Forschungsbericht 2016 - Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz (Standort Seewiesen)

Individuelles Schrumpfen und erneutes Wachsen als Winteranpassung bei hochmetabolischen Tieren

Autoren
Dechmann, D.K.M.; Hertel, M.; Wikelski, M.

Abteilungen
Max-Planck-Institut für Ornithologie, Radolfzell, Abteilung Tierwanderungen und Immunökologie
Max-Planck Institut für Tierökologie, Seewiesen, Abteilung Verhaltensneurobiologie
Zusammenfassung
Schädel- und Hirngröße ändern sich im ausgewachsenen Tier meist nicht mehr. Eine Ausnahme bilden Spitzmäuse (Sorex spp.): Sie schrumpfen in Erwartung des Winters und wachsen im Frühjahr wieder. Dieser Prozess hat Auswirkungen auf das Gehirn, andere wichtige Organe, die Knochen und auch kognitive Fähigkeiten. Außerdem wurde das Phänomen erstmals auch in Wieseln gefunden, welche den Spitzmäusen in vieler Hinsicht ähneln, insbesondere in ihrer hohen Stoffwechselrate. Diese Resultate sind wichtig für das Verständnis der Evolution und eröffnen Möglichkeiten für die angewandte Forschung.

"Small, smaller"

I thought I knew all there was to know

Of being small, until I saw once, black against the snow,

A shrew, trapped in my footprint, jump and fall

And jump and fall, the hole too deep, the walls too tall

-Russell Hoban

Von Extremen

Extreme faszinieren uns. Und der Dichter Russell Hoban beschreibt wunderbar, warum Spitzmäuse und insbesondere die Rotzahnspitzmäuse (Soricinae) so faszinieren: Sie sind winzig (Abb. 1), aber nicht nur das - im Winter werden sie noch winziger. Das sogenannte Dehnels-Phänomen, bereits 1949 von Prof. August Dehnel in Polen entdeckt [1], beschreibt ein reversibles, saisonales Schrumpfen und wieder Wachsen dieser kurzlebigen Tiere. Im Winter gefangene Waldspitzmäuse (Sorex araneus) weisen eine um bis zu 20% geringere Schädelhöhe auf als Tiere, welche im Sommer davor oder danach gefangen werden. Auch das Gewicht und viele Organe, inklusive dem Gehirn, zeigen dramatische Größen- bzw. Gewichtsunterschiede.

Trotz dieser erstaunlichen Resultate blieb das Phänomen weitgehend unbeachtet. Dass sich das änderte, ist auch den Bemühungen Klaus Hahlbrocks zu verdanken:  als ehemalige Vizepräsident der biomedizinischen Sektion war es sein Anliegen, die langjährige gute Zusammenarbeit mit Polen und insbesondere die im größten polnischen Nationalpark, den Biebrza-Flussauen, wieder aufleben zu lassen. Daraus entstand die "Max Planck Poland Biodiversity Initiative" und eine enge Kooperation mit Kollegen am Mammal Research Institute in Białowieża und an der Universität Białystok.

Die Spitzmaus - "Mr. Fantastisch" unter den Säugetieren

Spitzmäuse, trotz des irreführenden Namens keine Nager, sondern Insektenfresser (Ordnung Eulipotyphla), sind in fast jeder Hinsicht extrem. Nicht nur ist eine Spitzmausart (Etruskerspitzmaus, Suncus etruscus) das kleinste Europäische Säugetier; Spitzmäuse haben auch einen höheren Stoffwechsel als alle anderen einheimischen Säugetiere, sogar in Relation zur Körpergröße. Sie legen praktisch keine Fettreserven an und verhungern binnen fünf Stunden. Die extremsten unter ihnen, die Rotzahnspitzmäuse, erleben nur einen einzigen Jahreszyklus und halten keinen Winterschlaf. Deshalb müssen diese kleinen Raubtiere, um nicht zu verhungern oder zu erfrieren, das ganze Jahr hindurch energetisch hochwertiges Futter finden. Das Resultat sind kleine Hochleistungsathleten, welche ausschließlich schnelle aerob arbeitende Muskelfasern aufweisen - sie bekommen niemals Muskelkater, obwohl sie sich fast ständig unter hohem energetischem Aufwand bewegen. Die hoch territorialen Einzelgänger treffen sich nur zur Paarung. Da sie sich erst in ihrem zweiten Sommer fortpflanzen und kurz darauf verenden, begegnen sich, untypisch für kleine Säuger, niemals geschlechtsreife Tiere aufeinanderfolgender Generationen.

Trotzdem sind Spitzmäuse äußerst erfolgreich, und je nördlicher der Breitengrad, desto dominanter ihr Einfluss auf die lokale Fauna. Erstaunlich ist, dass nördlichere Vorkommen derselben Art eine geringere Körpergröße aufweisen. Dies steht in direktem Widerspruch zur Bergmannsregel, die besagt, dass bei kälterem Klima ein größerer Körper durch das optimierte Verhältnis zwischen Volumen und Oberfläche von Vorteil ist.

