Forschungsbericht 2016 - Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften

Die Neuerfindung von Territorialität: Juristische Grenzziehung und Migrationskontrolle in einer globalisierten Welt

Autoren
Shachar, Ayelet
Abteilungen
Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften, Göttingen
Zusammenfassung
Befestigte Grenzen waren immer ein Symbol für Souveränität, Regierungsgewalt und Gerichtsbarkeit. Inzwischen ist ein neues bemerkenswertes Phänomen entstanden – die bewegliche Grenze. Diese Grenze ist nicht durch Zeit und Raum bestimmt, sondern beruht auf ausgefeilten Rechtsinstrumenten, die reiche Länder einsetzen, um die Migrationsregelung von festen territorialen Standorten abzutrennen. Diese Neuerfindung verlässt sich auf juristische Zugangstore und nicht auf bestimmte Grenzorte, was dramatische Folgen für die Rechte und den Schutz von Migranten und anderen Nichtbürgern hat.

Der Fall der Berliner Mauer veranlasste 1989 viele Zeitgenossen zu der Vorhersage, dass Grenzen und Mauern zu Relikten einer vergangenen Zeit werden würden. Über ein Vierteljahrhundert später sieht die Realität ganz anders aus. Als die Berliner Mauer fiel, gab es auf der ganzen Welt 15 Grenzzäune. Heute sind es fast 70 Grenzzäune, fertige oder noch im Bau befindliche [1]. Einige dieser neuen Barrieren, vor allem jene in Europa, wurden 2015 als Reaktion auf die Zunahme von Flüchtlingen errichtet, die direkt auf dem Territorium von EU-Mitgliedstaaten Schutz suchten. Aber viele der Grenzbefestigungen aus der Zeit nach dem Mauerfall entstanden nicht erst in Reaktion auf die aktuelle Flüchtlingskrise. Die weltweit vielleicht am stärksten sichtbare – und am stärksten politisierte – Grenzanlage erstreckt sich entlang von Abschnitten der amerikanisch-mexikanischen Grenze. Andere erwähnenswerte Beispiele sind Spaniens Wachtürme und Klingendrahtzäune um die nordafrikanischen Enklaven Melilla und Ceuta, die Barriere zwischen Bulgarien (einem EU-Mitgliedstaat) und der Türkei, der Metallvorhang, den Indien um seinen ärmeren Nachbarn Bangladesch herum gebaut hat, der neue Stahlzaun, den Norwegen an seiner arktischen Grenze zu Russland baut – die Liste ließe sich fortsetzen. Seit dem Fall der Mauer haben europäische Länder rund 1.200 Kilometer (750 Meilen) an Zäunen gebaut, oder sind gerade dabei, diese zu bauen, um nicht eingeladene Menschen fernzuhalten. Zum Vergleich: Ende 2015 erstreckte sich die Grenzmauer zwischen den USA und Mexiko über etwas mehr als 650 Meilen und deckte etwa ein Drittel der 2.000 Meilen langen Grenze zwischen den beiden Staaten ab. Noch längere Zäune als diese weltweit berühmt-berüchtigte Grenzanlage finden sich überaschenderweise in Europa – trotz des Versprechens, die Grenzen offen zu halten.  Ähnliche Muster zeigen sich, wenn man die Zahl der Grenzschützer und Polizeibeamten vergleicht, die an der Grenzsicherung von EU-Mitgliedstaaten und an Frontex (einer Koordinationsstelle zum Schutz der EU-Außengrenzen) beteiligt sind: Diese übertrifft jene in den Vereinigten Staaten bei Weitem.

Im Gegensatz zu den Vorhersagen global denkender Humanisten, Postnationalisten und anderen, die das bevorstehende Verschwinden von Grenzen und Staatsbürgerschaftsregelungen prognostizierten, ist die rechtliche Unterscheidung zwischen dem Einheimischen und dem Fremden mit aller Macht zurückgekehrt. Diese Unterscheidung hat in den Jahren nach dem 11. September 2001 eine neue und bisweilen noch größere Bedeutung erhalten. Fragen der Migration, von Mitgliedschaft, von Identität und Zugehörigkeit sind heute mehr denn je zu drängenden Themen geworden und dürften auf absehbare Zeit im Zentrum der öffentlichen und politischen Debatte stehen.

Anstatt zu Relikten einer vergangenen Zeit zu werden, sind „Grenzmauern“ zum sichtbaren befestigten Ausdruck der realen oder eingebildeten souveränen Kontrolle geworden [2]. So wichtig diese gemauerten Grenzen auch erscheinen mögen, um die Besitzenden von den Habenichtsen sowohl symbolisch als auch praktisch zu trennen, so gibt es doch zudem einen ebenso dramatischen, aber deutlich weniger erforschten Trend: die Entstehung unsichtbarer Grenzen – Grenzen, die auf ausgeklügelten Rechtsverfahren basieren und die die Steuerung der Migration von einem festen territorialen Standort lösen, um eine völlig neue Grenzkonzeption zu schaffen, die „bewegliche Grenze“ (shifting border) [3].

