Bewusste Entscheidung für Neurowissenschaftler

Steven Laureys und Giulio Tononi werden für ihre Forschung zu Schlaf, Koma und Bewusstsein ausgezeichnet

4. September 2017

“Wenn der Körper liegt, darf man nicht glauben, dass der Geist ruhig sei“, schrieb der römische Philosoph Seneca. Fast 2000 Jahre später versuchen Forscher zu ergründen, was im Kopf vor sich vorgeht, wenn ein Mensch schläft oder im Koma liegt. Die Gertrud Reemtsma Stiftung verleiht den diesjährigen K. J. Zülch-Preis nun an zwei Neurowissenschaftler, die die Grundlagen des Bewusstseins erforschen und wichtige Erkenntnisse über Schlaf und Bewusstseinsstörungen gewonnen haben. Giulio Tononi von der Universität Wisconsin hat grundlegende Theorien über die Funktion des Schlafes und die Bildung von Bewusstsein im Gehirn entwickelt, die Mediziner für Therapie und Diagnostik heranziehen können. Steven Laureys ist Leiter des GIGA Zentrums für Bewusstseinsforschung und der Komaforschungsgruppe an der Universität Lüttich. Er untersucht, wie Bewusstseinsstörungen entstehen und sich diese nach Hirnverletzungen behandeln lassen. Der Preis wird am 8. September 2017 in Köln verliehen.

Der Mensch verschläft ein Drittel seines Lebens. Schon geringer Schlafentzug wirkt sich erheblich auf Wahrnehmung, Stimmung, Gesundheit und Lebensqualität aus. Das Gehirn ändert während des Schlafs seine Funktionsweise und zwingt den Körper in einen Zustand der Bewegungslosigkeit und Isolation von seiner Umwelt. Während des Schlafens verändert sich auch das Bewusstsein. Träumt der Mensch, hat er ein Bewusstsein, das von seiner Umwelt und deren Einflüssen getrennt ist. Im traumlosen Schlaf hingegen befindet er sich in Phasen der Bewusstlosigkeit. Warum sich aber Menschen und Tiere jeden Tag mehrere Stunden in diese gefährliche Situation der Schutzlosigkeit begeben müssen, ist noch unklar. Die Erforschung des Schlafs und der Grundlagen des Bewusstseins kann die Diagnose und Therapie von psychischen Krankheiten und schweren Hirnschädigungen verbessern.

Schlaf und Bewusstsein

Mithilfe seiner über viele Jahre hinweg gewonnenen Daten haben Giulio Tononi und sein Team eine Hypothese über die Funktionen des Schlafs entwickelt, die sogenannte “Synaptic Homeostasis Hypothesis”. Demnach besteht die zentrale Funktion des Schlafes darin, die synaptischen Verbindungen zwischen Nervenzellen wieder in ihren Normalzustand zu versetzen. Im Wachzustand zur Verarbeitung von Informationen verstärkte oder neu gebildete Synapsen werden dabei wieder abgeschwächt. Ohne Schlaf und Normalisierung der synaptischen Übertragung würden immer mehr Synapsen gestärkt und neue Synapsen gebildet. Das Gehirn stieße so bald an seine Grenzen und könnte keine neuen Informationen aufnehmen und verarbeiten.

Die Veränderungen der Hirnaktivität während des Schlafens macht sich Tononi auch zunutze, um Erkenntnisse über das Bewusstsein des Menschen zu erlangen. Mit der “Integrated Information Theory” hat er eine Theorie über das Entstehen von Bewusstsein entwickelt, die nicht wie die meisten anderen Theorien erklären soll, wie das menschliche Gehirn Bewusstsein entwickeln kann, sondern die Fragestellung umkehrt. Sie identifiziert die wesentlichen Eigenschaften des Bewusstseins und fragt dann, welche Mechanismen im Gehirn dafür verantwortlich sein könnten. Neben ihrer neurophilosophischen Bedeutung findet Tononis Theorie Anwendung bei Erkrankungen, die mit veränderten Bewusstseinszuständen einhergehen.

Basis im Gehirn

Der Fokus von Steven Laureys liegt auf den neuronalen Grundlagen von Bewusstsein und die durch Schädigungen des Gehirns hervorgerufenen Veränderungen. Ärzte müssen täglich den Bewusstseinszustand von Koma-Überlebenden einschätzen, die nicht mit anderen kommunizieren können. Dabei ist es entscheidend für die Prognose des Patienten, seinen Zustand richtig einzuordnen und die dafür geeignete Therapie zu finden. Lange waren die Diagnoseverfahren hierfür sehr ungenau. Laureys und seinem Team ist es mithilfe einer Kombination von Bildgebungsverfahren und elektrophysiologischen Methoden gelungen, die Behandlung von Koma- und Wachkoma-Patienten sowie Menschen mit „Locked-in“-Syndrom auf eine neue Grundlage zu stellen.

Besonders wichtig war dabei ihr Befund zu einem jungen Mann, der irrtümlich als Wachkoma-Patient eingestuft worden war. Ihre Untersuchungen ergaben, dass der Patient ähnliche Aktivitätsmuster im Gehirn zeigte wie gesunde Probanden, wenn sie sich vorstellten, Tennis zu spielen. Dies konnten die Forscher zur Kommunikation mit dem Patienten nutzen. In einer Studie an 54 Patienten mit chronischen Bewusstseinsstörungen konnte Laureys daraufhin zeigen, dass zehn Prozent von ihnen ihre Hirnaktivität willentlich steuern konnten, obwohl sie nicht mit der Außenwelt kommunizieren konnten.

Diese methodisch sehr komplexen Untersuchungen bilden heute die Grundlage für die Diagnostik von Bewusstseinsstörungen. Dadurch können nicht nur therapeutische Strategien genauer angepasst werden, sondern auch die klinische Pflege und nicht zuletzt die Lebensqualität von Patienten mit Bewusstseinsstörungen verbessert werden.

Die Preisträger

Giulio Tononi wurde an der Universität Pisa zum Mediziner mit Spezialisierung Psychatrie und Neurowissenschaften ausgebildet. Von 1990-2000 war er zuerst in New York, dann in San Diego Mitglied des „Neurosciences Institute“. Er ist aktuell Professor für Psychatrie und Wissenschaft des Bewusstseins, hat den David P.White Lehrstuhl in Schlafmedizin an der Universität Wisconsin- Madison inne  und ist Direktor des  „Wisonsin Insitute for Sleep and Consciousness“.

Steven Laureys erlangte seinen Doktor in Medizin an der Vrije Universiteit Brussel, wo er sich anschließend auf Neurologie spezialisierte. Gleichzeitig begann er dort seine Forschungskarriere und graduierte 1997 als Master of Science in Pharmazeutischer Medizin. Er wechselte an die Universität Lüttich, an der er 2000 promovierte. Steven Laureys ist Direktor am Belgian National Fund of Scientific Research. Er leitet das GIGA Zentrum für Bewusstseinsforschung und die Koma Forschungsgruppe an der Universität Lüttich.

Der Klaus Joachim Zülch-Preis

Die Verleihung des K. J. Zülch-Preises 2017 findet am 8. September 2017 um 10 Uhr im Hansasaal des Historischen Rathauses zu Köln statt. Im Anschluss an die Laudatio von Hans-Jochen Heinze von der Universität Magdeburg berichtet Giulio Tononi über die Erforschung des menschlichen Bewusstseins. Mathias Bähr von der Universität Göttingen hält die Laudatio auf Steven Laureys. Dieser spricht anschließend über Diagnose und Behandlung von Bewusstseinsstörungen.

MN/HR

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