Darüber hinaus tritt nun das oben genannte Dehnels-Phänomen (DP) auf: im Winter gefangene Tiere sind noch kleiner. Diese Größenveränderung betrifft das ossifizierte Skelett, das Gehirn und viele andere Organe. Wissenschaftler konnten nun erstmals in einer Wiederfangstudie mittels Röntgenbildern freilebende Spitzmäuse durch ihren gesamten Zyklus begleiten (Abb. 2): Die Größenveränderung findet tatsächlich in jedem Individuum statt. Die Schädel von gefangenen und post mortem vermessenen Tieren unterscheiden sich nicht von denjenigen der Wiederfänge. Das Phänomen wird also nicht etwa durch eine saisonale Selektion hervorgerufen, bei der größere Tiere in Herbst vermehrt verenden.

Erstmalig nachgewiesen: die konvergente Evolution des Phänomens

Die Frage, die sich nun stellte, war: Wie entsteht ein solches Phänomen im Laufe der Evolution und warum ausgerechnet in dieser ohnehin extremen Gattung? Physiologie und Verbreitung legten nahe, dass das Schrumpfen der Tiere im Winter eine Einsparung von Ressourcen und/oder einen geringeren Energieverbrauch ermöglicht. Ein erster Schritt war deshalb die Suche nach dem Auftreten desselben Phänomens bei anderen Arten. Von vielen anderen Kleinsäugern und Nagern war bereits bekannt, dass sie es nicht aufweisen. Doch eine aufwändige Untersuchung von Wieseln (Mustela spp.), einer phylogenetisch relativ weit entfernten Gattung, die in ihrem Jahreszyklus und Stoffwechsel den Spitzmäusen allerdings sehr ähnlich ist, zeigte: Die Spitzmäuse sind nicht allein. Schädel von Mauswiesel (Mustela nivalis) und Wiesel (Mustela erminea) zeigen das gleiche Muster [2] (Abb. 3). Kleinere Datensätze deuten außerdem an, dass auch Nerz (Neovison vison), Iltis (Mustela putorius) und der näher verwandte Maulwurf (Talpa europaea) ähnliche Veränderungen der Schädelgröße aufweisen – allesamt Tiere, die an hochwertige Nahrung gebunden sind und keinen Winterschlaf halten. Es scheint also glaubhaft, dass eine Veränderung im Energiestoffwechsel oder aber eine schlichte Reduktion des Ressourcenbedarfes die Evolution dieses Phänomens vorangetrieben hat.

Diese Theorie wird unterstützt durch einen Vergleich innerhalb der Spitzmäuse: Im klimatisch härteren Nordostpolen ist das DP stärker ausgeprägt als am Bodensee (unpublizierte Daten, Doktorarbeit J. Lazaro). Diese regionale Variabilität findet sich auch im Wiesel [3]. Weiterführende Forschung in diesem vergleichenden Ansatz wird helfen, die Evolution dieser Plastizität im ausgewachsen Tier sowie die involvierten Auslöser und Mechanismen besser zu verstehen.

Was bedeutet dies für die Tiere?

Nicht nur die beispielhaft verwendete Schädelhöhe verändert sich im Jahresverlauf. Auch Gehirn, Herz, Leber, Darm und Milz, um nur die wichtigsten Organe zu nennen, folgen dem DP. Wie wirkt sich das auf die Tiere aus? Enorm, wie die folgenden Beispiele von Hirn und Knochen zeigen.

Reversibles Schrumpfen des Gehirns um -20% und ein anschließendes Wachstum von 17% muss drastische Auswirkungen auf diese Säugetiere haben. Die Veränderungen in den verschiedenen Hirnregionen auf anatomischer Ebene zu beschreiben ist daher eine zentrale Fragestellung des Forschungsprojektes. Die Rekonstruktion der einzelnen Hirnregionen aus Schnitten in Verbindung mit Dichtezählungen zeigt, dass im Gegensatz zum einzigen anderen Taxon, welches vergleichbare Veränderungen der Hirngröße aufzeigt – den Vögeln [4], weder Apoptose noch Neurogenese die Ursache zu sein scheinen. Die stärkste reversible Veränderung findet sich im Neocortex und in kleineren Regionen wie dem Hypothalamus. Darauf aufbauend werden momentan mit Silber gefärbte Hirnzellen aus verschiedenen Jahreszeiten rekonstruiert. Parallel dazu werden Daten zur Genexpression aus den von der Größenveränderung besonders stark betroffenen Hirnregionen ausgewertet. Hiervon verspricht man sich auch Antworten zur möglichen Plastizität im Zentralnervensystem von Säugern.

