Phonagnosie: Hör’ mal, wer da spricht

Menschen, die Menschen nicht anhand ihrer Stimme erkennen können, weisen Defizite in Hirngebieten des Schläfenlappens der Großhirnrinde auf

28. April 2017

Einigen Menschen ist es nicht möglich, selbst enge Familienmitglieder und Freunde an ihrer Stimme zu erkennen. Was hinter diesem Phänomen steckt, war bisher kaum bekannt. Wissenschaftlerinnen des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig haben nun wesentliche Einblicke in dessen neuronale Mechanismen gewonnen. Das könnte nicht nur den Menschen helfen, die Schwierigkeiten haben, Stimmen zuzuordnen, sondern auch wichtige Erkenntnisse darüber liefern, wie unser Gehirn generell Stimmen verarbeitet.

Die Leipziger Wissenschaftlerinnen haben ein umfangreiches Testverfahren entwickelt, in dessen Zentrum ein 20-minütiger Onlinetest steht. Den meisten Menschen gelingt es innerhalb dieses Onlinetests zur Stimmenerkennung gut, Stimme und Name der Person einander richtig zuzuordnen. Mit immer feineren Messverfahren konnten die Neurowissenschaftlerinnen schließlich aus mehr als tausend Testteilnehmern zwei Personen mit angeborener Phonagnosie herauskristallisieren. Sie sind in Deutschland bisher die einzigen, weltweit zwei von drei bekannten Fällen.

Die beiden Probanden können also Menschen nicht anhand ihrer Stimme erkennen. Sie verstehen zwar, was eine andere Person sagt, und können auch anhand ihrer Stimme einschätzen, ob sie gerade wütend, traurig oder fröhlich ist. Sie können ihr jedoch keine Identität zuordnen, wenn sie diese Person nicht gleichzeitig sehen.

Gestörte Stimmerkennung im Temporallappen

Bisher war dieses Phänomen kaum untersucht, die neuronalen Ursachen unbekannt. Wissenschaftlerinnen des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig ist es nun gelungen, die Mechanismen im Gehirn von Betroffenen zu identifizieren. „Wir haben herausgefunden, dass die Hauptursache für Phonagnosie ein Fehler in stimmenselektiven Hirnarealen und deren Verbindungen im rechten Temporallappen ist, also in Arealen, die auf die Stimmenidentität spezialisiert sind“, so Claudia Roswandowitz, Erstautorin der zugrundeliegenden Studie.

Das Interessante dabei: Die Neurowissenschaftlerinnen konnten anhand von Untersuchungen an Hirnfunktionen beweisen, was sie bereits in Verhaltensstudien beobachtet hatten: Es gibt zwei verschiedene Typen der Phonagnosie, die auf verschiedenen neuronalen Fehlfunktionen basieren. Ein der beiden Probanden leidet unter Schwierigkeiten bei der Wahrnehmung von Stimmen. Dadurch kann sie einer Stimme in dem seltenen Fall, in dem sie sie überhaupt erkennt, zwar ein Gesicht, einen Namen oder andere Informationen der Person zuordnen. Sie kann jedoch zwei unbekannte Stimmen nicht voneinander unterscheiden. Bei ihr sind die stimmenselektiven Hirnareale während der Verarbeitung von Stimmen weniger aktiv als bei Menschen ohne diese Schwierigkeiten.

Der zweite Proband wiederum kann zwar prinzipiell Stimmen voneinander unterscheiden, also etwa erkennen, dass gerade der Sprecher gewechselt hat. Ihm fällt es jedoch sehr schwer, mit einer Stimme persönliche Informationen zu verknüpfen. Sein Defizit ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass die Verbindung zwischen den stimmenselektiven Arealen und den Hirnregionen nicht richtig funktioniert, die die Stimme weiterverarbeiten und ihr etwa einen Namen zuordnen. Die zusätzlichen Informationen können somit nicht mit der Stimme verknüpft werden.

Stimmerkennung besteht aus zwei Komponenten

„Diese beiden Unterformen der Phonagnosie belegen, dass  sowohl die Wahrnehmung der Stimme als auch  die Assoziation weiterer Informationen mit der Stimme für die Stimmerkennung wichtig sind. Fällt eine der beiden Komponenten aus, tritt die Phonagnosie auf“, erklärt Roswandowitz.

Diese Erkenntnisse können nun nicht nur helfen, Phonagnosie besser zu verstehen und darauf aufbauend Therapien zu entwickeln, um Betroffenen zu helfen. Vielmehr geben sie uns auch eine genauere Vorstellung davon, was genau im Gehirn geschieht, während wir Stimmen erkennen. An gesunden Probanden lassen sich solche Hirnprozesse nur schwer untersuchen, da sich weniger gut voneinander trennen lässt, wo etwa der Inhalt, die Emotion und letztlich die Identität des Gesprochenen verarbeitet wird. Ist jedoch ein abgegrenztes Defizit klar mit einer fehlerhaften Hirnfunktion in Verbindung zu bringen, lässt sich die Stimmenerkennung eindeutiger einem neuronalen Puzzlestück zuordnen.

„Wir gehen davon aus, dass es zwischen zwei und drei Prozent der Bevölkerung schwer fällt,  Personen anhand ihrer Stimme zu identifizieren“, so Studienleiterin Katharina von Kriegstein.  „Von Probanden aus dem Autismus-Spektrum wissen wir zum Beispiel, dass sie zwar Stimmen nicht gut erkennen können, aber auch Probleme damit haben, Gesichter zu identifizieren.“ Eine ‚pure’ Phonagnosie, bei der die Betroffenen keinerlei andere neurologische Auffälligkeiten zeigen, ist dagegen wahrscheinlich ein selteneres Phänomen.

VM/HR

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