Forschungsbericht 2016 - Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik

Molekulare Güterzüge fahren zweigleisig

Autoren
Pigino, Gaia
Abteilungen
Abteilung Pigino
Zusammenfassung
Zilien sind antennenähnliche Strukturen in Zellen, die schnell ab- und wieder aufgebaut werden können. Dies geschieht mit Hilfe von Proteinkomplexen, die wie Transportzüge auf langen Fadenproteinen entlangfahren. In gesunden Zellen läuft dies ohne jegliche Kollision und ohne Staus ab. Stockt der Transport jedoch, kann das die Lebensfähigkeit der Zelle beeinträchtigen und zu Pathologien führen. Neue Erkenntnisse zeigen, wie Kollisionen dieser „molekularen Güterzüge“ durch ein zweigleisiges System vermieden werden.

Einleitung

Die meisten Zellen haben antennenähnliche Strukturen, Zilien genannt, mit denen sie sich fortbewegen, ihre Umgebung erspüren und Signale an andere Zellen schicken. Bekannt war bisher, dass diese Zilien ein inneres Gerüst aus fadenähnlichen Proteinfasern, sogenannten Mikrotubuli, haben, die – anders als in den anderen Bereichen der Zelle – immer in neun Doppelsträngen organisiert sind. Jedes dieser Doppelpacks besteht aus einem kompletten A- und einem unvollständigen B-Mikrotubulus (Abb. 1). Wozu diese besondere Doppelstruktur jedoch dient, war bisher unklar.

Mikrotubuli dienen großen Proteinkomplexen als Schienen: Auf ihnen fahren sie schnell auf und ab, wenn eine Zilie entsteht oder abgebaut wird. Wie Schienen transportieren sie dabei die Bausteine der Zilien zur Spitze der entstehenden Zell-Antenne – oder von dort weg. Elektronenmikroskopische Aufnahmen haben deutlich gezeigt, dass die „molekularen Güterzüge“ immer fest mit den Doppelsträngen aus Mikrotubuli verbunden sind [1-3]. Warum es im gegenläufigen Transportverkehr nicht zu Kollisionen kommt, konnte sich allerdings bisher niemand erklären.

Um genauer zu verstehen, wie der molekulare Güterverkehr in der Zelle geregelt wird, haben sich die Dresdner Forscher die Zilien von Grünalgen unter einem speziellen Lichtmikroskop angeschaut: einem internen Totalreflexions-Fluoreszenzmikroskop. Diese spezielle Methode ist besonders geeignet, um Objekte zu untersuchen, die sich sehr nahe an einer Oberfläche befinden. Was zu sehen war: auf den vielen „Mikrotubuli-Gleisen“ der Zell-Antenne wuselten viele Transportzüge hin und her. Auffallend war dabei vor allem, dass Züge, die in die eine Richtung fuhren, sich gelegentlich zusammenkoppelten, was auch Züge taten, die in die andere Richtung unterwegs waren. Zusammenstöße zwischen sich entgegenkommenden Zügen waren hingegen nicht zu beobachten. Können die molekularen Bausteine den Gegenverkehr vielleicht erkennen und das Gleis wechseln, bevor es kracht? Dann müssten die Züge auch an Tempo verlieren, was Messungen jedoch wiederlegt haben. Die Forscher vermuteten etwas anderes: Was, wenn die molekularen Güterzüge bestimmte Doppelstränge des zentralen Mikrotubulus-Gleises erkennen können? Dann wären dem Verkehr in die eine Richtung bestimmte „Gleise“ zugeordnet, dem Gegenverkehr andere. 

Um die Interaktion zwischen Zügen und Mikrotubuli-Gleisen beobachten und so diese Hypothese bestätigen zu können, reicht die Auflösung in der Lichtmikroskopie nicht aus – wohl aber in der Elektronenmikroskopie. Die Dresdner Forscher entwickelten daher eigens eine neue Mikroskopiemethode, welche die Fluoreszenz-Lichtmikroskopie und die Elektronenmikroskopie in 3-D kombiniert. Damit können sie Vorgänge in der Zelle mit einer Auflösung von weniger als einem Nanometer sehen und mit dynamischen Daten einer lebenden Zelle verbinden [4].