In tierexperimenteller Hinsicht ist stellt das Projekt eine Herausforderung dar, denn die stressempfindlichen Spitzmäuse sind aufwändig in der Haltung und konnten bisher nicht gezüchtet werden. Deshalb muss immer mit Wildtieren gearbeitet werden. Dennoch bestätigen Verhaltensexperimente eine Auswirkung auf die kognitiven Fähigkeiten. In einem räumlichen Orientierungstest war das räumliche Lernen von Wintertieren signifikant verschlechtert, während junge Tiere (im Sommer) sowie alte (und dann geschlechtsreife) Tiere besser lernten. Auch hier ist viel Bedarf an weiterführender Forschung  - aber die Möglichkeiten, auch für die medizinische Forschung, sind vielversprechend. In drastischer Weise zeigt sich am Beispiel der Rotzahnspitzmäuse, wie essenziell die Energieversorgung für das Überleben ist, wenn Rückzug in wärmere Gebiete, Winterschlaf oder Schutz durch die Gruppe nicht zur Verfügung stehen. Der Kompromiss, Energie durch eine Verkleinerung des Gehirns zu sparen, obwohl dies zu messbaren Einschränkungen der kognitiven Leistung führt, zeigt, wie extrem anpassungsfähig Säugetiere sein können. 

Was bedeutet dies für die Wissenschaft?

In einer Zusammenarbeit mit der Universitätsmedizin Göttingen entwickelt sich ein spannendes Projekt mit Blick auf die medizinische Forschung. Denn es scheint, als reproduziere der winterliche Knochenabbau der Spitzmaus dieselben Prozesse, welche im Knochen von Osteoporosepatienten zu finden sind. Nicht die Knochen bildenden Osteoblasten und Knochen abbauenden Osteoklasten, sondern die kryptischen Osteozyten scheinen die Hauptrolle zu spielen. Eingelagert im Knochenmaterial formen sie ein Netzwerk, welches die De- und Remineralisierung des Knochens steuert. Knochenhistologien zeigen, wie im Frühjahr neues Knochenmaterial zwischen den Zellen eingelagert wird (Abb. 4). Auch röntgentechnische Untersuchungen auf zellulärer Ebene, entstanden am Synchrotron in Triest/Italien, zeigen Dichteveränderungen im Verlauf des DP. Nähere Erkenntnissse über diese in der Spitzmaus vollkommen reversiblen Prozesse könnten auch bei der Osteoporoseforschung nützlich sein. Forschungsrelevant ist hier vor allem die Tatsache, dass das Dehnels-Phänomen, im Gegensatz zu anderen bekannten Fällen von Grössenveränderungen [5 – 8], antizipatorisch und nicht reaktiv ist. Das bedeutet, es ist genetisch verankert, wenn auch vielleicht durch lokale Umweltbedingungen modifizierbar.

Ein organismisches Verständnis dieser Anpassungen kann neue Grundlagen für die medizinische Forschung schaffen, auch abseits der typischerweise verwendeten Labororganismen. Die Entdeckung der taxonübergreifenden Vorkommnis dieses Phänomens verstärkt die Hoffnung, dass Spitzmäuse und andere Arten, welche das Dehnels-Phänomen aufweisen, in naher Zukunft zu wichtigen Modellorganismen für verschiedenste medizinische Forschungszweige werden könnten.

Literaturhinweise

Dehnel, A.
Studies on the genus Sorex L.
Annales Universitatis Mariae Curie-Skodowska Sectio C Biologia 4, 17-102 (1949)
Dechmann, D. K. N.; La Point, S.; Dullin, C.; Hertel, M.; Taylor, J.R.E.; Zub, K.; Wikelski, M.
Profound seasonal shrinking and regrowth of the ossified braincase in phylogenetically distant mammals with similar life histories
Scientific Reports 7, 42443 (2017)
La Point, S.; Keicher, L.; Wikelski, M.; Zub, K.; Dechmann, D. K. N.
Growth overshoot and seasonal size changes in the skulls of two weasel species
Royal Society Open Science 4, 160947 (2017)
Nottebohm, F.
A brain for all seasons: cyclical anatomical changes in song control nuclei of the canary brain
Science 214, 1368-1370 (1981)
Bendik, N. F.; Gluesenkamp, A. G.
Body length shrinkage in an endangered amphibian is associated with drought
Journal of  Zoology 290, 35-41 (2013)
Huusko, A.; Maki-Petays, A.; Stickler, M.; Mykra, H.
Fish can shrink under harsh living conditions
Functional Ecology 25, 628-633 (2011)
Loehr, V. J. T.; Hofmeyr, M. D.; Henen, B. T.
Growing and shrinking in the smallest tortoise, Homopus signatus signatus: the importance of rain
Oecologia 153, 479-488 (2007)
Wikelski, M.; Thom, C.
Marine iguanas shrink to survive El Nino - Changes in bone metabolism enable these adult lizards to reversibly alter their length
Nature 403, 37-38 (2000)
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