Forschungsbericht 2010 - Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung

Politik im Defizit

Autoren
Streeck, Wolfgang; Mertens, Daniel
Abteilungen
Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln
Zusammenfassung
Politische Erblasten und gereifte Leistungsansprüche verzehren ebenso wie der Schuldendienst einen immer größer werdenden Teil der Steuereinnahmen des Staates. Dadurch schrumpft der finanzpolitische Handlungsspielraum für innovative Politik, und demokratische Wahlmöglichkeiten fehlen. Die Spielräume für Politik in Deutschland und den USA seit den Siebzigerjahren lassen sich anhand des Index für die „fiskalische Demokratie“ vergleichen.

Die Idee ist nicht neu, dass sich im Laufe der Zeit politische Erblasten ansammeln, die die Entscheidungsfreiheit von gewählten Regierungen und Parlamenten einschränken und die Fähigkeit von Staaten vermindern, auf neue soziale Problemlagen zu reagieren. Nicht nur ist es oft schwierig, Ausgabenprogramme abzuschaffen, die ihren ursprünglichen Zweck überlebt haben, sondern es existieren oftmals eingebaute Mechanismen, die nach der Logik von Zins uns Zinseszins die Kosten eines Programms weit über das erwartete Maß hinaus erhöhen. Dies trifft insbesondere auf sogenannte Pay-as-you-go-Systeme der sozialen Sicherung zu, die im Zuge ihrer „Reifung“ teurer werden: Die Zahl leistungsberechtigter Antragsteller steigt ebenso wie die durchschnittlichen Leistungen mit der Anzahl der Beitragsjahre.

Seit den späten Siebzigerjahren ist das Problem wachsender politischer Erblasten ein prominentes Thema in der Literatur über öffentliche Finanzen. Zusätzlich zu der hohen Überlebensrate älterer Ausgabenprogramme und dem quasi-automatischen Anstieg ihrer Kosten haben chronische Haushaltsdefizite und der daraus resultierende Zuwachs öffentlicher Verschuldung in vielen demokratischen Staaten die Bewegungsspielräume der Regierungen erheblich eingeschränkt. Überall scheinen vor allem demokratische Regierungen unter dem Druck zu stehen, Verteilungskonflikte in ihren Gesellschaften durch Rückgriff auf erst noch zu schaffende zukünftige Ressourcen zu bewältigen. Dadurch steigen die Staatsschulden ebenso wie die auf sie anfallenden Zinszahlungen.

Vorgänge dieser Art können als Prozesse institutioneller Sklerose oder institutioneller Alterung verstanden werden. Beide Konzepte bringen Zeit als kausalen Faktor in die Analyse institutionellen Wandels ein. Sie legen die Möglichkeit nahe, dass ein demokratisches politisches System umso unflexibler in der Allokation verfügbarer Ressourcen wird, je länger es besteht. Diese Perspektive ermöglicht vielfältige produktive Spekulationen. So kann unter anderem die Hypothese aufgestellt werden, dass Steuererhöhungen in einer Demokratie umso schwerer durchzusetzen sind, je weiter der Alterungsprozess bereits fortgeschritten ist. Der Grund liegt darin, dass Steuererhöhungen, die zum Teil oder insgesamt zur Schuldentilgung benötigt werden, denen, die ihnen zustimmen müssen, mindestens zunächst nicht zugutekommen. Die Verdrängung politischer Innovationen im Zeitverlauf kann in diesem Sinn selbstverstärkend sein und schließlich zu einer Aushöhlung demokratischer Politik führen.

