Welche genetischen Muster sind für komplexe neuropsychiatrische Krankheiten relevant?

Wissenschaftler entwickeln einen neuen Ansatz für die Genanalyse psychiatrischer Erkrankungen

13. Januar 2017

Neuropsychiatrische Erkrankungen werden in hohem Maße vererbt. Vor diesem Hintergrund suchen Wissenschaftler im Erbgut der Betroffenen nach jenen genetischen Mustern, die ausschlaggebend für die individuelle Erkrankung sind. Große genomweite Studien lieferten bisher aber keine wirklichen „Treffer“ – etwas über hundert genomische Veränderungen wurden zwar als Risikofaktoren eingestuft, konnten aber nicht zur Erklärung der individuellen Krankheitsentstehung beitragen. Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für experimentelle Medizin haben nun einen neuen Ansatz zur genetischen Analyse mentaler Erkrankungen vorgestellt.

Trotz einer sehr hohen Erblichkeit neuropsychiatrischer Erkrankungen haben sogenannte genomweite Assoziationsstudien (GWAS) bislang nicht geholfen, die genetischen Muster zu entdecken, die auch individuelle Krankheitsentstehung erklären. Bei diesen Studien werden größere Personengruppen mit und ohne Krankheitsdiagnose (z.B. Schizophrenie) miteinander verglichen, um kleinste genomische Unterschiede zu identifizieren (Polymorphismen, SNPs). Im menschlichen Genom gibt es schätzungsweise 50 Millionen solcher SNPs (sprich „Snips“) – sie sind ein Grund, warum auch gesunde Menschen sich phänotypisch unterscheiden. Aber diese Variationen von Normalität können, wenn sie unglücklich zusammentreffen, auch Krankheitszustände mitverursachen. Problematisch ist, dass ein Mensch mit der Diagnose Schizophrenie sehr unterschiedliche genetische Gründe für seine Erkrankung aufweisen kann, zusätzlich zu verschiedenen Umwelteinflüssen, die über den Krankheitsausbruch mitentscheiden.

Unter der "Sammeldiagnose" Schizophrenie versteckt sich also eine extrem heterogene Population von Patienten. Deshalb führt auch die genetische Analyse von tausenden von Schizophrenen im Vergleich zu tausenden von Gesunden nur zu sehr wenigen SNPs, die bei den Patienten signifikant häufiger vorkommen. „In der letzten großen Assoziationsstudie, die 150.000 Personen umfasste, wurden lediglich 108 dieser sogenannten Single Nucleotid Polymorphismen, sprich Snips, entdeckt“, erklärt Hannelore Ehrenreich. Diese Befunde werden zwar als relevant für die genetische Basis der Schizophrenie angesehen und daher als „Risiko-SNPs“ bezeichnet, konnten aber nicht zur Erklärung individueller Krankheitsentstehung beitragen. Hannelore Ehrenreich und ihre Mitarbeiter vom Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin in Göttingen haben sich dieses Problems angenommen. Sie fragten sich, ob es möglich ist, von nur einem Patienten auszugehen, um mit Hilfe seines individuellen Profils an Risiko-SNPs (aus der Gruppe von 108) Hinweise auf die genetische Basis eines individuellen Krankheitsphänotyps zu erhalten. „Solch ein sehr detailliert charakterisierter Patient, den wir OTTO nennen, ist ein Individuum mit einem prominenten Krankheitsbild und einer bestimmten Kombination von Risiko-SNPs, die vermutlich gemeinsam zur individuellen Ausprägung der Krankheit beitragen“, erklärt Ehrenreich.

Der Name OTTO leitet sich vom altgermanischen Wort "Erbe" ab. Die Autoren wählten einen OTTO mit einem auffällig autistischen Phänotyp und fragten, welche seiner 26 homozygoten Risiko-SNPs (d.h. auf den beiden Chromosomen befinden sich zwei gleiche Kopien) auch in einer Gruppe von über 1000 Patienten mit autistischen Merkmalen genetisch verbunden, also assoziiert sind. Genau sieben SNPs fanden sie auf diese Weise und studierten sie in einem sogenannten Akkumulationsmodell: „Unsere Hypothese war, dass für andere Menschen die Wahrscheinlichkeit, autistische Merkmale aufzuweisen, steigt, wenn sie mehrere dieser Risiko-SNPs des autistischen OTTO teilen“, erklärt Ehrenreich. An zwei unabhängigen Stichproben von schizophrenen Patienten und Menschen aus der Allgemeinbevölkerung konnten die Wissenschaftler diese Hypothese bestätigen. Im nächsten Schritt verglichen sie dann zwei biologisch verwandte OTTOs, und zwar Cousinen, mit der gleichen Diagnose „Schizoaffektive Psychose“ und einem prominenten gemeinsamen Phänotyp: auffällige Depression und suizidales Verhalten. Für die Identifikation der möglicherweise für diese Merkmale bedeutsamen Risiko-SNPs untersuchten die Autoren dann nur die 9 homozygoten SNPs, die beiden gemeinsam waren. „Wir sind davon ausgegangen, dass jene Genotypen, die von Verwandten mit dem gleichen Krankheitsbild geteilt werden, eine höhere Wahrscheinlichkeit für Krankheitsrelevanz haben“, sagt die Medizinerin. Es blieben dann noch vier SNPs übrig. Angewendet auf drei unabhängige Populationen konnten die Wissenschaftler zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit, depressive Züge zu zeigen, für eine Person zunimmt, je mehr "affektive OTTO-SNPs" sie aufwies.

„Diese Strategie, krankheitsrelevante SNP-Konstellationen aus markant betroffenen Individuen quasi zu extrahieren, stellt einen ersten modellhaften Versuch dar, um endlich die für Patienten bedeutsamen Informationen aus den Ergebnissen großer genomischer Studien zu gewinnen“, betont Klaus-Armin Nave, Direktor am Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin. „Dieser Ansatz, der sich in Nachfolgestudien weiter beweisen muss, gibt Anlass zu der Hoffnung, so dem Verständnis komplexer genetischer Erkrankungen etwas näher zu kommen.“

HE/HR

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