Forschungsbericht 2016 - Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht

Die Familienverfassung: Vertrag ohne Schwert?

Autoren
Fleischer, Holger
Abteilungen
Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, Hamburg
Zusammenfassung
Kommt es innerhalb einer Unternehmerfamilie zum Streit, droht nicht selten das ganze – über Generationen hinweg aufgebaute – Familienunternehmen daran zu zerbrechen. Vor diesem Hintergrund erfreut sich die Familienverfassung zunehmender Beliebtheit. In ihr legt die Unternehmerfamilie gemeinsame Werte und Antworten auf potenzielle Konfliktfragen nieder. Bisher wurde der Familienverfassung, deren Entwicklung in erster Linie von betriebswirtschaftlicher Seite begleitet wird, keinerlei rechtliche Relevanz zugesprochen. Der Rechtswissenschaftler Holger Fleischer widerlegt diese These.

„Und Verträge ohne das Schwert sind bloße Worte und besitzen nicht die Kraft, einem Menschen auch nur die geringste Sicherheit zu bieten.“ Gilt das, was Thomas Hobbes im „Leviathan“ für den allmächtigen Staat und dessen Gesellschaftsvertrag gesagt hat, auch für die Familienverfassung?

Wer Funktion und Wirkung einer Familienverfassung verstehen will, muss sie zunächst in den Gesamtzusammenhang der Family Business Governance stellen. Hierunter versteht man einen übergreifenden Ordnungsrahmen, der die drei Teilbereiche eines Familienunternehmens – Unternehmen, Familie, Gesellschafter – miteinander verbindet und aufeinander abstimmt. Dieser Governance-Rahmen setzt sich aus verschiedenen Regelungsschichten zusammen.

Zwiebelschalenmodell des Governance-Rahmens

Die notwendige erste Regelungsschicht des Governance-Rahmens für Familienunternehmen bildet überall das Gesetz. Es stellt den Gesellschaftern einen allgemeinen Rahmen an Organisations- und Verhaltensregeln zur Verfügung, der je nach Rechtsform starrer oder beweglicher ausfällt. Für Familienpersonengesellschaften und Familien-GmbHs enthält häufig nicht das Gesetz, sondern der Gesellschaftsvertrag die wichtigsten Governance-Regeln. Zusätzlich zu Gesetz und Statut können Gesellschaftervereinbarungen Vorgaben für die Family Business Governance enthalten. Zu ihren wichtigsten Regelungsgegenständen gehören Stimmrechtsvereinbarungen, Übertragungsbeschränkungen, Vorkaufsrechte und Absprachen über die Besetzung der Gesellschaftsorgane. Eine weitere Regelungsschicht steuern Corporate-Governance-Kodizes bei, die inzwischen auch die Familiengesellschaft erreicht haben. In Deutschland ist vor allem auf den „Governance Kodex für Familienunternehmen“ (GKFU) hinzuweisen, der im Jahr 2004 aufgrund einer privaten Initiative geschaffen wurde und seit Mai 2015 in dritter Auflage vorliegt. Zu guter Letzt kommt immer häufiger eine sogenannte Familienverfassung als weitere Schicht hinzu. Sie unterscheidet sich von Gesellschaftsvertrag und Gesellschaftervereinbarung in zweierlei Hinsicht: Zum einen wird sie regelmäßig von allen Familienmitgliedern – Gesellschaftern und Nichtgesellschaftern – unterzeichnet und zum anderen soll sie nach verbreiteter Auffassung rechtlich unverbindlich sein.

Blick über den Tellerrand: Familienverfassungen in anderen Ländern

Die Frage, inwieweit eine Familienverfassung rechtliche Wirkung erzielen kann, ist für die Rechtswissenschaft natürlich von besonderem Interesse. Bevor sich ein Rechtswissenschaftler also der – in der Betriebswirtschaftslehre verbreiteten – Meinung anschließt, die Familienverfassung entfalte keine rechtliche Wirkung, gilt es dies gründlich zu hinterfragen. Hierfür bedienen sich die Rechtswissenschaftler unter anderem der Methode der Rechtsvergleichung: Sie untersuchen und vergleichen die rechtliche Situation in verschiedenen Ländern, um daraus zusätzliche Erkenntnisse zu gewinnen.