Einbalsamierte Zellen

In Grünalgen-Zellen der Gattung Chlamydomonas wurden wurden die Züge mit einem fluoreszierenden Markerprotein sichtbar gemacht. Damit konnte die Geschwindigkeit und Richtung ihrer Bewegungen entlang des Ziliums im Lichtmikroskop als Film aufgezeichnet werden. Dann wurde diese Zelle schnell mit einer chemischen Flüssigkeit fixiert – sozusagen einbalsamiert. Diese Momentaufnahme wurde mit einem Elektronenmikroskop analysiert, und zwar als Tomographie: Dazu werden viele Bilder der Probe aus unterschiedlichen Winkeln aufgenommen, indem der Probenhalter im Mikroskop gekippt wird. Per Computer wird daraus schließlich ein dreidimensionales Bild berechnet (Abb. 2).

Mit dieser neuen Methode konnten die Wissenschaftler erstmals die genaue Morphologie der verschiedenen „Güterzüge“ genau beschreiben und neue Erkenntnisse gewinnen. Gleich zu Beginn gab es eine Überraschung: Bisher wurde angenommen, dass Züge, die von der Antennenspitze wegfahren, eine andere Länge haben als Züge, die sich zur Antennenspitze hinbewegen. Die Analyse des Dresdner Teams hingegen ergab, dass beide Zugtypen gleich lang sind. Ein weiteres Aha-Erlebnis folgte sofort: Stehende Züge unterscheiden sich deutlich in der Form von den beiden anderen Zugtypen. Die Ergebnisse der Studie erklären erstmals schlüssig die Doppelstruktur von Mikrotubuli in Zilien und schreiben somit auch die Lehrbücher der Zellbiologie zu diesem Kapitel neu.

„Molekulare Güterzüge“ fahren zweigleisig

Die neu entwickelte Mikroskopietechnik eröffnet neue Möglichkeiten für alle Experimente, bei denen schnell ablaufende Prozesse in sehr kleinen Zellkompartimenten untersucht werden sollen. Die genaue Analyse und Verfolgung der verschiedenen Züge ergab, was die Forscher schon lange vermuteten: Die Güterzüge wählen ein Gleis des Doppelstrangs, dem klar nur eine Richtung zugewiesen ist. Züge in die eine Richtung nutzen also andere Mikrotubulus-Schienen als Züge, die in die andere Richtung fahren. Dadurch werden Kollisionen der Transportzüge vermieden, Staus bleiben aus. Bewegen sich Züge zur Baustelle, nutzen sie den B-Mikrotubulus, die zurückkehrenden Züge wechseln auf das A-Gleis. 

Ihr „richtiges“ Gleis scheinen die entlangwandernden Proteinkomplexe mit Hilfe ihrer unterschiedlichen „Antriebsmotoren“ zu erkennen. Während nämlich Züge, die sich von der Zilienspitze hinwegbewegen, das Motorprotein Dynein nutzen, werden Züge in die andere Richtung von Kinesin II angetrieben. Wie genau die beiden Motorproteine entweder den A- oder B-Mikrotubulus erkennen, ist noch nicht ganz klar. Dieser Mechanismus soll in nachfolgenden Studien aufgeklärt werden.

Literaturhinweise

Kozminski, K.G.; Johnson, K.A.; Forscher, P.; Rosenbaum, J.L.
A motility in the eukaryotic flagellum unrelated to flagellar beating
Proceedings of the National Academy of Science U.S.A. 90, 5519–5523 (1993)
Kozminski, K.G.;  Beech, P.L.; Rosenbaum, J.L.
The Chlamydomonas kinesin-like protein FLA10 is involved in motility associated with the flagellar membrane  
Journal of Cell Biology 131, 1517–1527 (1995)
Pigino, G.; Geimer, S.; Lanzavecchia, S.; Paccagnini, E.; Cantele, F.; Diener, D.R.; Rosenbaum, J.L.; Lupetti, P.
Electron-tomographic analysis of intraflagellar transport particle trains in situ

Journal of Cell Biology 187, 135–148 (2009)

Stepanek, L.; Pigino, G.
Microtubule doublets are double-track railways for intraflagellar transport trains
Science 352 (6286), 721-724 (2016)
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