventiv einsetzen, etwa in Schulen. Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, dass solche Übungen gerade in Brennpunktschulen helfen könnten, wo viele Kulturen aufeinandertreffen und daher die Fähigkeit, zum Perspektivwechsel und dem gesunden Umgang mit Stress und schwierigen Emotionen sehr wichtig ist. Wenn dort die Kinder und Jugendlichen regelmäßig trainieren, dann hätte das sicherlich einen enormen Effekt, auch deswegen, weil Kindergehirne natürlich noch sehr viel plastischer sind als die von Erwachsenen.

mez

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