Laien auf dem Gebiet der Staatsbürgerschaft und der Migration erwarten vernünftigerweise, dass die gesetzlichen Grenzen von Einschluss und Ausschluss mit den anerkannten territorialen und physischen Grenzen des jeweiligen Landes übereinstimmen. Die breiten und festen Grenzlinien, die im Weltatlas dargestellt sind, stimmen jedoch häufig nicht mit jenen überein, auf denen Rechtstexte basieren – ja, die durch Rechtstexte erst geschaffen werden –, Rechtstexte, die den Betrieb beweglicher Grenzen erleichtern und autorisieren. Stattdessen entsteht eine Grenze, die im Fluss ist: gleichzeitig offener und geschlossener als früher. Die rechtliche Konstruktion der Grenze verschiebt sich – in manchen Fällen geht sie landeinwärts, in manchen über den Rand des Territoriums hinaus. Auf der Grundlage von Rechtsvergleichung, aber auch durch den Vergleich von Vorschriften und Anweisungen für Verwaltungsbehörden untersucht ein Projekt am Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften, wie und warum diese Veränderungen von wem und mit welchen strategischen Zielen gefördert werden. Welche empirischen und normativen Effekte hat die Entstehung des Paradigmas der beweglichen Grenzen bei der Regulierung der Mobilität? Im Gegensatz zur traditionellen befestigten physischen Barriere ist die bewegliche Grenze örtlich und zeitlich nicht festgelegt. Sie verlässt sich vielmehr auf die rechtliche Zulassung statt auf die Kontrolle eines spezifischen Grenzortes und kann sich nach innen zurückziehen oder nach außen hin ausgreifen – mit dramatischen Konsequenzen für den Schutz, den Immigranten, Asylsuchende und andere Nichtbürger durch die Verfassung und international verbriefte Menschenrechte genießen.

Die folgenden Beispiele für die Umsetzung einer beweglichen Grenze sollen das Gesagte veranschaulichen. Im Rahmen einer umfassenden Reform der US-Einwanderungsregelungen wurde ein Verfahren zur sogenannten beschleunigten Abschiebung eingeführt. Diese gesetzliche Bestimmung erlaubt es Grenzbeamten nicht nur, irreguläre Migrantinnen und Migranten an der Grenze zügig abzuschieben, sondern auch den Rechtsstatus von Personen, die bis zu 100 Meilen von jeder amerikanischen Land- oder Küstengrenze entfernt sind, zu überprüfen. Damit wird die Grenze von ihrer festen Lage am Rand des Landes weit ins Landesinnere verschoben.

Diese neuen Regulierungen verlagern nicht nur die Grenze, sondern schaffen auch, was als „Verfassung light“ oder als „verfassungsfreie Zone“ bezeichnet worden ist, und zwar innerhalb der Vereinigten Staaten. Den Vollzugsbehörden ist es indiesen Zonen gestattet, ohne Verdachtsmomente an Autobahnen, an Fährterminals oder in Zügen Kontrollen durchzuführen und jede Person aufzufordern, ihren Rechtsstatus nachzuweisen. Staatliche Überwachung von Bewegung und Mobilität, traditionell auf den tatsächlichen Grenzübertritt beschränkt, diffundiert jetzt weit ins Landesinnere.

Die jüngsten Zensusdaten zeigen, dass nicht weniger als zwei Drittel der Bevölkerung der USA in dieser 100-Meilen- Zone leben, in der die „Verfassung light“ gilt. Oder anders formuliert: Mehr als 200 Millionen Menschen leben in der dehnbaren beziehungsweise beweglichen Grenzzone. Der Staat New York liegt beispielsweise vollständig innerhalb dieser 100-Meilen-Zone. Gleiches gilt für Florida, ein anderer Staat, der für Zuwanderer attraktiv ist. Das Ministerium für innere Sicherheit, das für die Verwaltung der flexiblen Grenze zuständig ist, ließ verlauten, dass die Maßnahmen zum Schutz der Grenzen auch „landesweit“ ausgedehnt werden können.

Kanada seinerseits hat die Technik der Verlagerung von Kontrolle ins Ausland perfektioniert und einen Großteil des Vollzugs seines Migrationsrechts auf Zugänge in Übersee übertragen. Diese liegen vor allem in Europa und Asien, wo sogenannte Migrations- oder Verbindungsbeamte nun selbstverständlich Grenzkontrollen vornehmen und auch einige Aufgaben an private Drittanbieter, wie zum Beispiel das Flugpersonal, delegieren. Während in den USA die Grenze in das Landesinnere hineinwächst, erstreckt sich hier die Grenze weit über das Territorium des Landes hinaus. Dies ist Teil einer Strategie, die sich, wie offiziellen kanadischen Regierungsdokumenten zu entnehmen ist, bemüht, „die Grenze so weit wie möglich von der eigentlichen [territorialen] Grenze weg zu verschieben“. Ein wichtiges Ziel dieser Politik ist es, die Territorialgrenze in die letzte, nicht die erste Barriere für nicht eingeladene Migrantinnen und Migranten zu verwandeln.