Fiskalische Demokratie in Deutschland und den USA

Wenn politische Erblasten einen beträchtlichen Teil der staatlichen Steuereinnahmen in Beschlag nehmen, entsteht für Parlamente und Regierungen ein Problem „fiskalischer Demokratie“: Wo sehr viel bereits in der Vergangenheit beschlossen wurde, bleibt in der Gegenwart wenig zu entscheiden. So lässt sich der Umfang der fiskalischen Demokratie in einem Land anhand des Anteils der Steuereinnahmen messen, der nicht für in der Vergangenheit eingegangene Verpflichtungen eingesetzt werden muss, sondern für neu gewählte Zwecke bereitsteht. In diesem Sinn haben die Steuerexperten Eugene Steuerle und Timothy Roeper ihren Index der fiskalischen Demokratie konstruiert, der zu Beginn dieses Jahres in der Tageszeitung USA Today erschien.

Dem Index liegt eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen gebundenen und disponiblen beziehungsweise „mandatierten“ und „diskretionären“ Staatsausgaben zugrunde. Für die Vereinigten Staaten ist diese Unterscheidung einfach zu messen, denn der amerikanische Kongress stimmt ausschließlich über diskretionäre Ausgaben ab. Als gebunden werden hingegen jene Ausgaben verstanden, die jenseits der gesetzgeberischen Kontrolle liegen, da sie aus Sozialleistungsansprüchen herrühren. Auch der Schuldendienst zählt hierzu, denn die Zinszahlungen beruhen auf einem rechtlichen Anspruch der Gläubiger, der nicht einseitig aufgehoben werden kann. Um den Index nicht durch die Einbeziehung der Neuverschuldung zu verzerren, werden die disponiblen Ausgaben als Anteil an den Einnahmen (und nicht den Ausgaben) des Staates dargestellt.

Wie die Abbildung 1 zeigt, weist der Trend der fiskalischen Demokratie in den USA seit Beginn der Siebzigerjahre nach unten. Von sechzig Prozent im Jahr 1970 sank der Index auf weniger als null Prozent im Jahr 2009. Damit ist heute, so Steuerle, zum ersten Mal in der Geschichte der USA jeder eingenommene Dollar schon für früher beschlossene Aufgaben ausgegeben, ohne dass der Kongress auch nur eine Stimme abgegeben hätte, und grundlegende Funktionen des Staates – wie Rechtsprechung oder Bildung – werden durch die Aufnahme neuer Schulden finanziert.

Trotz aller Unterschiede in den politisch-institutionellen Rahmenbedingungen lässt sich der Index mit wenigen Modifikationen auch für Deutschland berechnen. Zwar gibt es im deutschen Bundeshaushalt keine formale Unterscheidung zwischen gebundenen und disponiblen Ausgaben. Allerdings lassen sich für den Zeitraum seit 1970 neben den Zinszahlungen mindestens vier Kategorien ausmachen, die rechtlich oder praktisch nicht zur politischen Disposition stehen:

(1) Die sogenannten Kriegsfolgelasten, die unter anderem Reparationszahlungen und Wiedergutmachungsleistungen in Folge des Zweiten Weltkrieges beinhalten. 1970 machte diese Kategorie noch rund zehn Prozent des Bundeshaushaltes aus. Danach nahmen die Ausgaben hierfür kontinuierlich ab und sind mittlerweile so gut wie verschwunden.

(2) Die Personalausgaben des Bundes. Diese sind im Wesentlichen durch Tarifverträge festgesetzt. Das geltende Arbeitsrecht lässt der Regierung keine Möglichkeit, einseitig Gehaltszahlungen zurückzuhalten oder zu kürzen.

(3) Die Zuschüsse zu den Sozialversicherungen. Die Bundesregierung ist verpflichtet, Defizite des sozialen Sicherungssystems auszugleichen. Inzwischen entfällt etwa ein Drittel der Bundesausgaben auf diese Kategorie.

(4) Die im Laufe der Zeit unterschiedlichen Leistungen bei Arbeitslosigkeit (Arbeitslosen- und Sozialhilfe, Grundsicherung). Ihnen liegen verfassungsrechtliche Ansprüche auf einen existenzsichernden Unterhalt zugrunde.

