Forschungsbericht 2016 - Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie

Das Nachspiel von Westminster: Dekolonialisierung und Staatenbildung in Asien am Ende des British Empire

Autoren
Kumarasingham, Harshan; Vogenauer, Stefan
Abteilungen
Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Frankfurt/Main
Zusammenfassung
Staatenbildung und Verfassungsgebung in Südasien sind eng verknüpft mit dem kolonialen Erbe der Region und dem Rechtstransfer des parlamentarischen Systems Großbritanniens. Das britische Recht traf auf lokale oder regionale Traditionen. In welchem Maße unterschieden sich diese Begegnungen voneinander? Wer waren die Hauptakteure? Im Prozess der Verfassungsgebung, etwa in Indien und Malaysia, kam Sir Ivor Jennings eine zentrale Rolle zu. Im Projekt „Nachspiel von Westminster“ am MPI für europäische Rechtsgeschichte wird untersucht, wie dieser Prozess sich an verschiedenen Orten abspielte.

Rechtstransfer in der Welt des common law

Das Recht Englands wurde durch die Expansion des British Empire in ganz verschiedenen Teilen der Welt eingeführt. Regeln, Prinzipien und Institutionen des englischen Rechts wurden in Regionen und Gesellschaften in Kraft gesetzt, die sich stark voneinander unterschieden, etwa in Australien, Ghana, Indien, Jamaika und Singapur. Häufig traf das englische Recht auf lokale oder regionale rechtliche und außerrechtliche Traditionen. Wie spielte sich dieser Prozess an verschiedenen Orten ab? Wie stark unterschieden sich diese Begegnungen? Gab es jemals einen einheitlichen Rechtsraum des common law? Oder nahm das englische Recht in jedem Territorium eine eigenständige Färbung an, je nach Geografie, Klima und den vorherrschenden religiösen, moralischen und wirtschaftlichen Ansichten der Bewohner? Können wir schließlich aus den Erfahrungen des englischen Rechts etwas über die allgemeine Debatte über Rechtsrezeptionen oder sogar ganz grundsätzlich über die Entwicklung von Recht erfahren?

Am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte erforscht die Abteilung I unter Leitung von Stefan Vogenauer die Rechtsgeschichte der Europäischen Union, die vergleichende Geschichte der Methodenlehre und den Rechtstransfer zwischen den Rechtsordnungen des common law. Das im Laufe des Jahres 2016 geförderte Projekt „Verfassungsgebung in Asien“ ist eingebettet in das Forschungsfeld „Rechtstransfer in der Welt des common law“ und versucht, Antworten auf einige der oben skizzierten Fragen aus rechtshistorischer Perspektive für die südasiatische Region zu finden. Es nimmt verfassungsgebende Prozesse in ausgewählten Ländern im historischen Kontext in den Blick und greift auf historische, politische und rechtliche Quellen zurück, um zu analysieren, wie relevant der Einfluss aus Westminster war und wie weit er reichte. Zu klären ist, in welcher Form das sogenannte Westminster-System des britischen Parlaments in die neuen Verfassungen exportiert wurde und sich Bedingungen anpassen musste, die sich von denen Großbritanniens stark unterschieden.

Von Westminster nach Eastminster

Die Verfassungsgebung in Asien ist bis heute untrennbar mit dem kolonialen Erbe des British Empire verbunden. Ein 2008 erschienener internationaler Bericht mit dem Titel „The State of Democracy in South Asia“ resümierte: „[D]er Einfluss des britischen parlamentarischen Systems auf die parlamentarische Praxis in der jeweiligen Region ist offenkundig“ [1]. Während der Transfer an sich also unbestritten ist, bleibt die Frage, was mit Recht geschieht, wenn es einem gänzlich anderen kulturellen Kontext begegnet. Bei der Schaffung parlamentarischer Systeme war „responsible government“ die traditionelle britische Variante, die als Charakteristikum der sogenannten Siedlerstaaten Kanada, Australien, Neuseeland und Südafrika angesehen wurde. Den in den britischen Überseegebieten vereinten asiatischen Staaten ging es dagegen um ein Konzept der Staatenbildung, das notwendigerweise durch die Dekolonialisierung, koloniale Erfahrungen und Kolonialpraktiken im gesamten British Empire sowie lokale nationalistische Ambitionen zusammengehalten wurde. Damit wurde die Saat für das Wachstum des Westminster-Systems in Asien gelegt. Seine dortige Ausprägung blieb einerseits mit Großbritannien verknüpft, war aber dennoch unbestreitbar durch örtliche Gegebenheiten gekennzeichnet.

Anhaltende Schwierigkeiten mit dem verfassungsgebenden Prozess, widerstandsfähige autoritäre Tendenzen und die demokratischen Praktiken und Erwartungen in Ländern wie Indien, Pakistan, Sri Lanka (Ceylon), Malaysia (Malaya) und Nepal sind vor diesem Hintergrund zu verstehen. Doch bislang blieb diese Region bei der Untersuchung der Ausstrahlung des Westminster-Systems in der Forschung nahezu unberücksichtigt. Hier besteht eine große Forschungslücke, nicht zuletzt angesichts der Größe dieser Staaten, die um 1950, als der verfassungsgebende Prozess einsetzte, etwa fünfmal so groß waren wie Großbritannien und die Siedlerstaaten Kanada, Neuseeland, Australien und Südafrika zusammengenommen.