Ein letztes Beispiel für die Grenzverschiebung stammt aus Australien, das ausdrücklicher noch als Kanada oder die Vereinigten Staaten seine Grenze offiziell durch juristische Regelungen neu verlegt hat. Dies geschah, wie die australische Regierung bereitwillig zugibt, durch eine Unterscheidung zwischen der „Migrationszone“ und „Australien“, wie es von der Karte her bekannt ist. Diese „Push-back-Politik“ wurde 2001 durch eine Änderung des australischen Migrationsrechts durchgesetzt und erstmals im Jahr 2005 und ein zweites Mal im Jahr 2013 erweitert. Diese Anpassung des Rechts erlaubt es den australischen Einwanderungsbehörden, Asylsuchende, denen es gelungen ist, diese „Excision-Zone“ zu erreichen, abzuschieben – als ob sie Australien gar nie erreicht hätten, obwohl sie unter Umständen physisch an seiner Küste gelandet sind. Diese juristische Fiktion beschränkt die verfahrensrechtlichen und materiellen Rechte, die Asylbewerbern und andere Migranten ansonsten nach nationalem und internationalem Recht zustehen. Sie beseitigt auch die Möglichkeit, Wegweisungen gerichtlich zu überprüfen, und bedeutet damit nicht bloß eine Neuverlegung der territorialen Grenze, sondern erschwert auch den Zugang zu Rechtsschutz. Im Jahr 2013 wurde diese „Push-back-Zone“ durch Gesetz auf das gesamte australische Festland ausgeweitet. Im Ergebnis heißt dies, dass die Grenze gleichzeitig überall und nirgends ist.

Schaut man auf Europa, wird deutlich, dass es, während es um Antworten auf die aktuelle Flüchtlingskrise ringt, bereits einige Seiten – vielleicht sogar ganze Kapitel – aus dem Buch über Grenzverschiebungen übernommen hat. Das jüngste Beispiel ist die Übereinkunft zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und der Türkei, in der dem Land mehr als drei Milliarden Euro und andere Anreize als Gegenleistung für seine Anstrengungen, „Menschen in der Region und außerhalb Europas“ zu halten, geboten werden. Diese Übereinkunft ist ein klassisches Beispiel für die Externalisierung von Migrations- und Grenzkontrolle. Frühere bilaterale und multilaterale Abkommen (einschließlich des inzwischen diskreditierten Abkommens zwischen Italien und Libyen) wurden kritisiert, weil sie die EU-Länder von ihren ansonsten verbindlichen Menschenrechtsverpflichtungen entbunden haben, indem sie auf Konzessionen von Drittstaaten und die Zusammenarbeit mit diesen bestehen und auf Ursprungs- oder Transitländer als „Türhüter der entwickelten Welt“ zurückgreifen. Dadurch wurde es ihnen möglich, sich der eigenen Verantwortung gegenüber Flüchtlingen und anderen internationalen Schutzberechtigten zu entziehen. In Europa haben die Gerichte mobile Überprüfungen innerhalb einer 20 Kilometer breiten Zone vom eigentlichen territorialen Punkt des Grenzübertrittes aus zugelassen, was wiederum zeigt, dass die Grenze weniger eine feste, auf dem Boden markierte Linie ist, sondern jetzt auch hier „verrückbar“ wird.

Diesen neuen Grenzkontrolltechnologien und -ideologien muss eine neue Konzeption des Verhältnisses zwischen Recht und Territorium entgegengestellt werden.  Sie könnte dazu beitragen, rechtliche Pflichten funktional und nicht territorial wirksam werden zu lassen, sobald eine tatsächliche Kontrolle durch Vertreter des Staates (oder deren Delegierte, ob national oder supranational, ob öffentlich oder privat) eintritt. Mit anderen Worten: Wenn Staaten ihre Macht extraterritorial ausüben, sollte ihre Rechtsbindung und ihre Verpflichtung zur Gerechtigkeit ebenfalls über die Grenzen hinaus reichen.

Literaturhinweise

Jones, R.

Borders and Walls: Do Barriers Deter Unauthorized Migration?

Migration Information Source, 5. Oktober (2016)

Brown, W.
Walled States, Waning Sovereignty
Zone Books, New York (2010)

Shachar, A.

Olympic Citizenship

Oxford University Press, Oxford (erscheint 2018)

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