Untersucht man neben der deutschen Familienverfassung die Family Constitution der Vereinigten Staaten, die Charte Familiale aus Belgien und das Protocolo Familiar aus Spanien, lässt sich schnell erkennen, dass es sich bei Familienverfassungen um ein internationales Phänomen handelt, dessen Verbreitung sich aus verschiedenen Quellen speist.

Den Urquell bildete die Managementliteratur zur strategischen Planung in Familienunternehmen. Als weiterer Kraftquell erwies sich die interdisziplinär geführte Corporate-Governance-Debatte. Viele Kodizes für börsenferne Gesellschaften und family firms enthalten inzwischen Empfehlungen zur Ausarbeitung einer Familienverfassung. Ein wichtiger Rechtsquell war und ist bei alledem das shareholder agreement, dessen sich Gesellschafter geschlossener Kapitalgesellschaften allerorten bedienen, um Zwängen oder Unzulänglichkeiten ihrer nationalen Gesellschaftsgesetze zu entfliehen.

Regelungsnatur der Familienverfassung in Deutschland

Hierzulande bildet die Familienverfassung ein mögliches Regelungsgefäß für einen individuellen Kodex, dessen Erstellung der Governance Kodex für Familienunternehmen jeder Inhaberfamilie empfiehlt. Er soll den langfristigen Bestand des Familienunternehmens sichern und die affectio familiae (Familienbande) durch gemeinsame Werte und Verhaltensvorgaben stärken.

Aussagen in der Beraterliteratur, die Familienverfassung sei eine bloße Absichtserklärung, nur moralisch bindend oder gar ein juristisches Nullum, greifen schon deshalb zu kurz, weil sich die Familienverfassung – wie die Rechtsvergleichung gezeigt hat – im In- und Ausland auf kein Einheitsmodell reduzieren lässt. Vielmehr oszilliert sie zwischen Vertrag, Moralobligation und Mission Statement, also einem Leitbild. Es gibt sie also gar nicht, „die“ Familienverfassung. Vielmehr begegnen uns in der Praxis ganz verschiedene Erscheinungsformen, sodass an einer sorgfältigen Prüfung der Regelungsnatur im Einzelfall kein Weg vorbeiführt.

Will man die Rechtswirkung der Familienverfassung untersuchen, muss neben die Prüfung ihrer Regelungsnatur die Frage nach dem Verhältnis von Familienverfassung, Gesellschaftsvertrag und Gesellschaftervereinbarung treten. In einer ersten Annäherung mag man an das Bild des nexus of contracts denken, mit dem Rechtsökonomen Unternehmen oder Korporation zu beschreiben pflegen. Dogmatisch besteht die Hauptaufgabe insoweit darin, die Grenzen eines Denkens in isolierten Vereinbarungen zugunsten des Denkens in vertraglichen Beziehungen zu überwinden. Rechtlich könnte man daraus folgern, dass sich der Referenzrahmen für die Auslegung und die Spezifizierung der einzelnen Rechte und Pflichten weitet und dass auch Kooperations- und Rücksichtnahmepflichten zwischen Personen entstehen können, die vertraglich nicht unmittelbar miteinander verbunden, aber Teile derselben (Vertrags-)Gruppe sind. Kann man sich dergleichen auch für das Verhältnis von Gesellschaftsvertrag, Gesellschaftervereinbarung und Familienverfassung vorstellen? Dies führt direkt zu der Frage nach Rechtswirkungen der Familienverfassung.

Rechtswirkung der Familienverfassung

Ist die Familienverfassung nun nur ein stumpfes Schwert oder kann ihre Klinge rechtliche Wirkungstreffer setzen? Holger Fleischer kommt – entgegen der weitverbreiteten Beratermeinung – zu dem Schluss, dass die Familienverfassung durchaus rechtlich erheblich ist, und führt dafür die folgenden Beispiele an.