Das Projekt „Verfassungsgebung in Asien“ befasst sich folglich mit einem ersten historischen beziehungsweise verfassungsrechtlichen Vergleich der Erfahrungen Asiens mit seinem britischen konstitutionellen Erbe. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt dabei auf den Ländern Indien, Pakistan, Sri Lanka (Ceylon), Malaysia (Malaya) und Nepal. Die Untersuchung dieser asiatischen Staaten und ihres britischen Erbes setzt am Schnittpunkt von Dekolonialisierung und Staatenbildung an, also in einem Zeitraum, als sich diese neuen Staaten um die Schaffung eines parlamentarischen Systems bemühten. Die Interaktion zwischen lokalen Eliten und Rechtsexperten aus Westminster ist dabei zentral für die Analyse. “Obwohl Großbritanien selbst keine geschriebene Verfassung hat, waren britische Juristen, Verwaltungsbeamte und Diplomaten unübersehbar an den Verfassungentwürfen anderer Länder aktiv beteiligt.“ [2, S. 143] Den Beobachtungen von Linda Colley folgend holten lokale Eliten und Regierungsverantwortliche der jeweiligen Länder regelmäßig Rat bei britischen Gelehrten und Rechtsexperten ein und arbeiteten mit diesen bei der Ausgestaltung von Verfassungen zusammen. Unter diesen Beratern war Sir Ivor Jennings, dem bei den verfassungsgebenden Prozessen in Asien des 20. Jahrhunderts eine besondere Rolle zukam.

Der Verfassungsmacher Jennings

Sir William Ivor Jennings war ein britischer Rechtsgelehrter. Er gilt als Autorität unter den Verfassungsrechtlern Großbritanniens und war Rektor der Universitäten von Cambridge und Ceylon. Neben wichtigen Publikationen wie „The Law and the Constitution“, „Cabinet, Government, Parliament“ und „The Approach to Self-Government“ war Jennings als konstitutioneller Berater weltweit höchst einflussreich, sein Augenmerk galt aber vor allem der Region des „New Commonwealth“. Zwischen den späten 1930er bis in die 1960er Jahre beriet er dort maßgeblich in verfassungsgebenden Angelegenheiten und hatte damit Einfluss auf die konstitutionellen Entwicklungen der Region. Als einer der ersten untersuchte und publizierte er zum Rechtstransfer britischer Verfassungsideen und -institutionen innerhalb des damaligen British Empire. Jennings ging mit gutem Beispiel voran und beriet Staaten, oftmals kontrovers, in Richtung eines maßgeschneiderten Modells, das auf Westminster basierte, aber im Osten einen Anstrich von „Eastminster“ erhielt [3, 4].

Trotz seiner Pionierarbeit als Regierungsberater sind die Arbeiten von Jennings 50 Jahre nach seinem Tod in der Forschung weitgehend unbeachtet. Doch es gibt drei Gründe für Historiker, insbesondere Rechtshistoriker, die Werke Jennings erneut zu untersuchen. Erstens befördern die Arbeiten von Jennings das Verständnis der unbestimmten und oft umstrittenen Problematik der Verfassungskonventionen, die für das Westminster-System so relevant sind. Zweitens bieten seine Werke einen Katalog verfassungsrechtlicher Präzedenzfälle, die sich auch zur Bewertung aktueller Entwicklungen eignen. Schließlich birgt eine Untersuchung seiner Publikationen über Großbritannien hinaus faszinierende Einblicke in den Rechtstransfer innerhalb des British Empire und in weitere Entwicklungen, die für die rechtliche und politische Historie des Imperiums, des Commonwealth und seiner Nachfolger maßgebend sind. Nicht zuletzt deshalb ist für die Arbeiten zum Rechtstransfer am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte wegweisend, sich mit Jennings Werken zu befassen.

Ausblick

Das Projekt „Verfassungsgebung in Asien“ bezieht sich auf den historischen Zeitraum, in dem das „responsible government“ gebildet und in der Praxis umgesetzt wurde. Es vergleicht Länder, die bisher kaum miteinander verglichen wurden, und schafft damit ein Verständnis sowohl für die Unterschiede als auch die Gemeinsamkeiten von Staaten im unabhängigen Asien. Als Quelle dient nicht zuletzt unveröffentlichtes Material des Verfassungsmachers Jennings, dem in Südasien eine tragende Rolle in der Verfassungsgeschichte zukommt.

Trotz der seither vergangenen Zeit und der Vielzahl von Neuerungen seit der Unabhängigkeit der betreffenden Länder bleibt es schwierig, das Asien der Gegenwart ausgehend von den Ursprüngen der britischen Herrschaft zu verstehen. Die Forschungsergebnisse vermögen den wissenschaftlichen Hintergrund für eine Neubewertung der Exekutivgewalten in Asien zu bilden und sind zudem imstande, allgmeinere Lehren zu vermitteln, die aus vergangenen verfassungsgebenden Prozessen gezogen werden können. Damit lassen sich auch heutige Prozesse der Rechtsentwicklung – etwa in der Europäischen Union – besser verstehen.

Literaturhinweise

Sethi, H. (Hg.)

State of Democracy in South Asia. A Report by the CDSA Team
Oxford University Press, New Delhi (2008)

Colley, L.

Acts of Union and Disunion: What has held the UK together and what is dividing it?
Profile Books, London (2014)

Kumarasingham, H. (Hg.)

Constitution-Maker – Selected Writings of Sir Ivor Jennings
Cambridge University Press, Cambridge (2015)

Kumarasingham, H.

Sir Ivor Jennings‘ ‚The Conversion of History into Law‘
American Journal of Legal History 56, 113–127 (2016)
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