Diese vier Kategorien können als verbindlich im amerikanischen Sinne betrachtet werden, da sie, wenn überhaupt, nur durch Eingriffe in gesetzliche Leistungskataloge zurückgeschnitten werden können. Zusammen mit den Zinszahlungen machen sie den gebundenen Anteil der Bundesausgaben aus.

Ein Problem stellt die Zurechnung der Verteidigungsausgaben dar. Formal betrachtet gibt es für diese zwar einen Ermessensspielraum, da abgesehen vom militärischen Personal keine Leistungsansprüche bestehen. Im Wesentlichen steht das deutsche Militär allerdings unter dem Kommando der NATO, weshalb sich der Verteidigungsetat aus feststehenden deutschen Bündnisverpflichtungen ergibt. Aus diesem Grund haben wir den Index für Deutschland zweimal berechnet: Eine Variante versteht die Verteidigungsausgaben im Einklang mit der amerikanischen Praxis als diskretionär, eine zweite als gebunden.

Abbildung 2 zeigt, dass der Index der fiskalischen Demokratie in Deutschland seit 1970 noch kontinuierlicher rückläufig war als der amerikanische. Im Einzelnen haben die mehr oder weniger stetig gewachsenen Zuschüsse für die sozialen Sicherungssysteme, die Ausgaben für die Unterstützung der Langzeitarbeitslosen und bis zu einem bestimmten Grad auch die Zinszahlungen zu einer kontinuierlichen Verengung der politischen Entscheidungsspielräume der deutschen Bundesregierung geführt. Die Ausgaben für Verteidigung haben insbesondere in den Jahren nach dem Ende des Kalten Krieges abgenommen. In der Abbildung lässt sich dies am geringer werdenden Abstand zwischen beiden Linien nach den Achtzigerjahren erkennen.

Die Abbildung zeigt des Weiteren, dass in den frühen Neunzigerjahren – als der Großteil der „Friedensdividende“ nach dem Zusammenbruch des Ostblocks anfiel – eine kurzfristige Erweiterung des haushaltspolitischen Spielraumes eintrat. Nach 1995 allerdings setzte sich der Niedergang fort. Zehn Jahre später zeigten die Konsolidierungsbemühungen der Großen Koalition Wirkung. Die fiskalischen Auswirkungen der Finanzkrise führten jedoch 2009 zu einem erneuten Abschwung, der aller Voraussicht nach noch Jahre anhalten wird.

Durch die Einführung der Schuldenbremse in das Grundgesetz im Jahr 2009 ist die Bundesregierung verpflichtet, bis 2016 ihre Haushaltsdefizite zu beseitigen. Darüber hinaus hat sich die aktuelle Regierung auf Steuersenkungen festgelegt. So wie die Dinge liegen, kann dies nichts anderes als eine weitere Reduzierung des fiskalischen Entscheidungsspielraumes bedeuten, da die Ausgaben für die Sozialversicherungen und den Schuldendienst weiter steigen und die Personal- und Verteidigungsausgaben jedenfalls nicht sinken werden. Damit wird die Frage immer drängender, welche Handlungsspielräume demokratische Politik in Zukunft noch hat und warum die Bürger sich für eine Politik interessieren sollen, die nichts anderes mehr tun kann, als bereits feststehende Ansprüche zu bedienen.

Fiskalkrise und Demokratie

Welche Auswirkungen hat demokratische Politik auf den Zustand der öffentlichen Finanzen? Und wie beeinflusst dieser wiederum die demokratische Politik? Was die erste Frage angeht, so stand in den drei Jahrzehnten der Nachkriegsprosperität eine vermeintliche Tendenz demokratischer Politik im Vordergrund, dem Interventionsstaat eine ständige Ausweitung seiner Auf- und Ausgaben abzuverlangen. Abgelöst oder doch ergänzt wurde diese Suchrichtung im Gefolge der Steuerrevolten der Achtzigerjahre, als demokratische Partizipation zusätzlich oder vornehmlich als Gelegenheit genutzt zu werden schien, die Begleichung der Rechnung für erhaltene staatliche Leistungen zu verweigern. Hatte Demokratie zunächst die Ausgaben des Staates erhöht, so senkte sie nun zusätzlich seine Einnahmen. Das Ergebnis war immer dasselbe: eine sich öffnende Schere zwischen staatlichen Einnahmen und Ausgaben – eine fiskalische Krise – die als Beleg für eine zunehmende „Unregierbarkeit“ demokratischer Gesellschaften angeführt werden konnte.