Geltung kraft innergesellschaftlicher Übung

Denkbar ist zunächst, dass Einzelregelungen einer Familienverfassung kraft innergesellschaftlicher Übung Geltung erlangen. Für Personenhandelsgesellschaften ist in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) anerkannt, dass die langjährige Übung einer bestimmten Gesellschaftspraxis sogar zu einer stillschweigenden Änderung des Gesellschaftsvertrages führen kann. Danach besteht eine tatsächliche Vermutung dafür, dass eine lang andauernde tatsächliche Abweichung vom Gesellschaftsvertrag dessen einvernehmliche Änderung bewirkt hat. Bei Körperschaften kommt zwar kein das Gesetz verdrängendes Gewohnheitsrecht in Betracht, wohl aber eines, das das Gesetz ergänzt oder dessen Auslegung unterstützt. Die Familienverfassung könnte so tatsächlich rechtliche Wirkung erzeugen.

Bedeutung für die Auslegung

Außerdem kann die Familienverfassung zur erläuternden und ergänzenden Auslegung des Gesellschaftsvertrags herangezogen werden und dadurch Rechtswirkung erzielen. Im konkreten Zugriff muss man hier allerdings zwischen Personengesellschaften und Körperschaften unterscheiden. Für Personengesellschaften gelten in Deutschland regelmäßig die allgemeinen Grundsätze der §§ 133, 157 BGB, nach denen die Begleitumstände des Vertragsschlusses zur Auslegung mit herangezogen werden können. Daher bildet auch eine vorher oder gleichzeitig verabschiedete Familienverfassung eine geeignete Auslegungshilfe. Bei Körperschaften hängt die höchstrichterliche Rechtsprechung einer streng objektiven Auslegung an, was dafür sprechen könnte, dass schuldrechtliche Nebenabreden nicht zur Auslegung von Satzungsbestimmungen herangezogen werden können. Ob sich dies ausnahmslos durchhalten lässt, erscheint zweifelhaft. Ein Beispiel: Das Gesellschaftsstatut verwendet den Begriff „Kind“, ohne ihn zu definieren. Später kommt es bei einer Patchwork-Familie oder anlässlich einer Erwachsenenadoption zum Streit darüber, ob Adoptivkinder den leiblichen Kindern gleichzustellen sind. Gibt die Familienverfassung hierfür einen Fingerzeig oder enthält sie gar eine einschlägige Definition, wird man sie kaum ignorieren können.

Konkretisierung der Treuepflicht

Schließlich kann die Familienverfassung Bedeutung für die Konkretisierung der mitgliedschaftlichen Treuepflicht erlangen. Der BGH hat in einer Leitentscheidung ausgesprochen, dass verwandtschaftliche Bindungen in die gesellschafterliche Treuepflicht hineinwirken können. Muss das nicht erst recht gelten, wenn diese Bindungen zusätzlichen Niederschlag in einer Familienverfassung gefunden haben? Ein Beispiel: Die einvernehmlich verabschiedete Familienverfassung enthält gewisse Vorgaben über die Entnahme- und Thesaurierungspolitik, zum Beispiel dass höchstens 40 Prozent des Jahresüberschusses nach Steuern ausgeschüttet werden, um eine angemessene Eigenkapitalquote zu wahren. Der Gesellschaftsvertrag schweigt dazu. Hier kann das familienverfassungswidrige Stimmverhalten eines Gesellschafters beim Ergebnisfeststellungs- und Gewinnverwendungsbeschluss im Einzelfall durchaus treuwidrig sein. 

„Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre Weise unglücklich“, heißt es im Eingangssatz von Tolstois „Anna Karenina“. Dass alle glücklichen Familienunternehmen eine Familienverfassung besitzen, kann man nicht behaupten. Vielleicht hilft sie aber manchen Familienunternehmen, größeres Unglück zu vermeiden. Es lohnt sich, dies empirisch weiter zu ergründen und juristisch zu begleiten.

Literaturhinweis

Fleischer, H.

Das Rätsel Familienverfassung: Realbefund – Regelungsnatur – Rechtswirkungen
ZIP – Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 37 (32), 1509–1519 (2016)
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