Zwei Bilder von demokratischer Politik, das eine entworfen von Politikwissenschaftlern und Soziologen, das andere von Ökonomen, passen zu dem neuen fiskalischen Regime mit seinen zugleich defizitären und verkrusteten öffentlichen Finanzen, ohne dass sie sich gegenseitig ausschließen. Die einen verstehen Demokratie als „Post-Demokratie“ – als symbolische Inszenierung von Nichtigkeiten auf der Oberfläche unantastbarer „Sachzwänge“. Die anderen verstehen Demokratie als Machtbasis für verantwortungsloses Rent Seeking im Sinne der Public-Choice-Literatur, entweder in Form eines hochorganisierten Lobbying oder durch allzeit wachsame elektorale Abwehr jeden Versuchs einer erweiterten finanziellen Inanspruchnahme der Bürger für kollektive Interessen. Neben die politisch bis an die Zähne bewaffneten, professionell organisierten Sonderinteressen und eine aus einem immer weniger leistenden Staat auswandernde, entpolitisierte und zunehmend privatisierende Mittelschicht, die nicht für etwas bezahlen will, was sie nicht mehr zu erhalten hofft, und immer mehr gelernt hat, sich auf dem freien Markt zu beschaffen, tritt eine dritte Gruppe. Sie entsteht aus einer wachsenden Zahl derer, die jedes Interesse an Politik, positiv oder negativ, verloren haben, weil sie von ihr weder etwas zu gewinnen haben noch über Besitzstände verfügen, die sie gegen sie verteidigen müssten. Jedenfalls erscheint es alles andere als abwegig, den in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich wachsenden Anteil der Nichtwähler an der Wählerschaft fast aller reichen Industriegesellschaften mit dem ebenfalls wachsenden Anteil nicht disponibler Ausgaben an den öffentlichen Haushalten und dem kontinuierlichen Rückgang der fiskalischen Responsivität staatlicher Politik gegenüber neuen Problemlagen in Beziehung zu setzen.

Der Kern des demokratischen politischen Systems schrumpft und ändert zugleich seine Gestalt, während sein ausgegliederter Rand immer größer wird – nicht unähnlich der historischen Transformation des in der Nachkriegszeit entstandenen und im Prozess der Liberalisierung der Nachkriegsordnung bis an die Grenzen der Unkenntlichkeit veränderten Systems der industriellen Arbeitsbeziehungen. Der auf unabsehbare Zeit hegemonial institutionalisierte Defizit- und Schuldendiskurs wird Staat, Politik und soziale Demokratie auf Dauer als Problem statt als Lösung definieren, trotz und gerade wegen der in der Weltwirtschaftskrise am Ende des neoliberalen Zeitalters von Neuem erwiesenen Unentbehrlichkeit der öffentlichen Gewalt für die Funktionsfähigkeit der privatkapitalistischen Wirtschaft.

W. Streeck, D. Mertens:
Politik im Defizit: Austerität als fiskalpolitisches Regime.
MPIfG Discussion Paper 10/5. Max- Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln 2008. www.mpifg.de/pu/mpifg_dp/dp08-3.pdf. Gekürzte Fassung in: dms – der moderne staat – Zeitschrift für Public Policy, Recht und Management, 1 (2010).
C. E. Steuerle:
The U.S. is broke. Here’s why.
In: USA Today, 27. Januar 2010.
Zur Redakteursansicht